Suizidpostvention in psychosozialen und medizinischen Einrichtungen
Autor:innen:
Prim. Dr. Martin Baumgartner1
Dr. phil. Regina Seibl2
1 Psychosozialer Dienst Baden, PSZ gGmbH
2 Postventionsbeauftragte der pro mente tirol gemGmbH
E-Mail: m.baumgartner@psz.co.at
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Die Konfrontation mit Krisen und Suizidalität gehört zur Arbeitsrealität vieler Helfer:innen in psychosozialen/psychotherapeutischen/psychiatrischen Tätigkeitsfeldern. Suizidversuche und vollendete Suizide von betreuten Personen hingegen sind krisenhafte Ereignisse, die in der Regel sehr einschneidende und massive Auswirkungen auf therapeutisch oder beratend Tätige haben. Sowohl das persönliche Wohlbefinden als auch das professionelle Selbstverständnis, die Arbeitsfähigkeit und die kollegialen Beziehungen Betroffener können dadurch schwer in Mitleidenschaft gezogen werden.
Keypoints
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Suizidpostvention bezeichnet alle notwendigen Maßnahmen für die durch eine Suizidhandlung Betroffenen nach einem Suizid.
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Patientensuizide stellen eine sehr hohe Belastung für Angehörige, Mitpatient:innen und professionelle Helfer:innen dar.
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Aufgabe von Suizidpostvention ist es, die psychologischen Folgen von Suiziden für Personen im Umfeld zu mildern, weitere Suizide zu verhindern und Trauerprozesse zu ermöglichen.
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Postvention sollte ein fester Bestandteil in der Aus- und Weiterbildung aller professioneller Helfer:innen sein, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten.
Im Herbst 2012 wurde vom Bundesministerium für Gesundheit das österreichische Suizidpräventionsprogramm SUPRA präsentiert. Das nationale Präventionsprogramm ist die Basis für die Entwicklung einer nationalen Suizidpräventionsstrategie mit dem Ziel, eine nachhaltige und qualitativ hochwertige Suizidprävention in Österreich sicherzustellen. Im Jahr 2020 wurde im Rahmen von SUPRA die Arbeitsgruppe Suizidpostvention ins Leben gerufen, um Maßnahmen und Empfehlungen für Suizidpostvention in Österreich zu etablieren. Als erstes Ergebnis der AG Postvention wurden im September 2021 konkrete Empfehlungen für Suizidpostvention für psychosoziale und medizinische Einrichtungen veröffentlicht.
Von Suizid betroffene Helfer:innen erleben häufig ähnliche Trauerreaktionen wie Angehörige: Schock, Erschütterung, Schuldgefühle, Ängste und Ohnmacht. Darüber hinaus leiden manche sogar an posttraumatischen Symptomen. Für Teams stellt der Patient:innensuizid in der Regel eine ernst zu nehmende Krise dar, nicht zuletzt deshalb, weil daraus resultierende Schuldzuweisungen und Spaltungstendenzen das Teamgefüge bedrohen können.
Ein Patient:innensuizid ist der „worst case“, den zu verhindern professionelle Helfer:innen im Allgemeinen als ihre Aufgabe betrachten. Für alle, die mit psychisch erkrankten Menschen arbeiten, ist er aber leider keine Seltenheit. Etwas mehr als 50% aller Psychiater:innen und ca. 30% aller Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen und Sozialarbeiter:innen erleben im Laufe ihrer Karriere mindestens einen Patient:innensuizid.
Somit kann hier sicher von einem „Berufsrisiko“ gesprochen werden. Dennoch unterliegt diese Thematik einer gewissen Tabuisierung und es fällt Betroffenen mitunter schwer, sich selbst als hilfsbedürftig wahrzunehmen. Wenn dann die Unterstützung aus dem Arbeitsumfeld fehlt, hat das teils dramatische Folgen: die Unfähigkeit, adäquat mit suizidalen Klient:innen/Patient:innen umzugehen oder die Arbeit mit ihnen gänzlich zu vermeiden. Manche Betroffene verlassen sogar das Berufsfeld.
Wenn Helfer:innen jedoch gezielte und ausreichende Unterstützung aus ihrem Arbeitsumfeld erhalten, fällt es ihnen deutlich leichter, die Folgen suizidaler Handlungen von Klient:innen/Patient:innen konstruktiv zu verarbeiten, sich zu stabilisieren und ihren beruflichen Aufgaben wieder verantwortungsvoll und professionell nachzukommen. Zudem kommt es zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Kompetenzen im Umgang mit Suizidalität. Hier zeigt sich, dass gelungene Suizidpostvention einen erheblichen und wesentlichen Beitrag zur Suizidprävention leistet! Teams erleben nach erfolgreicher Bewältigung dieser Krise häufig einen verstärkten Zusammenhalt und eine spürbar erhöhte Resilienz.
Im Akutfall Patient:innensuizid zählen neben den Helfer:innen häufig noch andere Klient:innen/Patient:innen und vor allem Angehörige zu den Betroffenen. Die Bedürfnisse aller drei Personengruppen müssen beachtet und professionell gehandhabt werden. Qualitativ hochwertige institutionelle Suizidpostvention stellt hohe Anforderungen an die jeweiligen Verantwortungsträger:innen, gilt es doch, allen betroffenen Personen gerecht zu werden und mit diesem krisenhaften Ereignis bestmöglich umzugehen.
Was sind nun wesentliche Voraussetzungen für die konstruktive Verarbeitung eines Patient:innensuizids? Wichtige Voraussetzungen sind die Möglichkeit zum Ausdruck von Gedanken und Gefühlen in einem Klima von Offenheit und Vertrauen, Unterstützung und Rückhalt durch Kolleg:innen und Vorgesetzte und vor allem strukturierte Abläufe und Richtlinien für den Umgang mit einem Petientensuizid.
Für Einrichtungen im Gesundheitsbereich ist es grundsätzlich empfehlenswert, Leitlinien für Postvention vor Eintreten eines Patient:innensuizids zu entwickeln. Leitlinien dienen der Orientierung aller beteiligten Mitarbeiter:innen und Führungskräfte und sollen die Planung und Anwendung von Postventionsmaßnahmen im konkreten Einzelfall erleichtern und unterstützen. Sie sollten möglichst klare, auf die jeweiligen Gegebenheiten der betroffenen Einrichtung zugeschnittene Handlungsabläufe auf organisatorischer, administrativer und therapeutischer Ebene enthalten.
Es ist in diesem Kontext erforderlich, sowohl möglichst zeitnah und unmittelbar zu reagieren und zu handeln als auch die potenziellen mittel- und langfristigen Folgen des Patient:innensuizids im Auge zu behalten. Dabei sind laufend die Bedürfnisse aller vom Suizid betroffenen Personengruppen (Mitarbeiter:innen, Klient:innen/Patient:innen und Angehörige) entsprechend zu berücksichtigen.
Es ist sinnvoll und notwendig, durch die getroffenen Maßnahmen neben einer Stabilisierung aller Beteiligten auch einen passenden und ausreichenden Ausdruck von Trauergefühlen zu gewährleisten. Vor allem für Führungskräfte erscheint es sinnvoll, über die möglichen Auswirkungen eines Patient:innensuizids auf Mitarbeiter:innen und Klient:innen/Patient:innen bereits vor Eintritt eines solchen Ereignisses Bescheid zu wissen. Das Gleiche gilt für Informationen zu Trauerprozessen.
Grundsätzliche Empfehlungen für Leitungsverantwortliche
Zunächst gilt: Akutes Krisenmanagement hat immer Priorität vor anderen Aufgaben! Es ist wichtig, genug Raum und Zeit für die Bearbeitung und Verarbeitung dieses krisenhaften Ereignisses einzuräumen – Postvention dient, wie bereits gesagt, immer auch der Suizidprävention!
Tab. 1: Übersicht über die Organisationsaufgaben
Mit Widerstand und Abwehr in Bezug auf die Thematik Suizid und die mit ihr verbundenen Reaktionen ist bei Mitarbeiter:innen zu rechnen – damit sollte man arbeiten und sich nicht verleiten lassen, zu früh zur Routine zurückzukehren. Die Leitung sollte für eine offene, wertschätzende und unterstützende Kommunikation im Team sorgen. Rückendeckung für Mitarbeiter:innen ist dabei enorm wichtig – vor allem im Kontext von polizeilichen Ermittlungen oder Vorwürfen und/oder der Androhung von rechtlichen Schritten, z.B. durch Angehörige.
Es sollte unbedingt Abstand genommen werden von Schuldzuweisungen, Vorwürfen oder Androhung rechtlicher Konsequenzen in Richtung von Mitarbeiter:innen. Bei Vorwürfen innerhalb des Teams sollte die Leitung eingreifen. Es ist wichtig, mit besonders betroffenen Mitarbeiter:innen Gespräche zu führen, sie von anstehenden Aufgaben zu entlasten und dafür zu sorgen, dass sie Einzelsupervision bekommen und diese auch in Anspruch nehmen (die Kosten dafür sollten dabei vom Arbeitgeber übernommen werden und die Arbeitszeit sollte zur Verfügung gestellt werden). Nicht zuletzt ist es auch wichtig, für die eigene Unterstützung und Entlastung zu sorgen (z.B. durch Delegation von Aufgaben, Einbindung der Geschäftsleitung, Austausch mit Leitungskolleg:innen, Supervision u.Ä.).
Interventionen auf Team- oder Mitarbeiter:innenebene
Erste, unmittelbare Besprechungen dienen sowohl dem Zweck der Organisation aktuell anstehender Aufgaben als auch der Thematisierung der Befindlichkeit der Mitglieder eines Teams (am schwersten betroffene Mitarbeiter:innen brauchen Entlastung von ihren Arbeitsaufgaben, z.B. durch Diensttausch, Urlaub, Krankenstand u.Ä.).
Weitere Sitzungen dienen dem Zweck der Thematisierung der Reaktionen und Befindlichkeiten des Teams, der Evaluierung bisheriger und Planung weiterer Postventionsmaßnahmen sowie der Fallbesprechung (mögliche Settings: Teambesprechungen, Besprechungen in Gruppen, Gespräche unter vier Augen mit Vorgesetzten oder Kolleginnen/Kollegen, Intervision, Supervision u.a.).
Detaillierte Fallbesprechungen und spezielle Teambesprechungen sollten sehr vorsichtig durchgeführt werden, denn Teammitglieder, die einen Patient:innensuizid unmittelbar erlebt haben, sind in der Regel sehr empfindlich gegenüber Kritik und fühlen sich häufig verurteilt. Die Fallbesprechung sollte von einem Teammitglied geleitet werden, das Wissen und Erfahrung im Bereich der Suizidprävention wie auch im Bereich der Reaktionen auf einen Patient:innensuizid hat. Wenn es eine solche Person im Team nicht gibt, sollte jemand von außen hinzugezogen werden.
Die Inhalte sollten die Fakten des Falls darlegen, die individuellen Reaktionen auf den Suizid berücksichtigen und als normal anerkennen und dem Team Gelegenheit geben, einander zu unterstützen. Aufgrund der erhöhten persönlichen und professionellen Verletzlichkeit des Teams ist dabei die Thematisierung professioneller Verantwortung und guten Arbeitens vor einem unterstützenden und wertschätzenden (und nicht einem verurteilenden und bedrohlichen) Hintergrund zentral!
Alle Teammitglieder, die mit der durch Suizid verstorbenen Person zu tun hatten oder für sie verantwortlich waren, sollten an solchen Besprechungen teilnehmen und Gelegenheit haben, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.
Ziel solcher Besprechungen ist es, mehr über die Hintergründe des Suizids herauszufinden, und nicht, Schuldige zu finden! Gleichwohl ist es wichtig, potenzielle Versäumnisse unter Einbeziehung der Individualität der jeweiligen Situation im Sinne einer konstruktiven Fehlerkultur und mit dem Ziel, daraus zu lernen, zu thematisieren. Dazu gehört auch ein ehrlicher und verantwortungsvoller Umgang mit möglichen Versäumnissen im Vorfeld des Suizids.
Interventionen für andere Klient:innen/Patient:innen sowie für Angehörige/Hinterbliebene
Interventionen auf Ebene der anderen Klient:innen/Patient:innen sowie für Angehörige/Hinterbliebene nach einem Patient:innensuizid sind ebenfalls zentrale Bestandteile von Suizidpostvention. Mögliche und diesbezüglich notwendige Interventionen sind in den „SUPRA-Empfehlungen für Suizidpostvention in psychosozialen und medizinischen Einrichtungen“ (abrufbar auf der Homepage des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) eingehend dargestellt.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Schulungen von Teams in den Bereichen Suizidprävention und -postvention grundsätzlich empfehlenswert sind, um einen verantwortungsvollen und professionellen Umgang mit der Thematik Suizidalität zu gewährleisten. Diese Schulungsmaßnahmen sollten möglichst vor dem Eintritt suizidaler Handlungen von Klient:innen/Patient:innen erfolgen.
Zusätzlich wird angeregt, eine:n Postventionsbeauftragte/ -beauftragten innerhalb der Organisation zu etablieren (idealerweise mit persönlicher Vorerfahrung i. S. einer Peerfunktion und mit absolvierter Postventionsschulung).
Die „SUPRA-Empfehlungen für Suizidpostvention in psychosozialen und medizinischen Einrichtungen“ (inkl. eines exemplarischen Leitfadens und Empfehlungen im Umgang mit Medien) sind unter „Suizid und Suizidprävention SUPRA“ auf der Homepage des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz abrufbar ( https://suizidpraevention-gatekeeper.at/Folder_Broschueren ).
Quelle:
Der Bericht basiert auf einem Vortrag von Prim. Dr. Martin Baumgartner bei der ÖGPP-Jahrestagung 2024.
Literatur:
bei den Verfasser:innen
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