Vom Fertilitätserhalt bis zur multimodalen Behandlung von Beckenschmerzen
Bericht:
Dr. Anita Schreiberhuber
Die Themen des Kongresses umfassten auch dieses Jahr wieder eine große Spannbreite betreffend Sexualität, Reproduktion, sexuell übertragbare Krankheiten und Schmerzen. Dabei wurde ein großes Augenmerk auf die Interdisziplinarität gelegt, wobei auch psychische Komponenten miteinbezogen wurden.
Fertilitätserhalt vor Krebstherapie
Priv.-Doz. Dr. Bettina Böttcher, Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, MedUni Innsbruck, referierte über die Möglichkeiten, die ovarielle Reserve vor einer potenziell gonadotoxischen Therapie wie Chemo- oder Strahlentherapie (CTx, RTx) aufgrund von malignen (z.B. Mammakarzinom, hämatologische Erkrankungen) oder benignen (z.B. Endometriose, Lupus erythematodes) Erkrankungen zu konservieren. Sie hob hervor, dass Österreich nach wie vor zu einem der wenigen Ländern zählt, in denen das sog. „social freezing“, also das Einfrieren von Eizellen aus persönlichen Gründen zwecks möglichen Schwangerschaftswunsches zu einem späteren Zeitpunkt, ohne entsprechende Indikation nicht erlaubt ist.
Therapeutische Optionen zum Fertilitätserhalt
Als Optionen für den Fertilitätserhalt bieten sich die ovarielle Stimulation von Eizellen mit Kryokonservierung von Oozyten bzw. Embryonen, Kryokonservierung von Ovargewebe, die Gabe von GnRH-Analoga (die als alleinige Methode nicht ausreichend ist) sowie vor einer RTx die Transposition der Ovarien an die Beckenwand (Ovariopexie). Welche Methode infrage kommt, hängt auch davon ab, wie dringlich eine Therapieinitiierung erachtet wird. „Bei Hodgkin-Lymphomen muss die CTx in den meisten Fällen rasch initiiert werden, sodass die ca. 14-tägige ovarielle Stimulation mit anschließender Kryokonservierung zeitlich nicht realisierbar ist“, erklärte Böttcher. Im Gegensatz dazu lässt sich eine Laparoskopie zur Gewinnung von Ovargewebe zwecks Kryokonservierung sofort durchführen und dauert nur 15–20 Minuten.
Die durchschnittliche Anzahl an gewonnenen Oozyten ist vom Lebensalter der Patientin abhängig. Für eine vertretbare Erfolgschance auf eine Lebendgeburt sind mindestens acht bis zehn Eizellen erforderlich, wobei der Erfolg wiederum vom Lebensalter der Frau (Cut-off: ≤ vs. >35 Jahre) abhängig ist (Abb. 1).1 „In den neuen Leitlinien wird empfohlen, dass nur mehr unbefruchtete Eizellen kryokonserviert werden sollen, da bei befruchteten aus juristischen Gründen der Partner auch nach fünf oder sechs Jahren noch mit der Implementierung einverstanden sein müsste“, merkte Böttcher dazu an.
Abb. 1: Erfolgschance für erfolgreiche Lebendgeburt in Abhängigkeit vom Lebensalter der Frau (modifiziert nach Dolmans MM et al.)2
Für die Kryokonservierung von Ovargewebe mit anschließender Retransplantation liegen nur bescheidene Ergebnisse vor: Seit der ersten Lebendgeburt im Jahr 2004 wurden bis 2020 erst rund 200 Lebendgeburten verzeichnet.2 Das bedeutet, dass noch viel geforscht werden muss, um dieses Verfahren zu optimieren. Gemäß den vorliegenden Daten ist das Rezidivrisiko nach Reimplantation von ovariellem Gewebe äußerst gering.3 „Die Patientin muss jedoch über das Risiko für eine ovarielle Metastasierung aufgeklärt werden, da sich potenziell maligne Zellen im Eierstockgewebe befinden können“, merkte Böttcher dazu an.
Evaluierung der Indikation
In den bestehenden Leitlinien zum Fertilitätserhalt der AWMF,4 die derzeit überarbeitet werden, wird die Aufklärung über die mit gonadotoxischen Substanzen assoziierten Risiken bereits empfohlen.
Böttcher nannte die folgenden Faktoren, die bei der Evaluierung, ob eine Patientin für fertilitätserhaltende Maßnahmen infrage kommt, miteinbezogen werden müssen: Alter ≤40 Jahren, Fünfjahresüberlebensrate ≥50%, Vereinbarkeit einer späteren Schwangerschaft mit der Grunderkrankung, Risiko für eine therapieinduzierte Sterilität ≥30–50% und Durchführbarkeit einer fertilitätsprotektiven Therapie ohne relevantes Risiko für die Patientin. Wird eine klare Indikation gestellt, soll der Patientin die Möglichkeit zu einem entsprechenden Informations- und Beratungsgespräch gegeben werden. Bedauerlich ist, dass laut Böttcher die tatsächliche Beratungsquote bei nur 12% liegt – das Thema ist auch auf onkologischen Kongressen und auf Social-Media-Kanälen noch komplett unterrepräsentiert.
FertiPROTEKT5 ist ein Netzwerk für fertilitätserhaltende Maßnahmen. Dabei haben sich Zentren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zusammengeschlossen, um für Patient:innen eine Anlaufstelle für Fertilitätssprotektion zu bieten. Die Kosten sind je nach Prozedere unterschiedlich hoch, müssen aber zum Großteil von den Patientinnen selbst getragen werden. Ausnahme bildet eine In-vitro-Fertilisation (IVF), für die in Österreich – allerdings nur bei bestehender Partnerschaft – eine 70%ige Kostenübernahme für vier Versuche durch die IVF-Fonds erfolgt. Separate Kosten im Ausmaß von ≥300 Euro fallen zusätzlich noch für die Lagerung bzw. für die Aufarbeitung von Ovargewebe für die Retransplantation an. „Gerade junge Frauen, die Eizellen einfrieren lassen möchten und die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nicht erfüllen, benötigen dafür ≥3000 Euro. Dieser Betrag ist aber für Patientinnen, die mitten in ihrer Berufsausbildung stehen, unbezahlbar. Dies ist nicht selten der Grund, dass die Option nicht in Anspruch genommen wird“, unterstrich Böttcher am Ende ihres Vortrags den „medical need“, der auf diesem Gebiet so offensichtlich ist.
HIV-Management
Mit der Etablierung der antiretroviralen HIV-Therapie und dem Erreichen einer Viruslast, die unter der Nachweisgrenze liegt, hat sich HIV von einer Epidemie zu einer chronischen Erkrankung entwickelt. Inzwischen haben HIV-Infizierte eine mit der gesunden Bevölkerung vergleichbare Lebenserwartung mit gleichzeitig multiplen Komorbiditäten und daraus resultierender Polypharmazie. Neue Modelle sind erforderlich, um die Zahl an HIV-Infektionen noch weiter zu reduzieren.6 Mit medikamentösen Maßnahmen in Form der PEP (Postexpositionsprophylaxe) und PrEP (Präexpositionsprophylaxe) konnten die Neuinfektionen um 25,1% reduziert werden.7 Trotzdem muss konstatiert werden, dass wir noch immer nicht an dem Punkt angelangt sind, um HIV zu beenden.
„Pelvic pain“ erfordert multimodales Management
„Moderne Schmerzmedizin ist multimodal“, so das Credo von Univ.-Prof. Dr. Richard Crevenna, Leiter Univ.-Klinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin, MedUni Wien, der über chronische Beckenschmerzen referierte. „Muskuläre Probleme sind nur selten auf den Beckenboden beschränkt. Meist sind auch Wirbelsäule, die Nacken-Schulter-Region und evtl. die Kaumuskulatur betroffen – diese Regionen sollen mitbehandelt werden“, betonte Crevenna. Neben Medikamenten zur Schmerzstabilisierung stellen Bewegungs- und trainingstherapeutische Ansätze (Kraft, Ausdauer, Mobility, Flexibility) einen wesentlichen Pfeiler im Management von Beckenschmerzen dar. Besondere Aufmerksamkeit widmete Crevenna den komplementär-integrativen Therapien. Dazu zählen Methoden wie Akupunktur, Manual- oder Neuraltherapie. „Diese Verfahren können eine systemisch-regulative Wirkung entfalten. Sogar die ASCO (American Society of Clinical Oncology) gibt eigens entwickelte Leitlinien-Empfehlungen8 für die Anwendung von Akupunktur bei Schmerzen“, unterstrich er den Stellenwert der komplementär-integrativen Therapie, der ihr auch in Österreich beigemessen werden sollte.
Vulvodynie
Als Vulvodynie als Problem einer dysfunktionalen Beckenbodenmuskulatur bezeichnet man das Auftreten von Schmerzen im Bereich der kleinen Vulvalippen, des Scheideneingangs, der Harnröhre und Blase. Diese können bereits bei kleinsten Berührungen auftreten und führen häufig zu einer Einschränkung des Sexuallebens mit Beschwerden von Dyspareunie bis zum sekundären Vaginismus. Der Begriff ist seit 2022 in der ICD-11-Klassifikation9 unter GA-34,0 codiert angeführt.
„Durch leichte Berührung reagiert das Centrum tendineum perinei, an dem die Faszien aller Beckenmuskeln zusammenlaufen. Es ist wichtig, dies den Patientinnen anhand von Bildern zu zeigen, denn solche ‚Somatisierungspatientinnen‘, die häufig jahrelang keine adäquate Diagnose erhalten, benötigen eine Erklärung!“, betonte Dr. Dietmar Richter, Gynäkologe und Sexualtherapeut, Freiburg, der die Vulvodynie als multifaktorielle, psychosomatisch bedingte Erkrankung beschrieb. Dass es sich um ein psychosomatisches Krankheitsbild handelt, wurde auch in zwei großen epidemiologischen Studien gezeigt.10, 11
Dementsprechend sind die therapeutischen Ansätze auch bei Vulvodynie multimodal.
Quelle:
10. Kongress der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Sexualmedizin und der sexuellen Gesundheit, 15.–16. November 2024, Wien
Literatur:
1 Donnez J, Dolmans MM: N Engl J Med 2017; 377: 1657-65 2 Dolmans MM et al.: Fertil Steril 2020; 114: 279-80 3 Dolmans MM et al.: Fertil Steril 2021; 115: 1102-15 4 AWMF-Leitlinien zum Fertilitätserhalt bei onkologischen Erkrankungen, Version 1.0: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015-082 (derzeit in Überarbeitung 5 https://fertiprotekt.com/ 6 Chu C, Selwyn PA: J Urban Health 2011; 88: 556-66 7 Grulich AE et al.: Lancet 2018; 5: e629-378 Mao JJ et al.: J Clin Oncol 2022; 40: 3998-4024 9 https://icd.who.int/en 10 Kandker M et al.: J Womens Health 2014; 23: 649-56 11 Barlow LH, Steward EG: Am J Epidemiol 2005; 161: 871-80
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