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Herz-Hirn-Interaktion: die Rolle von psychosozialen Risikofaktoren
Autor:
Prof. Dr. med. Aju P. Pazhenkottil1,2
1Kardiale Bildgebung
Klinik für Nuklearmedizin
Universitätsspital Zürich
2Psychokardiologie
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Universitätsspital Zürich
E-Mail: aju.pazhenkottil@usz.ch
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Die Interaktion zwischen Herz und Gehirn spielt eine zunehmend zentrale Rolle im Verständnis von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese Verbindung ist nicht nur physiologisch, sondern auch stark durch psychosoziale Faktoren beeinflusst, die das Risiko für kardiovaskuläre und neurologische Erkrankungen signifikant erhöhen können. Der Einfluss von Stress, Depressionen, Angstzuständen und sozialen Stressoren auf die Herz-Hirn-Achse ist wissenschaftlich gut dokumentiert und verdeutlicht, wie eng psychische und physische Gesundheit miteinander verknüpft sind.
Keypoints
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Die Herz-Hirn-Interaktion wird stark von psychosozialen Risikofaktoren beeinflusst.
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Die Amygdala spielt eine zentrale Rolle in der Emotionsverarbeitung.
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Stress und psychosoziale Risikofaktoren können sich negativ auf die kardiovaskuläre Gesundheit auswirken.
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Ein integrativer Ansatz, der psychosoziale, medizinische und verhaltensorientierte Interventionen kombiniert, ist entscheidend, um das Risiko für Erkrankungen zu reduzieren und die Gesundheit von Herz und Gehirn zu fördern.
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Insbesondere die körperliche Aktivität ist eine nachweislich effektive Präventionsstrategie nicht nur für die kardiovaskuläre, sondern auch für die mentale Gesundheit.
Die Herz-Hirn-Verbindung: ein bidirektionales System
«Every affection of the mind that is attended with either pain or pleasure, hope or fear, is the cause of an agitation whose influence extends to the heart.» Diese Feststellung von William Harvey – der als Erstbeschreiber des Blutkreislaufs gilt – über die enge Verbindung von neuronalen Prozessen und dem Herzen, die vor knapp 400 Jahren formuliert wurde, fand zunächst vor allem in Anekdoten und Fabeln Beachtung. Erst im Laufe der Zeit rückte diese Idee in den Fokus systematischer und direkter wissenschaftlicher Untersuchungen.
In den letzten Jahren hat sich das Verständnis dafür, wie emotionaler und psychischer Stress das Herz beeinflussen kann, immens erweitert. Besonders die Aktivität der Amygdala, einer Region im Gehirn, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist, steht im Fokus der Forschung. Das Herz und das Gehirn stehen in einem dynamischen, bidirektionalen Austausch, der über das autonome Nervensystem (ANS), neurohormonelle Signale und immunologische Prozesse vermittelt wird (Abb. 1). Das ANS spielt eine zentrale Rolle, da es über Sympathikus und Parasympathikus sowohl die Herzfrequenz als auch die Reaktivität auf Stress reguliert. Chronischer psychosozialer Stress kann das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Systemen stören, was zu einer Überaktivierung des Sympathikus und einer verminderten vagalen Kontrolle führt. Diese Dysregulation erhöht das Risiko für Bluthochdruck, Arrhythmien und entzündliche Prozesse, die wiederum kardiovaskuläre und neurologische Erkrankungen fördern.
Abb. 1: Herz-Hirn-Interaktion: Darstellung der Mechanismen, wie psychosozialer Stress und kardiovaskuläres Risiko zusammenhängen
Die Amygdala und das Herz
Die Amygdala spielt eine zentrale Rolle bei der emotionalen Bewertung und Verarbeitung von Stress. Studien zeigen, dass eine erhöhte stressbedingte neuronale Aktivität bzw. die Aktivität der Amygdala mit einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und mit der Mortalität korreliert.1 Eine wegweisende Studie belegte, dass Teilnehmer mit einer höheren Aktivität der Amygdala – gemessen mittels 18F-Fluorodeoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomografie (18F-FDG-PET) – ein signifikant erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt und Schlaganfall hatten.2 Diese Korrelation blieb auch nach der Anpassung von traditionellen Risikofaktoren bestehen. Eine weitere, kürzlich publizierte Studie wies bei Patient:innen unmittelbar nach einem akuten Myokardinfarkt verglichen mit Kontrollpersonen ebenfalls eine erhöhte Amygdala- und Knochenmarksaktivität nach.3 Sechs Monate nach dem Myokardinfarkt waren die Amygdala- und die Knochenmarksaktivität wieder auf dem gleichen Niveau wie bei Kontrollpersonen. Die Autoren kamen zum Schluss, dass die Stress-assoziierte neurobiologische Aktivität womöglich die Makrophagenaktivität fördert und dies in Verbindung mit akuter Plaqueinstabilität im Rahmen des Myokardinfarktes steht,3 was somit ein potenzielles Ziel für künftige Behandlungen darstellt.
Schliesslich konnte in einer kürzlich publizierten Studie mittels 18F-FDG-PET und einer Computertomografie der Koronarien (Koronar-CT) der Zusammenhang dargestellt werden, wie die erhöhte Amygdalaaktivität über die verstärkte Knochenmarksaktivität zu einem erhöhten inflammatorischen Prozess im Bereich der Koronararterien (gemessen mit einem neuen CT-basierten Index, dem sogenannten «fat attenuation index» [FAI] der Koronararterien) und zu vermehrten Hochrisikoplaques in den Koronararterien führt (Abb. 2).4 Diese Faktoren waren assoziiert mit einem erhöhten Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der Hirn-Herz-Interaktion und weisen darauf hin, dass die Amygdalaaktivität ein potenzieller Ansatzpunkt für die Prävention und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist.
Abb. 2: Möglicher Zusammenhang, wie die erhöhte Amygdalaaktivität über die erhöhte Knochenmarksaktivität zu vermehrten inflammatorischen Prozessen im Bereich der Koronararterien und zu vermehrten Hochrisikoplaques in den Koronararterien führt (adaptiert nach Dai et al. 2023)4
Psychosoziale Risikofaktoren
Psychosoziale Risikofaktoren wie chronischer Stress, Depressionen, Angstzustände sowie ein niedriger sozioökonomischer Status und Einsamkeit stehen in Verbindung mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko und einem ungünstigen Verlauf kardialer Erkrankungen (Tab.1). Diese Erkenntnis, die auf zahlreichen Studien und Metaanalysen basiert, gewinnt sowohl in nationalen als auch internationalen Leitlinien und Positionspapieren zur Diagnostik und Therapie von Herzerkrankungen zunehmend an Bedeutung.5–7 Der psychosoziale Stress wurde neu als «risk modifyer» für kardiovaskuläre Erkrankungen in die aktuellen Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) aufgenommen, mit der damit verbundenen Empfehlung für entsprechende präventive Massnahmen.5
In der jüngsten Vergangenheit konnten etliche Studien die Wichtigkeit der Psyche und des akuten und chronischen Stresses sowohl bei der Entstehung als auch im weiteren Verlauf von kardiovaskulären Erkrankungen belegen. Unter anderem hat eine Studie während der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland gezeigt, dass sich die Rate von akuten kardiovaskulären Ereignissen in und um München an den Tagen, an welchen die deutsche Nationalmannschaft spielte, vervielfachte.8 Die Autoren schlossen daraus, dass der intensiv empfundene, akute emotionale Stress im Rahmen eines wichtigen Fussballspiels kardiovaskuläre Ereignisse triggern kann – ein ähnliches Phänomen, wie es bei Naturereignissen (z.B. Erdbeben) oder Kriegen gezeigt werden konnte.9,10 Neben dem akuten Stress wirkt sich vor allem auch der chronische Stress, wie beispielsweise der jobbezogene Stress (Arbeitsstress) auf die kardiovaskuläre Gesundheit aus.11 So konnte eine kürzlich publizierte Studie nachweisen, dass erhöhter Arbeitsstress mit einer verminderten endothelabhängigen myokardialen Blutflussreserve assoziiert ist.12
Schliesslich haben etliche Studien und Metaanalysen die Relevanz der engen Wechselbeziehung von psychischen Komorbiditäten (u.a. Depression, Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung) und kardiovaskulären Erkrankungen gezeigt. Nach einem Herzinfarkt lassen sich beispielsweise neben Anpassungsstörungen und Angst bei circa 25% der Betroffenen eine Depression bzw. depressive Symptome nachweisen.7,13
Mechanismen des Einflusses von psychosozialen Risikofaktoren auf das Herz
Die Amygdala sendet bei Stress Signale an verschiedene Körperteile, einschliesslich des Herz-Kreislauf-Systems. Dies führt zur Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Cortisol. Langfristig führt dieser Mechanismus zu einer Erhöhung des Blutdrucks, einer Förderung von Entzündungsprozessen und letztendlich zur Atherosklerose (Abb.1).
Direkte Mechanismen
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Stress und Entzündung: Psychosozialer Stress bewirkt eine Aktivierung des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems (HPA-Achse) und fördert so entzündliche Prozesse. Langfristige Entzündungen stehen in Zusammenhang mit der Entstehung von Arteriosklerose und neurodegenerativen Erkrankungen.
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Autonome Dysfunktion: Eine reduzierte Herzratenvariabilität (HRV), ein Marker für die vagale Kontrolle des Herzens, ist häufig bei depressiven oder ängstlichen Personen nachweisbar. Eine niedrige HRV ist mit einem höheren Risiko für plötzlichen Herztod und andere kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert.
Indirekte Mechanismen
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Ungesunde Verhaltensweisen: Psychosoziale Belastungen fördern ungesunde Lebensstile wie Rauchen, übermässigen Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Diese Verhaltensweisen wirken sich negativ auf die kardiovaskuläre Gesundheit aus.
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Therapietreue: Menschen mit Depressionen oder chronischem Stress zeigen oft eine geringere Compliance in Bezug auf medizinische Behandlungen und Präventionsstrategien.
Präventions- und Interventionsstrategien
Um das Risiko von herzbezogenen Erkrankungen zu minimieren, ist ein effektives Stressmanagement entscheidend. Techniken wie regelmässige körperliche Aktivität, Achtsamkeitstraining und Meditation haben sich als wirksam erwiesen, um die Aktivität der Amygdala zu reduzieren und das allgemeine Wohlbefinden zu fördern. Auch professionelle therapeutische Ansätze wie kognitive Verhaltenstherapie können helfen, die Reaktionen auf Stress zu modifizieren und die Herzgesundheit zu verbessern.
In einer kürzlich publizierten Studie wurden die Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf die stressbezogene neuronale Aktivität und deren Verbindung mit kardiovaskulären Erkrankungen untersucht.14 Dabei wurde festgestellt, dass die körperliche Betätigung die Aktivität der Amygdala reduziert: Höhere körperliche Aktivität war sowohl mit einer niedrigeren Amygdalaaktivität als auch mit einer niedrigeren Rate an kardiovaskulären Ereignissen verbunden. Zudem konnte gezeigt werden, dass der Nutzen körperlicher Aktivität für das Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen bei Personen mit vorbestehender Depression grösser war als bei Personen ohne vorbestehende Depression. Die Studie unterstreicht die Bedeutung von körperlicher Aktivität nicht nur für die körperliche, sondern auch für die mentale Gesundheit und lässt den Schluss zu, dass Sport als wichtige Präventionsstrategie für stressbedingte kardiovaskuläre Erkrankungen dienen könnte.
Um die negativen Auswirkungen psychosozialer Risikofaktoren auf die Herz-Hirn-Achse zu minimieren, ist ein multidisziplinärer Ansatz notwendig. Dies wird auch in den neusten Europäischen Richtlinien so festgehalten.5 Mit relativ einfachen Mitteln können psychosoziale Risikofaktoren erhoben und entsprechende Massnahmen in die Wege geleitet werden.
Zu den wirksamen Strategien gehören:
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Stressmanagement: Techniken wie Achtsamkeitstraining, Meditation und Atemübungen können das autonome Gleichgewicht wiederherstellen und Entzündungen reduzieren.
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Psychotherapie: Interventionen wie die kognitive Verhaltenstherapie sind wirksam bei der Behandlung von Depressionen und Angstzuständen, die das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen.
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Soziale Unterstützung: Der Aufbau und die Pflege sozialer Beziehungen können den negativen Auswirkungen von sozialer Isolation und Einsamkeit entgegenwirken.
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Förderung eines gesunden Lebensstils: Regelmässige körperliche Aktivität, eine ausgewogene Ernährung und der Verzicht auf Nikotin sind essenziell für die Prävention von Herz- und Hirnerkrankungen.
Zusammenfassung
Die Verbindung zwischen Herz und Stress, insbesondere durch die Aktivität der Amygdala, ist ein wichtiges Gebiet der medizinischen Forschung. Durch das Verständnis, wie psychosoziale Faktoren das Herz beeinflussen, können wir effektivere Strategien zur Prävention und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln. Es ist essenziell, sowohl die physiologischen als auch die psychologischen Aspekte der Herzgesundheit in der medizinischen Praxis zu berücksichtigen, um ganzheitliche und effektive Therapieansätze zu fördern.
Literatur:
1 Mikail N et al.: Imaging of the brain-heart axis: prognostic value in a European setting. Eur Heart J 2024; 45: 1613-30 2 Tawakol A et al.: Relation between resting amygdalar activity and cardiovascular events: a longitudinal and cohort study. Lancet 2017; 389: 834-45 3 Kang DO et al.: Stress-associated neurobiological activity is linked with acute plaque instability via enhanced macrophage activity: a prospective serial 18F-FDG-PET/CT imaging assessment. Eur Heart J 2021; 42: 1883-95 4 Dai N et al.: Stress-related neural activity associates with coronary plaque vulnerability and subsequent cardiovascular events. JACC Cardiovasc Imag 2023; 16: 1404-15 5 Visseren FLJ et al.: 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Heart J 2021; 42: 3227-337 6 Ladwig KH et al.: Mental health-related risk factors and interventions in patients with heart failure: a position paper endorsed by the European Association of Preventive Cardiology (EAPC). Eur J PrevCardiol 2022; 29: 1124-41 7 Kindermann I et al.: Bedeutung von psychosozialen Faktoren in der Kardiologie – Update 2024. Die Kardiologie 2024; 18: 412-43 8 Wilbert-Lampen U et al.: Cardiovascular events during World Cup soccer. N Engl J Med 2008; 358: 475-83 9 Leor J et al.: Sudden cardiac death triggered by an earthquake. N Engl J Med 1996; 334: 413-9 10 Meisel SR et al.: Effect of Iraqi missile war on incidence of acute myocardial infarction and sudden death in Israeli civilians. Lancet 1991; 338: 660-1 11 Kivimäki M et al.: Job strain as a risk factor for coronary heart disease: a collaborative meta-analysis of individual participant data. Lancet 2012; 380: 1491-7 12 von Känel R et al.: Coronary microvascular function in male physicians with burnout and job stress: an observational study. BMC Med 2023; 21: 477 13 Vaccarino V et al.: Depression and coronary heart disease: 2018 ESC position paper of the working group of coronary pathophysiology and microcirculation developed under the auspices of the ESC Committee for Practice Guidelines. Eur Heart J 2019; 0: 1-15 14 Zureigat H et al.: Effect of stress-related neural pathways on the cardiovascular benefit of physical activity. J Am Coll Cardiol 2024; 83: 1543-53
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