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Historie der Harnableitung

Supravesikale Harnableitung: wichtige Entwicklungsschritte und historischer Blick aus Österreich

In der vorliegenden Arbeit versuchen die Autoren, eine kompakte Übersicht über die Entwicklung der Harnableitung zu geben. Dabei soll insbesondere auf bedeutende Arbeiten aus Österreich verwiesen werden, die in der Erinnerungskultur operativer Techniken in der Urologie in Vergessenheit geraten sind.

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Keypoints

  • Österreich hat wichtige historische Vertreter der Harnableitung hervorgebracht.

  • Auf die rektale Harnableitungen folgten in den 80er-Jahren zunehmend inkontinente und kontinente Varianten wie bspw. der orthotope Blasenersatz.

Eine umfassende Wissenschafts-, Kultur- und Patientengeschichte der Harnableitung ist bisher noch nicht verfasst worden. In der wissenschaftshistorischen medizinischen Literatur gibt es bisher nur einzelne Übersichtsarbeiten,die sich meist mit der Entwicklung von Operationstechniken in diesem Bereich befassen.1–5 Im Fokus stehen dabei vor allem urologische Grunderkrankungen wie Blasenextrophie, Blasentuberkulose, fortgeschrittene Blasenfunktionsstörungen und insbesondere das Blasenkarzinom. Auch gynäkologische Tumoren und Patienten nach Strahlentherapie werden unter dem Stichwort Harnableitung berücksichtigt. Diese Arbeiten stammen in der Regel von Urologen oder Chirurgen, die aus bestehenden Entwicklungen ihre eigenen Modifikationen ableiten oder im Rahmen eines Reviewsder Literatur bestimmte Verfahren oder Modifikationen im Kontext einer rein operativen Technikgeschichte und ihrer jeweiligen Modeerscheinungen analysieren.6–9 Es beginnt erst langsameine wissenschaftshistorische Aufarbeitung.10Richard Hautmann wies kürzlich erst auf eine Verwirrung bei der Begriffsbestimmung von orthotopen Ersatzblasen hin.11,12

Wichtige historische Vertreter

Es gilt als gesichert, dass John Simon (1816–1904) aus London der Erste war, der 1851 versuchte, eine Urinableitung in den Darmbei einem 13-jährigen Jungen durchzuführen.13 Er kam auf diese Form der Harnableitung, nachdem er beobachtet hatte, dass Patienten nach einer Lithotomie mit Fistelbildung teilweise den Urinabgang mithilfe des Analsphinkters kontrollieren konnten.

Thomas Smith berichtete 1878 über die erste direkte Harnleiter-Darm-Implantation bei einem siebenjährigen Jungen,der jedoch an Urämie verstarb.14 Da sich die Antisepsis und eine wirksame Antibiotikatherapie erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten, waren damals solch große Operationen stets mit einer hohen Komplikations- und Mortalitätsrate verbunden. Dennoch profitierten die Urologen damals noch von der retroperitonealen Lage der Blase. Für die frühen Chirurgen war die Machbarkeit des Eingriffs entscheidend.

Tizzoni und Foggi aus Bologna zeigten 1888 im Tierexperiment erstmals, dass die Blase durch ein Stück Darmsegment ersetzt werden kann.15

Zwischen 1895 und 1905 erschienen bedeutende Arbeiten von in Wien ausgebildeten Chirurgen wie Carl Maydl (1853–1903, 1. Chirurgische Lehrkanzel, später Prag; Abb.1a; Blasenextrophie) und Robert Gersuny (1844–1924, Rudolfinerhaus, Wien; Abb. 1b).16,17 Maydl erkannte als Erster den Vorteil einer antirefluxiven Implantation in den Darm bei der rektalen Ableitung, um Infektionen zu reduzieren. Gersuny nutzte das isolierte Rektum als Urinreservoir und zog das Sigma durch den Analsphinkter hindurch. Durch diese Technik konnte er ein kontinentales Harnreservoir schaffen, ohne die Nachteile einer Kolostomie in Kauf nehmen zu müssen.

© Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria und Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V.

Abb. 1a: Carl (Karel) Maydl (1853–1903)

© Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria und Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V.

Abb. 1b: Robert Gersuny (1844–1924)

Diese Publikationen sind im Kontext einer intensiven Forschungsaktivität zur Harnableitung an der Wende zum 20. Jahrhundert zu verstehen, die insbesondere im französischen Raum stattfand und sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg in die USA verlagerte.16–19 In Frankreich nutzte Lemoine 1913 eine frühe Form der Neoblase, indem er das isolierte Rektum an die Urethra anschloss. Der Patient verstarb jedoch an einer Pyelonephritis.20

Tab. 1: Historische Auswahl über die Ureterosigmoidostomie

Tab. 2: Historische Auswahlüber die kontinenten Reservoire des Rektosigmoids

Karl (Karel) Pawlik (1849–1914; Abb. 2), ein Schüler Theodor Billroths (1829–1894), war während seiner Tätigkeit in Prag der Erste, der 1889 eine erfolgreiche Zystektomie mit Harnableitung durchführte.21 Dies gelang ihm, nachdem Bernhard Bardenheuer (1839–1913)in Köln bereits die erste Zystektomie durchgeführt hatte, allerdings aufgrund der schwierigen Operationssituation die Harnleiter zunächst unversorgt lassen musste.22–24 Pawlik berichtete 1890 vor dem Auditorium des internationalen Ärztekongresses in Berlin über diesen Fall wie folgt:„… nach den bisherigen an der Frau gemachten Beobachtungen ist es sehr wahrscheinlich, dass die neu gebildete Blase genügende Kontinenz besitzen wird. Ebenfalls ist es im höchsten Grade zufriedenstellend, dass die Frau, der vor einem Jahr der baldige Tod infolge des Zottenkrebses der Blase drohte, jetzt im Stande war, die Reise nach Berlin zu unternehmen und dort die ganzen Tage der Besichtigung der Grossstadt zu widmen.“

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Abb. 2: Karel Pawlik (1849–1914), später in Prag, und Ausriss des Autoreferats 1891 in derWiener Medizinischen Wochenschrift

Weiterer Verlauf

Tab. 3:Auswahlüber Arbeiten zur Neoblase

Im historischen Verlauf wurden die Ende des 19. Jahrhunderts in der klinischen Routine etablierten rektalen Harnableitungen in den folgenden 80 Jahren zunehmend von den inkontinenten Conduits abgelöst. Ab Mitte der 1990er-Jahre setzte sich dann der Konsens durch, einen orthotopen Blasenersatz als primäre Form der Harnableitung für geeignete Patienten zu empfehlen.

In den 1950er- und 1960er-Jahren war es unter anderem Richard Übelhör (1901–1977; Abb.3a) in Österreich, der international über eine größere Zahl von Ureterosigmoidostomien mit wechselndem Erfolg berichten konnte.25,26

Bemerkenswerterweise erfolgte diese Publikation noch vor seiner Berufung zum Chefarzt der urologischen Klinik an der Universität am AKH, ausgehend von seiner Position als Chefarzt in Lainz, was ihn sicherlich als würdig für eine solche Position auszeichnete. Dass das Thema zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum aktuell war, zeigen exemplarisch die Arbeiten von Martin Stolze (1900–1989) in Halle, der seit 1958 dort Ordinarius für Urologie am ersten Lehrstuhl der DDR war und die Arbeit seines Onkels Otto Kneise (1875–1953) an der Klinik Weidenplan weiterführte, sowie von Werner Staehler (1908–1984) in Tübingen. Diese Forscher wählten immer noch chirurgische Fachzeitschriften zur Publikation dieser großen urologischen Eingriffe, um die urologische Expertise bei Darmeingriffen im Abgrenzungsprozess der beiden Fächer, der fachpolitisch zu dieser Zeit hochaktuell war, besonders hervorzuheben.

© Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V

Abb. 3a: Richard Übelhör (1901–1977)

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Abb. 3b: Josef (Sepp) Rummelhardt (1919–1987)

Auch Sepp Rummelhardt (1919–1987; Abb. 3b), der die Nachfolge Richard Übelhörs am KH Wien-Lainz (der „größten urologischen Abteilung in Wien“ laut Zeitzeugen von 1958) antrat und später 1974 an der Universität, äußerte sich bereits 1955 dazu. Ebenso trugen der Meinungsbildner der deutschsprachigen Urologie jener Zeit, Hans Boeminghaus (1893–1979) in Düsseldorf, Michael Marberger (geb. 1942) sowie Rudolf Hohenfellner (geb. 1928) maßgeblich zu dieser Diskussion bei. Sie konnten die von Willard Goodwin (1915–1998) an der UCLA in Los Angeles 1953 beschriebene Technik weiter optimieren und trugen so zur weiteren Reduzierung der postoperativen Pyelonephritis bei, was die Methode in Europa weiter propagierte.

Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek, des Bildarchiv Austria sowie des Museums der Deutschen Gesellschaft für Urologie.

1 Kindler K, Contzen K: Die Harnleiter-Darm-Anastomosen. Ergeb Chir Orthop 1959; 42: 80-123 2 Pannek J: Supravesikale Harnableitung. Entwicklung und Ausblick. Der Urologe B 1998; 38: 543-9 3 Hauri D: Rekonstruktive Urologie historische Übersicht. J Urol Urogyn 2005; 12(4): 6-16 4 Pannek J, Senge J: History of urinary diversion. Urol Int 1998; 60(1): 1-10 5 Basic DT et al.: The history of urinary diversion. Acta Chir Iugosl 2007; 54(4): 9-17 6 Thüroff JW: Probleme der Harnableitung. Urologe 2012; 51(4): 471-2 7 Studer UE: Landmarks in history of continent urinary diversion in keys to successful orthotopic bladder substitution. Springer, 2014. 53-61 8 Studer UE et al.: Historical aspects of continent urinary diversion. Probl Urol 1991; 5(2): 197-202 9 Hautmann R et al.: The evolution of orthotopic bladder substitution: faults and fixes. Clin Oncol Urol 2022; 7: 1938 10 Moll F, Rathert P: Bladder cancer and replacement. Erschienen in: Europe. The cradle of urology. 1. Auflage. History Office of the European Urological Association 2010. 200-3 11 Hautmann R: Rückblick und Bewertung der Ileum-Neoblase. Uro News 2022; 26(25): 25 12 Moll F, Hautmann R: The etymology of neobladder. J Urol 2023; 209(4): e260 13 Simon J: Ectopia vesicae absence of the anterior walls of the bladder and pubic abdominal parieties: operation for directing the orifices of the ureters into the rectum, temporary success, subsequent death, autopsy. Lancet 1852: 568-70 14 Smith T: An account of an unsuccessful attempt to treat extroversion of the bladder by a new operation. St Bart Hosp Rep 1879; 15: 29-35 15 Tizzoni G, Foggi A:Die Wiederherstellung der Harnblase. Zentralbl Chir 1888; 15: 931-24 16 Maydl K: Über die Radikaltherapie der Ectopia vesicae urinariae. Wien Med Wschr 1894; 44: 25-9 17 Gersuny R: Offizielles Protokoll der KK-Gesellschaft in Wien. Wien Klin Wochenschr 1898; 11: 990 18 Mauclaire P: De quelques essais de chirurgie expérimentale applicables au traitement (a) de l’exstrophie de la vessie; (b) des abouchements anormaux du rectum; (c) des anus contre nature complexes. 9ème Congr franç Chir 1895: 546 19 Heitz-Boyer M, Hovelacque A: Création d’une nouvelle vessie et d’un nouvel urètre. J Urol (Paris) 1912; 18: 237 20 Lemoine G: Creation d’une vessie nouvelle par un procede personnel apres cystectomie total pour cancer. J Urol (Paris) 1913; 4: 367-72 21 Pawlik K: Über Blasenextirpation. Wien Med Wochenschr 1891; 41(45): 1814-6 22 Moll F et al.: Bernhard Bardenheuers contribution to the development of modern urology. J Med Biogr 1998; 6(1): 11-4 23 Moll F: Frühe uro-chirurgische Operationen im Rheinland und die Etablierung der Zystoskopie. Urologie im Rheinland 2015: 75-96 24 Pawlick K: Ueber Blasenextirpation: Vorstellung der operierten Frau. Wien Med Wochenschr 1891; 14: 1814 25 Übelhör R: Die Darmblase. Langenbecks Arch Klin Chir Ver Dtsch Z Chir 1952; 271(3): 202-10 26 Übelhör R: Die Einpflanzung der Harnleiter in den nicht ausgeschalteten Dickdarm. Ein Rückblick auf 158 Operierte. Langenb Arch Klin Chir 1962; 299: 525-40

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