Kardiovaskuläre Risikofaktoren: primäreund sekundäre Prävention bei Hypertonie
Autor:
Priv.-Doz. DDr. Gernot Pichler, MSc
Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie
Oberarzt Abteilung für Kardiologie
Klinik Floridsdorf, Wien
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Die 2024 erschienenen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) für das Management von erhöhtem Blutdruck und Hypertonie überraschen mit neuen Blutdruckkategorien und Therapiezielen. Die pharmakologische Therapie sollte nun basierend auf dem individuellen kardiovaskulären Risiko etabliert werden, das Ziel ist ein möglichst niedriger Blutdruck für alle Patient:innen.
Keypoints
-
Ein erhöhter BD liegt nach neuen Kategorien bei 120–139mmHg systolisch oder70–89mmHg diastolisch vor.
-
Die Therapieentscheidung sollte nach individuellem kardiovaskulärem Risiko erwogen werden.
-
Eine pharmakologische Intervention ist ab einem BD von 130/80mmHg in der Sekundärprophylaxe oder Primärprophylaxe bei Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko empfohlen.
-
Vorrangig sollten medikamentöse Therapien mit Kombinationspräparaten (Einnahme 1xtäglich) in der Hypertoniebehandlung bevorzugt werden.
-
Das Blutdruckziel liegt bei 120–129mmHg systolisch bzw. nach ALARA-Prinzip „so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar“.
Die ESC-Leitlinien 2024 empfehlen drei vereinfachte Blutdruck(BD)-Kategorien, um Therapieentscheidungen zu unterstützen (Tab. 1).1
Tab. 1: Neue Blutdruckkategorien nach ESC-Leitlinien (modifiziert nach McEvoy JW et al. 2024)1
Neue Kategorien
Die Kategorie arterielle Hypertonie wird weiterhin als systolischer BD≥140mmHg oder diastolischer BD≥90mmHg definiert. Zahlreiche randomisiertkontrollierte Studien und Metaanalysen zeigen den Nutzen einer pharmakologischen BD-Senkung im Sinne einer Verringerung des kardiovaskulären Risikos bei Erwachsenen mit BD über diesem Schwellenwert, unabhängig von Komorbiditäten.
Blutdruckwerte unter 120mmHg systolisch und 70mmHg diastolischwerden als nichterhöhter BD bezeichnet, da in diesem Bereich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gering und der Nutzen einer medikamentösen Intervention nicht belegt ist. Die Leitlinien definieren weiters den erhöhten BD als systolische Werte von 120–139mmHg oder diastolische Werte von 70–89mmHg. In diesem Bereich ist die kardiovaskuläre Gesamtrisikostratifizierung entscheidend für die Empfehlung einer antihypertensiven Behandlung.
Wichtig ist zu erwähnen, dass die Diagnose Hypertonie nicht nur auf Basis von Messungen in der Ordination („office“-Messungen) bzw. innerklinischen Messungen beruhen darf, sondern mit außerklinischen Messungen (Heimmessung oder 24-h-Messung) bestätigt werden sollte.
Bestimmung des kardiovaskulären Risikos
Zur Risikostratifizierung bei Personen mit erhöhtem Blutdruck wird eine kombinierte Evaluation des gemessenen Blutdrucks mit 10-Jahres-Risikomodellen für kardiovaskuläre Erkrankungen und nichttraditionellen Risikomodifikatoren empfohlen. Ziel der Risikobestimmung ist es, Personen zu identifizieren, die bereits ab einem BD von 130mmHg systolisch oder 80mmHg diastolisch von einer pharmakologischen Therapie profitieren (Tab.1).1 Die klassische Unterscheidung von Primär- und Sekundärprävention zur Therapiebestimmung wird abgelöst von einer holistischen Beurteilung des Langzeitrisikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei Patient:innen mit bestätigter Hypertonie (BD>140/90mmHg) sollte direkt mit antihypertensiver Therapie begonnen werden, ohne zusätzliche Risikostratifizierung. Für Personen mit erhöhtem BD und Hochrisikofaktoren wie bestehender Herz-Kreislauf-Erkrankung, chronischer Nierenerkrankung (CKD), Diabetes mellitus, familiärer Hypercholesterinämie oder Hypertonie-vermittelten Endorganschäden (HVOS) steigt das kardiovaskuläre Risiko deutlich an, womit eine medikamentöse Therapie ab einem BD von 130/80mmHg empfohlen wird.
Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und erhöhtem BD unter 60 Jahren kann der SCORE2-Diabetes zur genaueren Risikobewertung genutzt werden. Die Behandlung von Patient:innen ohne Hochrisikofaktoren sollte anhand des SCORE2-Modells (40–69 Jahre) oder SCORE2-OP (≥70 Jahre) bewertet werden.2 Ein 10-Jahres-Risiko von ≥10% rechtfertigt eine medikamentöse Intervention. Bei grenzwertigem Risiko (5–10%) können geschlechtsspezifische oder weitere Risikomodifikatoren zur Entscheidung hinzugezogen werden. Falls trotzdem eine Unsicherheit bleibt, können zusätzliche Tests wie der Calcium-Score mittels Herz-CT, Plaque-Bewertung oder Biomarkermessungen (NT-proBNP, hsTroponin) hilfreich sein. Für Patienten mit nicht erhöhtem Blutdruck ist keine gezielte Risikostratifizierung erforderlich. Sie kann jedoch für andere Präventionstherapien (z.B. die Evaluierung lipidsenkender Therapien) sinnvoll sein.
Therapie
Lebensstilmaßnahmen
Ein ungesunder Lebensstil ist eine der Hauptursachen für erhöhten Blutdruck und Hypertonie in der allgemeinen Bevölkerung und hat ernsthafte Auswirkungen auf die Gesamtmortalität und das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Ein gesunder Lebensstil im Sinne einer ausgewogenen Ernährung und regelmäßiger körperlicher Aktivität bringt breite gesundheitliche Vorteile, einschließlich mentaler und physischer Effekte, die über die reine Blutdrucksenkung hinausgehen, und wird über das gesamte Spektrum der Blutdruckkategorien empfohlen.3
Pharmakologische & interventionelle Therapie
ACE-Hemmer, Angiotensin-II-Rezeptor-Blocker (ARB), Kalziumantagonisten vom Dihydropyridin-Typ (CCB) und Thiaziddiuretika gelten als Erstlinientherapie zur Blutdrucksenkung, da sie nachweislich kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren. Betablocker werden hingegen nur in dezidierten Indikationen empfohlen, etwa bei KHK, Herzinsuffizienz oder zur Frequenzkontrolle bei Tachyarrhythmien, wobei vasodilatierende Betablocker der dritten Generation bevorzugt werden. Dies ist weniger auf eine unzureichende blutdrucksenkende Wirkung zurückzuführen als vielmehr auf eine geringere Effektivität in der Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse, insbesondere Schlaganfällen. Zudem bestehen Einschränkungen hinsichtlich der Verträglichkeit und mögliche ungünstige hämodynamische Veränderungen bei Langzeitgabe, die den breiten Einsatz der Betablocker einschränken.
Zur Behandlung der Hypertonie wird oft eine Kombinationstherapie mit verschiedenen blutdrucksenkenden Medikamenten benötigt, da dies eine stärkere Blutdrucksenkung bewirken kann als die Erhöhung der Dosis eines einzelnen Wirkstoffes. Die Kombinationstherapie adressiert verschiedene Mechanismen, die zum erhöhten Blutdruck beitragen, und ermöglicht den Einsatz niedrigerer Dosierungen zur Reduktion von Nebenwirkungen und Verbesserung der Therapieadhärenz.
Für eine schnelle und längerfristige Blutdruckkontrolle wird daher eine initiale Kombinationstherapie in niedriger Dosierung empfohlen (ACE-Hemmer oder ARB plus Kalziumantagonist oder Thiaziddiuretikum), bevorzugt in Form von Einzeltablettenkombinationen einmal täglich zum Zeitpunkt, der von den Patient:innen bevorzugt wird.4
Bei Personen mit erhöhtem BD, relevanter „frailty“, symptomatischer orthostatischer Hypotonie oder einem Alter über 85Jahre kann eine Monotherapie erwogen werden (Abb. 1).1
Abb. 1: Praktischer ESC-Algorithmus zur pharmakologischen Blutdrucksenkung (modifiziert nach McEvoy JW et al. 2024)1
Wenn der BD trotz maximaler Dreifachtherapie (ACE-Hemmer/ARB, Kalziumantagonist und Diuretikum) nicht kontrolliert werden kann, gilt der Patient als resistent und sollte nach Ausschluss einer Pseudoresistenz (z.B. mangelnde Compliance, Einnahme blutdrucksteigender Medikamente) an ein spezialisiertes Zentrum zur Abklärung einer sekundären Hypertonie überwiesen werden. Spironolacton sollte als vierte Therapieoption für echte therapieresistente Hypertoniker erwogen werden, da in dieser Patient:innengruppe oftmals ein Hyperaldosteronismus als zentraler pathophysiologischer Mechanismus vorliegt.5 Wenn Spironolacton nicht verträglich ist, kommt Eplerenon infrage. Falls notwendig, können in weiteren Schritten Betablocker, andere Diuretika, zentral wirkende Medikamente oder Alphablocker verwendet werden. Minoxidil sollte aufgrund des Nebenwirkungsprofils nur in Erwägung gezogen werden, wenn alle anderen Optionen bei resistenter Hypertonie unwirksam sind.
Diverse interventionelle Therapien wurden bereits bezüglich antihypertensiver Therapie untersucht. Die katheterbasierte renale Denervation hat in mehreren randomisierten, „sham“-kontrollierten (doppelblinden,placebokontrollierten, randomisierten) Studien eine anhaltende blutdrucksenkende Wirkung gezeigt. Sie steht ausgewählten Patient:innen zur Verfügung und gilt bei einem breiten Spektrum an Betroffenen als effektiv, einschließlich bei resistenter Hypertonie. Andere Verfahren befinden sich noch in der Erprobung und werden für den routinemäßigen klinischen Einsatz aktuell nicht empfohlen.
Blutdruckziele
Das Therapieziel liegt generell bei 120–129/70–79mmHg systolisch/diastolisch, vorausgesetzt die Therapie wird gut vertragen (Tab.1).1 Dieses im Vergleich zu vorausgegangenen Leitlinien aggressivere Behandlungsziel basiert auf Daten aus randomisiert kontrollierten Studien sowie Metaanalysen, die zeigen, dass eine intensivere Blutdrucksenkung <130mmHg systolisch kardiovaskuläre Ereignisse bis zum Alter von 85 Jahren reduzieren kann.6 Obwohl 120/70mmHg aus epidemiologischer Sicht als optimal hinsichtlich Reduzierung des kardiovaskulären Risikos gilt, wurde ein flexibler Zielbereich gewählt, um auf Bedürfnisse von Patient:innen und Ärzt:innen im klinischen Alltag einzugehen (u.a. um die Gefahr von Nebenwirkungen zu reduzieren oder weilroutinemäßig gemessene Werte oft höher sind als unter Studienbedingungen).
In Fällen, in denen die blutdrucksenkende Therapie schlecht toleriert wird und ein systolischer Zielwert von 120–129mmHg nicht erreicht werden kann, wird empfohlen, ein systolisches Blutdruckniveau nach dem ALARA-Prinzip („as low as reasonably achievable“ – anders gesagt: „so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar“) anzustreben. Da der kardiovaskuläre Nutzen dieses Behandlungsziels möglicherweise nicht für alle Patient:innengruppen gleichermaßen gilt, sollten individualisierte, großzügigere Zielwerte (z.B. <140mmHg systolisch) in bestimmten Situationen erwogen werden. Diese umfassen Patient:innen mit einem Alter von ≥85 Jahren, erhöhter „frailty“, Lebenserwartung <3 Jahren und/oder vorbestehender symptomatischer orthostatischer Hypotonie.
Praxistipp
Ein Screening mittels Labordiagnostik inkl. Blut- und Harnuntersuchung, EKG sowie Echokardiografie sollte bei erhöhten Blutdruckwerten frühzeitig durchgeführt werden, um Personen zu identifizieren, die ab einem BD von > 130/ 80 mmHg von einer medikamentösen Intervention profitieren.Die Evidenzbasis für ein spezifisches Ziel zur Senkung des diastolischen Blutdrucks ist schwächer ausgeprägt, vor allem bei Personen, die bereits auf ein systolisches Ziel von 120–129mmHg eingestellt sind. Zwar erreichen die meisten Erwachsenen, die diesen systolischen Bereich haben, auch einen diastolischen Blutdruck von 70–79mmHg, jedoch trifft dies nicht auf alle zu. Allgemein weisen Personen mit kontrolliertem systolischem Blutdruck ein geringes relatives Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen auf, selbst wenn ihr diastolischer Wert zwischen 70 und90mmHg liegt.
Allerdings wird aufgrund des erhöhten kardiovaskulären Risikos bei einer isolierten diastolischen Hypertonie insbesondere bei jüngeren Erwachsenen als Behandlungsziel ein BD von 70–79mmHg empfohlen, sofern die Patient:innen bereits den systolischen Zielbereich von 120–129mmHg erreicht haben.
Literatur:
1 McEvoy JW et al.: 2024 ESC Guidelines for the management of elevated blood pressure and hypertension. Eur Heart J 2024; 45(38): 3912-4018 2 SCORE2 working group and ESC Cardiovascular risk collaboration: SCORE2 risk prediction algorithms: new models to estimate 10-year risk of cardiovascular disease in Europe. Eur Heart J 2021; 42(25): 2439-54 3 Garcia-Lunar I et al.: Effects of a comprehensive lifestyle intervention on cardiovascular health: the TANSNIP-PESA trial. Eur Heart J 2022; 43(38): 3732-45 4 Maqsood MH et al.: Timing of antihypertensive drug therapy: a systematic review and meta-analysis of randomized clinical trials. Hypertension 2023; 80(7): 1544-54 5 Patil S et al.: Primary aldosteronism and ischemic heart disease. Front Cardiovasc Med 2022; 9: 882330 6 Rahimi K et al.: Pharmacological blood pressure lowering for primary and secondary prevention of cardiovascular disease across different levels of blood pressure: an individual participant-level data meta-analysis. Lancet 2021; 397(10285): 1625-36
Das könnte Sie auch interessieren:
ESC-Guideline zur Behandlung von Herzvitien bei Erwachsenen
Kinder, die mit kongenitalen Herzvitien geboren werden, erreichen mittlerweile zu mehr 90% das Erwachsenenalter. Mit dem Update ihrer Leitlinie zum Management kongenitaler Vitien bei ...
ESC gibt umfassende Empfehlung für den Sport
Seit wenigen Tagen ist die erste Leitlinie der ESC zu den Themen Sportkardiologie und Training für Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen verfügbar. Sie empfiehlt Training für ...
Der „Trailrun“-Boom: Großevents unter extremen Wetterbedingungen
Extreme Umweltbedingungen erfordern maximale medizinische Vorbereitungen bei Sportgroßevents. Der Hitzekollaps im Rahmen von Sportbewerben ist dadurch nicht nur bei extremer Hitze ein ...