© Carmen Possnig + Cyprien Verseux ESA/IPEV/PNRA

Medizinische „Allrounderin“

„Astronautin zu werden war ein Kindheitstraum“

Dr. Carmen Possnig könnte als erste Österreicherin ins All fliegen. Die Allgemeinmedizinerin und Wissenschaftlerin an der Universität Innsbruck ist seit 2022 Ersatzastronautin der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA). Im Interview mit ALLGEMEINE+ erzählt die gebürtige Kärntnerin über Weltraumvisionen, Abenteuerlust und Wissensdurst.

© Cyprien Verseux

Dr. Carmen Possnig ist seit 2022 Ersatzastronautin der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA)

Dr. Carmen Possnig schloss 2014 ihr Studium an der Medizinischen Universität Graz ab. Ihren ersten wissenschaftlichen Kontakt zum Weltall knüpfte sie mit ihrer Diplomarbeit zum Thema „Effects of artificial gravity exposure on orthostatic tolerance times in men and women“, die sie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) verfasste. Zwischen 2017 und 2018 verbrachte sie 13 Monate in der Forschungsstation Concordia in der Antarktis, wo sie für die Durchführung biomedizinischer und psychosozialer Forschungsexperimente der ESA verantwortlich war und das medizinische Rettungsteam leitete. Seit 2020 arbeitet Possnig am Institut für Sportwissenschaft der Universität Innsbruck an ihrem PhD im Fachgebiet Weltraummedizin. Sie behauptete sich 2021/22 in einem Auswahlverfahren der ESA gegen rund 22500 Mitbewerberund ist seit November 2022 Reserveastronautin. Zudem erwarb Possnig Zertifikate in Notfallmedizin, einschließlich Bergrettung, Expeditions- und Wildnismedizin, und arbeitete ehrenamtlich bei psychologischen Hilfsdiensten.

<< Minus 80 Grad, vier Monate Dunkelheit und diese Isolation – in der Antarktis herrschen ähnliche Verhältnisse wie im Weltraum.>>
Dr. Carmen Possnig ,
Wollten Sie als Kind schon Astronautin und Ärztin werden?

C. Possnig: Astronautin zu werden war ein Kindheitstraum. Ich habe mit ungefähr acht Jahren zum ersten Mal diesen Wunsch entwickelt. Meine Schwester und ich haben damals ein Teleskop geschenkt bekommen, wir haben uns den Saturn mit seinen Ringen angeschaut und ich habe mir gedacht, wow, das muss toll sein, da möchte ich hin. Aber natürlich war das ein sehr unrealistischer Traum und ich habe nicht mein Leben danach geplant. Dennoch war schon immer wieder der Gedanke dabei. Vor dem Start des Medizinstudiums habe ich zum Beispiel auf der ESA-Homepage nachgesehen, ob es jemals einen Astronauten gegeben hat, der Arzt war. Tatsächlich gab es damals einen belgischen Astronauten, der auch Mediziner war. Also wusste ich:Wenn ich Medizin studiere, ist der Traum immer noch erfüllbar.

© Carmen Possnig ESA/IPEV/PNRA

01 2018 im ESA-Labor in der Antarktis nach der täglichen Blutabnahme

Warum haben Sie sich für ein Medizinstudium entschieden?

C. Possnig: Bei mir gibt es eine familiäre Vorbelastung, mein Vater ist Internist in Klagenfurt. Die Medizin vereint meine Leidenschaften aufs Beste, mit einer Mischung aus Wissenschaft und dem Kontakt mit Menschen. Mich fasziniert, wie der menschliche Körper funktioniert und wie man ihn heilen kann. Dennoch waren zuerst auch einige andere Studien in der engeren Auswahl, weil es einfach so viele Dinge gab, die mich interessierten.

Was brachte Sie dann zur Allgemeinmedizin?
© Cyprien Verseux IPEV/PNRA

02 Carmen Possnig mit dem ESA-Maskottchen Paxi

C. Possnig: Nach dem Medizinstudium in Graz hatte ich das Gefühl, ich hätte gerne eine breitere Ausbildung. Ich wollte mir einfach ganz viele Sachen anschauen, weil ich mir nicht hundertprozentig sicher war, wo ich mich am besten einbringen kann – oder was mich am meisten fasziniert. Ich habe den Turnus in Wien am damaligen Krankenhaus Floridsdorf sehr gerne gemacht. Ich mochte die familiäre Atmosphäre. Wir haben auch relativ schnell viel Verantwortung gehabt und vor allem sehr viel gelernt.

Auch später in der Klinik Hietzing und im Wilhelminenspital in Wien hat mich vieles nach einiger Zeit fasziniert, aber es gab nichts, von dem ich gesagt hätte, das möchte ich für den Rest meines Lebens machen. Nach und nach bin ich draufgekommen, dass es tatsächlich dieser Forschungsaspekt ist, der mir abgeht – ich habe ja für die Diplomarbeit schon Richtung Weltraumphysiologie geforscht. Damals hatte ich mir schon gedacht, Physiologie wäre super als Hauptfach, aber es stand zu dieser Zeit keine Stelle zur Verfügung. Am Ende meines Turnus habe ich dann diese Stellenausschreibung der ESA entdeckt, für die Antarktisstation Concordia. Da wusste ich:Das ist eigentlich genau das, worauf ich gewartet habe.

Welche Untersuchungen haben Sie in der Forschungsstation Concordia durchgeführt?

C. Possnig: Ich war 13 Monate dort und für vier verschiedene Experimente verantwortlich, die ich mit der Crew aus insgesamt 13 Leuten und an mir selbst durchgeführt habe. Alle hatten aber ihre eigenen Jobs dort – zum Beispiel Mechaniker, Koch, Glaziologin – und haben die Experimente freiwillig mitgemacht. Eines der Experimente hat sich darum gedreht, wie wir uns an diese extreme Höhe anpassen – Concordia liegt ja auf 3300 Metern Seehöhe. Und tatsächlich hat man in diesem Fall gesehen, dass wir uns nie komplett angepasst haben. Die Sauerstoffsättigung war meistens irgendwo umdie 80%. Im Fitnessstudio waren wir außer Atem, bevor die Muskeln ermüdet sind. Das ist ein wirklich seltsames Gefühl.

© Marco Buttu PNRA/IPEV

03 Das Team der Concordia-Station 2018

Zusätzlich ging es darum, wie sich das Immunsystem an diese Umgebung anpasst, die doch sehr steril ist. Draußen überlebt nichts, was den Menschen irgendwie gefährlich werden könnte, und drinnen sind es immer die gleichen 13 Leute – also irgendwann ist da für das Immunsystem einfach nichts mehr Neues dabei. Das ist ähnlich wie zum Beispiel in einem Raumschiff auf dem Weg zum Mars, da wird davor alles desinfiziert. In diesem Zusammenhang haben wir uns angeschaut, was mit den Immunzellen passiert, wenn sie so lange nicht stimuliert werden. Und was das mit dem Mikrobiom im Darm macht, wenn die Nahrung gefroren war und wieder aufgetaut wurde. Man konnte sehen, dass die Immunzellen in eine Art Winterschlaf gehen. Ich habe den Blutproben dann Bakterien hinzugemixt und einen richtigen Overshooting-Effekt beobachtet – also eine Überreaktion auf Erreger, die eigentlich keine so heftige Reaktion bewirken sollten. Diese Überreaktion haben wir auch bei uns selbst beobachtet, als nach fast 12 Monaten 20 Menschen dazugekommen sind, von denen einer eine leichte Erkältung hatte. Einen Tag später lag die halbe Crew mit hohem Fieber im Bett.

© ESA

04 Die Reserveastronaut:innen beim jährlichen Treffen 2023 im Europäischen Astronautenzentrum in Köln

Sie haben über Ihre Erfahrungen in der Antarktis das Buch „Südlich vom Ende der Welt“ geschrieben. Wie ist es dazu gekommen und wie ging Ihr Weg weiter?
© ESA

05 Teile der Spezialausrüstung

C. Possnig: Ich habe immer schon gerne geschrieben, als Hobby. In Concordia habe ich täglich Tagebuch geführt. Wenn etwas Lustiges passiert ist oder etwas Außergewöhnliches, habe ich das in Stichworten niedergeschrieben. Ich hatte in der Concordia tatsächlich zwei Kollegen, einen Franzosen und einen Italiener, die beide angekündigt haben, dass sie fix ein Buch darüber schreiben werden. Daher habe ich während meines Aufenthalts auch den Plan gefasst, das zu machen. Ichhabe das Manuskript an 25 Verlage geschickt, und schließlich wurde esveröffentlicht. Anschließend habe ich mich auf die Suche nach einem Platz für das PhD-Studium zu Weltraumphysiologie gemacht, weil ich gesehen habe, dass mir diese Forschung, das Recherchieren und das Selberschreiben viel Spaß machen. Auf einer Konferenz habe ich Univ.-Prof. Justin Lawley vom Institut für Sportwissenschaft in Innsbruck kennengelernt und ihm von meinen Plänen erzählt. Zwei Tage später hat er mir geschrieben und mir einen Platz angeboten.

Welches Thema untersuchen Sie in Ihrer PhD-Arbeit?

C. Possnig: Bei den Forschungsprojekten am Institut geht es vorwiegend um Menschen in Extremsituationen. Ein Kollege untersucht Menschen in großen Höhen, zwei andere forschen zu Kälte und Hitze, einer beschäftigt sich mit den Auswirkungen beim Klettern. Ich analysiere die Veränderungen im Herz-Kreislauf-System und bei der Durchblutung des Gehirns durch Schwerelosigkeit.

© Carmen Possnig

06 Im Institut für Sportwissenschaften an der Universität Innsbruck:Untersuchung des Gehirnblutflusses eines Probanden mit Ultraschall

Wie haben sich die weitere Zusammenarbeit mit der ESA und Ihre Bewerbung als Astronautin ergeben?

C. Possnig: Der Kontakt mit der ESA hat sich durch den Aufenthalt in der Antarktis verfestigt. Minus 80 Grad, vier Monate Dunkelheit und diese Isolation – ähnliche Verhältnisse wie als Astronaut:in im Weltraum. Man kommt nicht weg, selbst wenn man wollte. Mir hat das Spaß gemacht. Zwei Kolleg:innen in der Concordia haben außerdem damit gerechnet, dass es bald ein Auswahlverfahren bei der ESA für Astronaut:innen geben wird, und sie wollten sich dafür bewerben. Das letzte hatte 2008 stattgefunden und 2021 war es dann wirklich soweit. Die Grundvoraussetzungen für eine Bewerbung waren ein Masterstudium-Abschluss in einem möglichst naturwissenschaftlichen Fach, ein paar Jahre Arbeitserfahrung und gute Englischkenntnisse. Also relativ breit gefächert, weil die ESA ein Team sucht, das sehr viele verschiedene Spezialisierungen und Fähigkeiten zusammenbringt.

Wie haben Sie sich auf das Auswahlverfahren vorbereitet?Wie kann man sich das Recruiting vorstellen?

C. Possnig: Der Prozess ging dann über eineinhalb Jahre, weil sich 22500 Leute beworben hatten. Das Verfahren umfasste 6 Stufen. Am Anfang ging es um kognitive Tests am Computer, also logisches Denken, Mustererkennung, Gedächtnisleistung. Danach waren wir imEuropäischen Astronautenzentrum eingeladen. Wir absolvierten Gespräche mit Psycholog:innen und einem bereits erfahrenen Astronauten, der auslotete, ob er mit uns ins All fliegen würde. Dann mussten wir Teamaufgaben lösen, meistens unter Zeitdruck.

Da wurde beobachtet, wie wir mit Stress umgehen, was wir tun, wenn es für die Aufgabe, die wir bekommen haben, einfach keine Lösung gibt. Werden wir plötzlich egoistisch oder probieren wir doch trotzdem, irgendwie alle gut durch die Aufgabe zu bringen? Dafür war sicher meine Erfahrung aus der Antarktis sehr wertvoll. Zusätzlich gab es natürlich medizinische Untersuchungen.

© Arnaud Prost

07 2024 im NASA Kennedy Space Center in Florida: „pensioniertes“ Spaceshuttle Atlantis

Wie liefen diese Untersuchungen ab, worauf wurde besonders geachtet?

C. Possnig: Die letzten 100 Kandidat:innen sind eine ganze Woche lang durchuntersucht worden. Alles, was man sich irgendwie vorstellen kann, um sicherzustellen, dass man wirklich gesund ist, weil so ein Aufenthalt in der Schwerelosigkeit doch sehr anstrengend für den Körper ist. Da waren dann auch Fitnesstests dabei und Untersuchungen dahingehend, ob ein Risiko für eine weltraumtypische Erkrankung besteht. Ein Tag war zum Beispiel nur den Augen gewidmet. Der Hintergrund dazu ist, dass man bei Astronauten festgestellt hat, dass sie im All mit der Zeit weitsichtig werden. Man weiß noch nicht genau, warum das passiert. Aber es sind viele kleine Veränderungen in der Anatomie des Auges dafür verantwortlich: Der Augapfel flacht zum Beispiel ab, der Sehnerv schwillt an. Daher wollte man durch die Tests sicherstellen, dass unser Augapfel nicht jetzt schon irgendwie verformt ist oder dass der Augenhintergrund einem gewissen Durchschnittswert entspricht. Einige Kampfpiloten, die jedes halbe Jahr extreme Gesundheitsuntersuchungen absolvieren, haben dann diesen Schritt nicht geschafft. Die letzten zwei Abschnitte umfassten dann Jobinterviews mit Leuten von der ESA. Nach dem letzten Schritt dauerte es ungefähr noch einen Monat, dann kam ein Anruf von Josef Aschbacher, dem Direktor der ESA, einem Österreicher, und er teilte mir mit, dass ich als Reserveastronautin auserwählt wurde.

Muss man als Astronaut:in besonders sportlich sein?

C. Possnig: Also man muss auf keinen Fall ein Athlet sein. Das ist sogar eher ein Nachteil, weil das im All wieder zu Veränderungen führen kann, die man nicht haben möchte. Aber man sollte schon fit sein und man sollte vor allem Spaß an Sport haben, weil man bei einer Mission ungefähr zwei Stunden täglich trainieren muss – eine Stunde auf dem Laufband oder auf dem Fahrrad und eine Stunde Krafttraining, einfach um die Gesundheit zu erhalten.

Welche konkreten Aufgaben haben Sie als Reserveastronautin?

C. Possnig: Bei dem Auswahlverfahren hat sich die ESA für fünf Karriereastronaut:innen und elf Reserveastronaut:innen entschieden. Wir Reserveastronaut:innen bleiben in unseren ursprünglichen Jobs, bis sich eine Mission für uns ergibt. Im Moment kommen sehr viele zusätzliche Kurzzeitmissionen zu den üblichen Langzeitmissionen hinzu, für die man spezifisch neun bis zehn Monate trainiert. Sollte eine zusätzliche Mission geplant sein, könnte ich dafür nominiert werden. Mein schwedischer Kollege Markus Wandwar bereits vergangenen Jänner für drei Wochen auf der ISS– das istwirklich schnell gegangen. Ich bin ziemlich optimistisch. Eine Mission wäre auch ein großer Benefit für das Land Österreich, weil es dann am Wissenschafts- und Technologieprogramm beteiligt ist. Bis es soweit ist, absolvieren wir Reserveastronaut:innen hauptsächlich repräsentative Aufgaben und vertreten die ESA zum Beispiel bei Events. Mehrere Male pro Jahr bekommen wir Briefings mit Input über die europäische Raumfahrt.

2022 waren Sie als Forschungsärztin in der Space Clinic bei MEDES in Toulouse. Woran haben Sie dort gearbeitet?

C. Possnig: Damals wurde dort eine sogenannte Trockenimmersionsstudie durchgeführt. Dabei liegen die Proband:innen für fünf Tage in einer Badewanne – allerdings ohne direkten Kontakt zum Wasser. Sie liegen auf einer Art Plane, die auf dem Wasser liegt, und sind auch zugedeckt mit einer mit Wasser gefüllten Decke. Die Theorie ist, dass das ein Gefühl des Schwebens und physiologische Veränderungen hervorruft, die jenen sehr ähnlich sind, die Astronaut:innen im Weltall durchmachen.Ich habe dort als Ärztin mitgeholfen, dass alles gut läuft und es den Probanden gut geht.

Können Sie uns verraten, was sich derzeit in der Raumfahrt tut? Welche aktuellen Forschungsprojekte sind für Sie persönlich besonders interessant?

C. Possnig: Kommendes Jahr sollen weitere Projekte des Artemis-Programms der NASA folgen, bei dem eine bemannte Mission rund um den Mond geplant ist. Bei der darauffolgenden Mission sollen auch wieder Menschen auf dem Mond landen. Ich gehe davon aus, dass auch Europäer:innen beteiligt sein werden. In der Internationalen Raumstation ISS, die ja ein großes Labor ist, gibt es zwei Arten von Forschungen. Einerseits wird an den Astronaut:innen selbst geforscht. Da geht es z.B. darum, wie wir in extremen Situationen, eventuell einmal auf dem Mond, überleben können, oder wie wir zum Mars kommen und dabei fit bleiben. Der Großteil der Experimente dort ist aber Wissenschaft, die der Erde zugutekommt. Es werden u.a. verschiedene Krankheiten untersucht, Medikamente getestet und Proteine analysiert, da sich Proteinkristalle in der Schwerelosigkeit riesig ausbilden. Daneben wird viel zu erneuerbaren Materialien und Kreislaufwirtschaft geforscht, da man dort oben alles recyceln muss, wie zum Beispiel das verbrauchte Wasser. Das Prinzip des Wasser-Recyclings kommt zum Beispiel in einigen Regionen der Sahara zum Einsatz. Zudem werden neue, möglichst CO2-arme Betongemische entwickelt. Dank der Schwerelosigkeit sind Experimente möglich, die auf der Erde nicht durchführbar sind und die der gesamten Menschheit nützen. Durch die Weltraumforschung kommen wir auch an den Großteil der Daten zum Klimawandel. Ich halte diese neuen Entwicklungen und Perspektiven für sehr wichtig. Wir gehen mit einem tieferen Sinn ins All.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte:
Mag. Andrea Fallent

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