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Welche Schwangere soll den Anästhesisten/die Anästhesistin sehen?

Die meisten Schwangeren informieren sich intensiv über die schmerzlindernden Verfahren unter der Geburt und haben gewisse Ängste vor der Peridural- und Spinalanästhesie. Besonders Schwangere mit Vorerkrankungen sind besorgt, ob sie überhaupt eine PDA oder Spinalanästhesie erhalten können. Um die nötigen Vorabklärungen in die Wege zu leiten und die Schwangeren zu beraten, ist eine frühe Vorstellung in der Anästhesiesprechstunde ratsam.

Empfehlungen zur frühzeitigen Vorstellung beim Anästhesisten/bei der Anästhesistin

Jede Schwangere, welche das Bedürfnis nach einem persönlichen Gespräch mit dem Anästhesisten oder der Anästhesistin hat, sollte frühzeitig in der Anästhesiesprechstunde aufgeklärt und beraten werden. Besonders wichtig ist es aber bei Schwangeren, die Vorerkrankungen haben, sowie Schwangeren, die schon Probleme bei Narkosen oder bei der Anlage von PDA- oder Spinalanästhesien hatten.

Eine interdisziplinär erstellte Empfehlung betreffend Vorerkrankungen bei Schwangeren, die zu einer frühzeitigen Vorstellung in der Anästhesiesprechstunde führen sollten, ist auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe publiziert.1,2

Eine erweiterte Empfehlung mit wichtigen Hinweisen zu den zusätzlich benötigten Befunden und Konsilien wird in Tabelle 1 dargestellt.

Tab. 1: Mit bestimmten Vorerkrankungen ist es für Schwangere sinnvoll, früh in die Anästhesiesprechstunde zu kommen (modifiziert nach SGGG und Girad T et al.)1, 2

Im weiteren Artikel möchten wir Ihnen einzelne Erkrankungen und deren Implikationen für das anästhesiologische Management peripartal als Beispiele vorstellen.

Patientinnen mit neurochirurgischen und neurologischen Vorerkrankungen

Schwangere mit Skoliose oder mit St.n. Spondylodese haben oft Angst vor einer Peridural(PDA)- oder Spinalanästhesie. Die Literatur zeigt jedoch, dass die Anlage dieser Regionalverfahren zwar länger dauert, jedoch nur in ca. 6% eine ungenügende Wirkung zu beobachten ist. Komplikationen wurden keine beschrieben.3,4 Diese Patientinnen sollten mit der vorhandenen Bildgebung frühzeitig in die Anästhesiesprechstunde zur Beratung und Planung der eventuell benötigten PDA-Anlage überwiesen werden.

Die Spina bifida occulta ist ein nicht so seltener Zufallsbefund bei der Abklärung von Rückenschmerzen im lumbalen Bereich. Meist ist nur ein gespaltener Wirbelbogen vorhanden, viel seltener aber auch epidurale Lipome oder sogar mit der Dura verwachsene Nervenwurzeln («tethered cord»). Zusätzliche Merkmale dieser ausgeprägten Form sind häufig äusserliche Pigmentveränderungen der Haut oder Haarbüschel. Bei dieser seltenen Variante muss die Bildgebung zusammen mit dem Neurochirurgen beurteilt werden: Bei «tethered cord» kann keine PDA oder Spinalanästhesie angewendet werden. Eine Alternative besteht in einer Remifentanil-PCA («patient-controlled analgesia») zur Spontangeburt.4,5

Intrapartal weisen Schwangere mit Multipler Sklerose weniger Schübe auf als das Vergleichskollektiv. In den ersten 3 Monaten postpartal besteht hingegen ein um 50% erhöhtes Risiko, einen Schub zu erleiden. In der älteren Literatur wurde der Spinalanästhesie eine Toxizität auf die Nervenwurzeln nachgesagt, welche Schübe bei diesen Patientinnen auslöse. Diverse gross angelegte Studien ab dem Jahr 2000 konnten jedoch diese Behauptung widerlegen. So können heute Schwangere mit Multipler Sklerose bedenkenlos sowohl eine PDA wie auch eine Spinalanästhesie erhalten.6

Patientinnen mit hämatologischen Vorerkrankungen

Schwangere mit bekannten Gerinnungsstörungen bedürfen einer interdisziplinären Beurteilung und eines Follow-ups durch den Hämatologen oder die Hämatologin während der gesamten Schwangerschaft. Wie in Tabelle 2 ersichtlich, korrigieren sich viele Gerinnungsstörungen in der Schwangerschaft und sind am Termin kaum mehr relevant.7,8 Ein wichtiger Gerinnungsfaktor im Falle einer postpartalen Hämorrhagie (PPH) ist jedoch Faktor XIII. Dieser ist am Termin physiologischerweise kritisch niedrig und es muss frühzeitig an eine Substitution im Rahmen einer schweren PPH gedacht werden.

Tab. 2: Gerinnungsfaktoren während der Schwangerschaft (modifiziert nach Rath W und Heilmann L sowie Katz D und Beilin Y)7, 8

Die häufigste Gerinnungsstörung (1% der Bevölkerung) ist das Von-Willebrand-Faktor-Syndrom Typ 1, bei welchem eine zu niedrige Produktion des Von-Willebrand-Faktors (vWF) in den Endothelzellen besteht. Dieser Gerinnungsfaktor hat die Aufgabe, die Thrombozytenadhäsion zu verstärken und den Faktor VIII vor dem Abbau zu schützen – bei Faktormangel besteht eine verlängerte Blutungszeit. Zum Glück korrigiert sich das Von-Willebrand-Syndrom Typ 1 in den meisten Fällen bis zur Geburt durch eine deutliche Steigerung der Faktorproduktion. Regelmässige Termine beim Hämatologen/bei der Hämatologin und die entsprechende Planung der Regionalverfahren in der Anästhesiesprechstunde werden in die Wege geleitet. Bei fehlendem Anstieg und Verbleiben eines Wertes <50IU/dl wird von den Hämatolog:innen eine Substitution von vWF und Faktor VIII sowohl vor PDA-Anlage wie auch vor Spontangeburt empfohlen. Postpartal kann Desmopressin gegeben werden, das jedoch eine Wasserretention und die Gefahr einer Hyponatriämie mit sich bringt.7,8

Thrombozytopenien kommen in der Schwangerschaft gehäuft vor: Schwangerschaftsassoziierte Thrombozytopenie 5–10%, im Rahmen einer Präeklampsie ca. 5% und Immunthrombozytopenie (ITP) bei ca. 1% der Schwangeren. Lange Zeit galten unterschiedliche Thrombozytengrenzwerte für jedes Krankheitsbild, bei welchen eine PDA oder Spinalanästhesie noch durchgeführt werden durfte. Viele Studien zeigten jedoch im Verlauf ein extrem kleines Risiko für epidurale Hämatome bei Schwangeren mit Thrombozytopenie auf. So vereinheitlichte ein 2021 publiziertes interdisziplinäres Consensus Statement diese Grenzwerte: Bei >70000 Thrombozyten/μl ist eine PDA bei Schwangeren möglich, darunter kann eine Spinalanästhesie bis zum Grenzwert von 50000 Thrombozyten/μl durchgeführt werden.9 Auch hier ist eine frühzeitige Aufklärung der Schwangeren ratsam.

Patientinnen mit kardialen Vorerkrankungen

Schwangere mit kardialen Vorerkrankungen sollten einem Kardiologen vorgestellt werden. Die Schwangerschaft bringt in jedem Zeitabschnitt unterschiedliche einschneidende Stressoren für das Herz-Kreislauf-System mit sich (Tab. 3). Guidelines bezüglich der Massnahmen während der Schwangerschaft sowie peripartal werden von der European Society of Cardiology (ESC) herausgegeben und regelmässig überarbeitet.10,11

Tab. 3: Eine Schwangerschaft hat Auswirkungen auf die Hämodynamik (modifiziert nach Regitz-Zagrosek V et al.)10

Die postrheumatische Mitralklappenstenose ist durch die Zuwanderung bei Schwangeren beispielsweise heute vermehrt zu sehen. Diese Pathologie ist häufig kombiniert mit einer pulmonalarteriellen Hypertonie. Die Kombination dieser Krankheitsbilder stellt eines der höchsten Risiken peripartal dar: Das in der Schwangerschaft zunehmende Blutvolumen sowie die Tachykardie führen zu einer kardialen Dekompensation mit Lungenödem. Engmaschige kardiologische Kontrollen sowie eine interdisziplinäre Besprechung sind nötig. Eine Sectio caesarea in langsam eintitrierter kombinierter Spinal-Epidural-Anästhesie am Zentrumsspital wird empfohlen.

Patientinnen mit höhergradiger Adipositas

Schwangere mit höhergradiger Adipositas weisen neben Komorbiditäten wie Diabetes und Hypertonie auch unter der Spontangeburt einen vermehrten Bedarf an medizinischer Hilfe auf. So benötigen sie häufiger eine Geburtseinleitung, aber auch öfter eine sekundäre Sectio caesarea.12 Diese Patientinnen profitieren stark von einer frühzeitigen Anlage einer PDA, da die Anlage bei höhergradiger Adipositas meist etwas länger dauert und frühzeitig in einem ruhigeren Setting durchgeführt werden kann. Der Einsatz des Ultraschalls hat die Anlage von PDA und Spinalanästhesien bei diesem Patientenkollektiv deutlich beschleunigt. Eine frühzeitige Aufklärung dieser Schwangeren in der Anästhesiesprechstunde ist ratsam.12

In der Anästhesiesprechstunde können insbesondere Schwangere mit Vorerkrankungen – wie in den Beispielen oben beschrieben – frühzeitig interdisziplinär besprochen, aufgeklärt und beraten werden. Jede Schwangere, welche ein Gespräch mit dem Anästhesisten/der Anästhesistin wünscht, ist jedoch in der Anästhesiesprechstunde herzlich willkommen, da das Gespräch Ängste abbauen kann und den Verlauf einer späteren PDA oder Spinalanlage deutlich verbessert.

1 Gynécologie suisse (SGGG): Neonatale Erstversorgung – interdisziplinäre Empfehlungen 2022. SGGG 2022; verfügbar unter https://www.sggg.ch (zuletzt aufgerufen am 19.9.2024) 2 Girard T et al.: Neonatale Erstversorgung – interdisziplinäre Empfehlungen. Swiss Med Wkly 2016; 16(44): 938-42 3 Nandoliya KR et al.: Adolescent idiopathic scoliosis and pregnancy. Cureus 2023; 15(10): e46782 4 Yakhup A et al.: Anesthesia outcomes of pregnant women with spinal diseases: a single-center case-series study. JA Clin Rep 2023; 9(1): 56 5 Ali L, Stocks GM: Spina bifida, tethered cord and regional anaesthesia. Anaesthesia 2005; 60(11): 1149-50 6 Metodiev Y, Bravemann F: Anaesthesia and neurological disorders in pregnancy. BJA Educ 2021; 21(6): 210-7 7 Rath W, Heilmann L: Therapie von Gerinnungsstörungen in der Schwangerschaft. Gynäkologe 2005; 38: 791-8 8 Katz D, Beilin Y: Disorders of coagulation in pregnancy. Br J Anaesth 2015; 115(Suppl 2): ii75-88 9 Bauer ME et al.: The Society for Obstetric Anesthesia and Perinatology Interdisciplinary Consensus Statement on neuraxial procedures in obstetric patients with thrombocytopenia. Anesth Analg 2021; 132(6): 1531-44 10 Regitz-Zagrosek V et al.: 2018 ESC guidelines for the management of cardiovascular diseases during pregnancy. Eur Heart J 2018; 39(34): 3165-241 11 Brück S et al.: Relevant aspects of the ESC guidelines for the management of cardiovascular diseases during pregnancy for obstetric anaesthesia (update 2018). Anaesthesist 2019; 68(7): 461-75 12 Taylor CR et al.: Obesity and obstetric anesthesia: current insights. Local Reg Anesth 2019; 12: 111-24

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