Adhärenz von Arzt und Patient – ein einvernehmliches Wechselspiel
Autorin:
Dr. Henrike Arfsten, PhD, FHFA
Universitätsklinik für Innere Medizin II
Klinische Abteilung für Kardiologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: henrike.arfsten@meduniwien.ac.at
Die Adhärenz bzw. Non-Adhärenz ist pandemisch, stellt aber das Bindeglied zwischen effektiver Therapie und effektivem Disease-Management dar und bildet ein Kernstück beim Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die klinische Praxis.
Keypoints
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Um es zum therapeutischen Erfolg zu bringen, stellt die Adhärenz ein wichtiges vereinendes Bindeglied zwischen optimaler Therapie und optimiertem Therapiemanagement/DMP dar.
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Adhärenz ist ein mehrdimensionales Konstrukt, in dem alle Beteiligten eine aktive Rolle auf Augenhöhe einnehmen. Verschiedene Level, von Non-Adhärenz über mäßige Adhärenz zu optimaler Adhärenz (>80%) bis zu Extra-Adhärenz, sind zu beachten. Die zeitliche Dimension umfasst die Komponenten Therapieinitiierung, Therapieimplementierung, und Therapiepersistenz.
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Fünf Kategorien sind definiert, die jeweils Ursache der Non-Adhärenz sein können und deren Optimierung zur Überwindung dieser beitragen kann: 1) sozialökonomisch, 2) patientenbezogen, 3) therapiebezogen, 4) Gesundheitskondition des Patienten, 5) das Gesundheitssystem.
Die „Adhärenz“ ist ein wichtiges Thema, mit dem wir uns im klinischen Alltag kontinuierlich konfrontiert sehen, das aber in der bewussten Kommunikation häufig zu kurz kommt. Vor allem in der aktuellen Pandemiesituation der letzten Monate, mit ihren Kontaktbeschränkungen und Limitationen einer engmaschigen Verlaufskontrolle, hat die Adhärenz zwischen Arzt und Patient, als wesentliches Kernstück unseres therapeutischen Erfolgs, an Bedeutung noch zugenommen.
Um sich die Bedeutung der Adhärenz zu verdeutlichen, sollten wir uns zwei Komponenten vor Augen führen: Auf der einen Seite haben wir heutzutage das Glück, hervorragende Therapieoptionen für viele Erkrankungen zu haben. Auf der anderen Seite finden sich potenziell effektive Therapiepläne/Disease-Management-Programme (DMP), die gerade bei langwierigen chronischen Erkrankungen von großer Bedeutung sind. Damit wir es aber zum tatsächlichen therapeutischen Erfolg bringen, stellt die Adhärenz ein wichtiges vereinendes Bindeglied beider Komponenten dar (Abb. 1).
Abb. 1: Adhärenz – der Schlüssel zum therapeutischen Erfolg
Nicht umsonst ist vielen von uns das sich hierauf beziehende Zitat: „Medikamente wirken nicht in jenen Patienten, die sie nicht nehmen“ (C. E. Koop, MD), geläufig. Und dies ist nicht nur auf die medikamentöse Therapie begrenzt, sondern lässt sich im Grunde auf jegliche Form des therapeutischen Managements transferieren.
Adhärenz – Vertrag auf Augenhöhe
Analysen, die sich explizit mit der Therapieadhärenz beschäftigen und Abweichungen verschriebener Therapien hinterfragen, sind grundsätzlich eher jung und der Begriff „Medikations-Adhärenz“, wie wir ihn heute einsetzen, wurde erst im Jahr 2009 als MeSH-Term in unseren wissenschaftlichen Datenbanken deklariert, hat sich hier zunehmend von dem Begriff Compliance differenziert und diesen heute abgelöst.1 Denn während die Compliance ein sehr passiver Begriff ist, der das Befolgen ärztlicher Anordnungen durch den Patienten definiert, ist die Adhärenz mehrdimensionaler und durch einvernehmlichen Aktivismus sowohl vom Arzt als auch vom Patienten geprägt.
Zwei weitere in diesem Zusammenhang wesentliche Komponenten sind die Persistenz und die Konkordanz.2,3 Die Therapie-Persistenz definiert die Dauer der Therapietreue des Patienten, von der Therapieinitiierung bis zur Beendigung. Die Therapie-Konkordanz beschreibt einen einvernehmlichen „Vertrag“ zwischen betreuendem Mediziner und Patient auf Augenhöhe! Der Patient nimmt also eine aktive Rolle ein.
Umsetzung von Wissenschaft in die klinische Praxis
Während die Compliance charakteristisch für das Setting klinischer (randomisierter) Studien ist, ist es im gelebten klinischen Alltag die Adhärenz. Genau diese Diskrepanz zwischen Studiensetting und klinischer Praxis kann uns, vor allem auch in der kardiovaskulären Medizin, in ganz besonderem Ausmaß treffen. Wir haben für nahezu jede Fragestellung Leitlinien und damit theoretisch eine optimale Empfehlung für jedes „Problem“. Diese beruhen bekanntermaßen auf wissenschaftlichen Studiendaten von selektiven Patientenpopulationen. Doch an der Transferierung eines leitliniengetreuen Patientenmanagements in die Praxis scheitern wir immer wieder. Es gibt eine große krankheits- oder medikationsspezifisch nachgewiesene Diskrepanz zwischen Guidelines und klinisch-alltäglicher Praxis.4 Denn im Vergleich zu intensiviertem, hochfrequent kontrolliertem Patientenmanagement im Studiendesign beginnt im medizinischen Alltag die Herausforderung der Therapietreue spätestens mit der Medikationsverschreibung bei Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus, der Ambulanz oder der Ordination. Allgemeine Übersichtshochrechnungen zeigen, dass nur 88% der verschriebenen Rezepte eingelöst werden, wiederum nur 76% der Tabletten anschließend eingenommen und die Therapie von nicht einmal 50% der Patienten beibehalten wird. Es finden sich in der Literatur Beispiele mit vergleichbaren Beobachtungen für nahezu alle chronischen Erkrankungen und auch für unterschiedliche Medikamentengruppen.
Am Beispiel des Myokardinfarkts konnte gezeigt werden, dass innerhalb von bis zu vier Monaten nach dem Akutereignis offenbar nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Patienten ihr Rezept einlösen, und der Trend ist im weiteren Zeitverlauf weiter stark abnehmend (gezeigt für RAS-Blockade, Betablocker und Statine).5,6
Ähnliche Beobachtungen gibt es bei der Herzinsuffizienz mit der Verschreibung von RAS-Hemmer, Betablocker, Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonist: Unter Patienten, die zumindest 2 Rezepte nach Therapieinitiierung eingelöst haben, also einen gewissen Grad der Adhärenz initial gezeigt haben, scheinen nach einem Jahr nur noch zwei Drittel adhärent zu sein, und das Verhältnis dreht sich nach 3 Jahren mit nur noch ein Drittel Therapietreue um.7
Grundsätzlich ist die Non-Adhärenz pandemisch. Wir beobachten weltweit ein etwa vergleichbares Level der Adhärenz bzw. Non-Adhärenz, wobei beruhend auf den verfügbaren Daten Kosten, Zugang zum Gesundheitssystem, aber auch die jeweilige Medikamentengruppe eine gewisse Rolle spielen.4, 9,8
Adhärenz als mehrdimensionales Konstrukt
Wie oben erwähnt, handelt es sich bei der Adhärenz um ein mehrdimensionales Konzept. So gibt es neben Aspekten, wie bspw. dem zeitlichen, verschiedene Level der Adhärenz, wobei diese fließend ineinanderübergehen können (Abb. 2).1
Abb. 2: Adhärenz-Level (nach Vrijens B et al.: Br J Clin Pharmacol 2012)1
Die Spanne reicht von non-adhärenten Patienten, denen sich mäßig adhärente Patienten mit rezidivierenden „Therapieferien“ oder nur selektiven Therapiezielen anschließen. Darauf folgt die hohe Adhärenz, die ein optimales therapiebezogenes Arzt/Patienten-Übereinkommen zeigt (≥80% Therapietreue) und die somit anzustreben ist. Übers Ziel hinaus schießen die sogenannten „extra adhärenten“ Patienten, bei denen es sich dann bereits um den Bereich „Abhängigkeit“ handelt und der somit ebenso zu vermeiden ist wie die Non-Adhärenz (Abb. 2).
In der zeitlichen Dimension der Adhärenz gibt es zumindest 3 Schritte zu berücksichtigen. Dazu zählt initial die Therapieinitiierung, ein binärer Türenöffner, oder auch Grundsatzentscheidung: Therapiestart ja oder nein. Darauf folgt die Implementierung der Therapie in den Alltag des Patienten. Faktoren, die hier zu hinterfragen sind, inkludieren u.a.: „Wird die Therapie regelmäßig genommen?“, „Werden mögliche Titrationsschritte adäquat umgesetzt?“ (oder nur teilweise bzw. in potenziertem Maße?). Und an dritter Stelle steht die Persistenz. Diese definiert die Herausforderung, eine Therapie auch über einen langen Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten, was vor allem bei chronischen Erkrankungen einen besonderen Stellenwert hat.
Um die Non-Adhärenz zu verstehen und möglicherweise im Sinne eines erfolgreichen Krankheitsmanagements entsprechend intervenieren zu können, ist es unerlässlich, die zugrunde liegende Motivation zu verstehen. Die folgenden fünf Kategorien wurden diesbezüglich definiert (Abb. 3.):
Abb. 3: Fünf Kategorien der Non-Adhärenz
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Sozialökonomisch: u.a. Alter, soziales Umfeld, Kosten.
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Patientenbezogen: Vergessenheit, Sorge vor Abhängigkeit oder Nebenwirkung, Missverständnis in den Therapieanweisungen.
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Therapiebezogen: Komplexität und Dauer der Therapie.
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Gesundheitskondition des Patienten: Hier werden u.a. relevante Komorbiditäten, Angst und Depressionen mit einbezogen.
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Das Gesundheitssystem, in dem v.a. auch der individuelle Mediziner, die Arzt-Patienten-Beziehung, Expertise und Zeit eine bedeutende Rolle spielen.
Des Weiteren gilt es grundsätzlich zwei Typen der Non-Adhärenz zu unterscheiden: die nicht intentionelle und die intentionelle Non-Adhärenz, wobei Kombinationen nicht ausgeschlossen sind.
Bei der nicht intentionellen Non-Adhärenz liegen für den Patienten unüberwindbare oder zumindest schwierig zu überwindende Barrieren vor, die es mit entsprechender Hilfestellung zu bewältigen gilt. Dazu zählt eine Optimierung der Arzt-Patienten-Kommunikation und -Interaktion, der Therapiezufriedenheit, des Zeitmanagements oder finanzieller Hürden.
Demgegenüber steht die intentionelle Non-Adhärenz. Der Patient ist sich möglicher Barrieren bewusst, zeigt aber auch bei entsprechender Hilfestellung keinen Willen, diese zu überwinden. Oft liegt hier ein Missverständnis gegenüber dem Sinn und Effekt der angedachten Therapie zugrunde. Die direkte Kommunikation und entsprechende Patientenedukation sind in diesem Fall besonders wichtig, aber da das mangelnde Umsetzen des gemeinsam entwickelten Therapieplans eine bewusste Entscheidung ist, ist die intentionelle Non-Adhärenz häufig schwieriger zu überwinden.
Besonderer Aktionismus aufseiten des Mediziners
Adhärenz ist definitiv kein Aktionismus des Patienten alleine. Mediziner bzw. alle involvierten Parteien haben ihren aktiven Beitrag zu leisten, damit eine optimale Therapie funktioniert. Es gibt Tools, die auf ärztlicher Seite eingesetzt werden können, um Hürden in der Adhärenz direkt oder indirekt zu identifizieren und gegebenenfalls entsprechend zu intervenieren. Zu direktem Assessment zählt das Beobachten, wie der Patient die Medikation einnimmt, die Bestimmung von Wirkstoffkonzentration, Metaboliten oder Biomarkern, die Rückschlüsse auf die Therapie zulassen. Die indirekten, weicheren, aber in der Regel leichter zu etablierenden Assessment-Tools inkludieren den Einsatz von Fragebögen, Tabletten zählen, Verfolgung eingelöster Rezepte, Monitoring physiologischer Marker, (beispielsweise Herzfrequenz bei Betablockertherapie), Nutzung von Patiententagebüchern oder die Befragung dritter involvierter Personen.10
Neben der Reevaluierung des Patientenverhaltens ist es auch auf Medizinerseite ebenso wichtig, das eigene Handeln immer wieder zu hinterfragen. Dies wird unter anderem am Beispiel der Herzinsuffizienz besonders deutlich. Herzinsuffizienztherapie besteht bekannterweise aus mehreren Wirkstoffklassen, für die bereits kurz nach Initiierung ein rascher therapeutischer Benefit gezeigt werden konnte. Dennoch gibt es einen mit bis zu 85% definitiv beträchtlichen Patientenanteil, der mindestens eines dieser Medikamente trotz fehlender offensichtlicher Kontraindikationen nicht verschrieben bekommt.12
Neben der Verschreibung haben auch die Therapietitration und -optimierung u.a. bei der Herzinsuffizienz Bedeutung (Therapieimplementierung s.o.). Und so gibt es einen medikationsabhängig bis zu 60%igen Anteil an Patienten, die zwar ein entsprechendes Medikament erhalten haben, bei denen aber die Dosierung unzureichend ist.11 Ähnliche Daten, die zeigen, dass ein deutlicher Anteil der Patienten suboptimal medikamentös eingestellt ist, finden sich auch in einer Registeranalyse für Österreich.12 Nicht nur die Titration per se scheint eine Herausforderung in der Therapieimplementierung zu sein, sondern auch das jeweils anzustrebende Titrationsziel. Der Mediziner scheint hier durch risikoaverses Verhalten und Respekt vor großen Zahlen beeinflusst zu sein. Es konnte gezeigt werden, dass für Medikamente mit höherer Zieldosis, aber äquivalenter Wirkung die optimierte Therapie schwieriger zu erreichen scheint. Am konkreten Beispiel heißt dies: Wenn die Maximaldosis von Bisoprolol 10mg ist, jene von Metoprolol für einen äquivalenten Wirkungseffekt aber bei 200mg liegt, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass der Patient mit anzustrebenden 200mg eine optimierte medikamentöse Therapie erhält als jener Patient, der nur auf 10mg titriert werden muss. Also, Achtung! Es gilt auf ärztlicher Seite reflektiert zu sein und sich selber immer wieder objektiv zu reevaluieren.
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass mangelnde Adhärenz die Wirksamkeit von im Studiensetting bewährten Therapien, wo keine Randomisierung auf Adhärenz erfolgt, limitiert. Für einen optimalen Transfer von Studiendaten in die klinische Praxis ist das Erzielen einer optimalen Adhärenz (>80%) mehrdimensionale Teamarbeit. Alle Beteiligten tragen Mitverantwortung für die Einschätzung, Vermittlung und Erarbeitung von Strategien zur Verbesserung der Adhärenz.
Literatur:
1 Vrijens B et al.: A new taxonomy for describing and defining adherence to medications. Br J Clin Pharmacol 2012; 73(5): 691-705 2 de Almeida Neto AC et al.: Medicines concordance in clinical practicer. BrJ Clin Pharmacol 2008; 66: 453-4 3 Snowden A: Medication management in older adults: a critique of concordance. Br J Nurs 2008; 17(2): 114-9 4 Kolandaivelu K et al.: Non-adherence to cardiovascular medications. European Heart Journal 2014; 35: 3267-76 5 Jackevicius CA et al.: Prevalence, predictors, and outcomes of primary nonadherence after acute myocardial infarction. Circulation 2008; 117(8): 1028-36 6 Schwalm JD et al.: Length of initial prescription at hospital discharge and long-term medication adherence for elderly, post-myocardial infarction patients: protocol for an interrupted time series study. JMIR Res Protoc 2020; 9(11): e18981 7 Rasmussen AA et al.: Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother 2021; 7(4): 287-95 8 Rodriguez F et al.: Predictors of long-term adherence to evidence-based cardiovascular disease medications in outpatients with stable atherothrombotic disease: findings from the REACH Registry. Clin Cardiol 2013; 36(12): 721-7 9 Yusuf S et al.: Use of secondary prevention drugs for cardiovascular disease in the community in high-income, middle-income, and low-income countries (the PURE Study): a prospective epidemiological survey. Lancet 2011; 378(9798): 1231-43 10 Osterberg L et al.: Adherence to medication. N Engl J Med 2005; 353(5): 487-97 11 Greene SJ et al.: Medical therapy for heart failure with reduced ejection fraction: the CHAMP-HF registry. J Am Coll Cardiol 2018; 72(4): 351-66 12 Arfsten H et al.: Prescription bias in the treatment of chronic systolic heart failure. Ann Intern Med 2020; 172(1): 70-2
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