© Miriam Mehlman

Gemeinsam durch den Dschungel

„Belastete Ohren hören weniger als unbelastete“

Vielen, die eine lebensverändernde Diagnose erhalten, zieht es den Boden unter den Füßen weg. Eine solche Erkrankung bringt eine Flut an Informationen und Fachbegriffen, Einschnitte im beruflichen und privaten Leben, Ziele, die plötzlich obsolet sind, und neue Pläne, die erst erarbeitet werden müssen. Psychosoziales Case Management kann hier durch den emotionalen und behördlichen Dschungel führen und helfen, in stürmischen Zeiten die Balance zu bewahren.

Wie grenzt sich psychosoziales Case Management von anderen ähnlichen Angeboten ab?

B. Klepp: In vielen oder den meisten Kliniken und medizinischen Einrichtungen wird ein Entlassungsmanagement angeboten. Manchmal wird dies auch oft als Case Management bezeichnet, es umfasst allerdings nur die Entlassung, also den geordneten Übergang von der stationären Aufnahme in das eigene Heim oder eine Pflegeeinrichtung. Dort übernimmt dann jemand anderer – oder auch nicht. Warum sage ich: „oder auch nicht“? Weil natürlich auch viele der Pflege- und Hauskrankenpflegeorganisationen den Begriff des Case Managements für sich beanspruchen. Meist beschränkt sich dieses aber auf einzelne Tätigkeiten wie beispielsweise das Besorgen von Rezepten, Medikamenten oder Verbandsmaterial. Im Vergleich zum umfassenden Case Management gibt es dabei meist aber keine Feedbackschleife zur Evaluation und Anpassung der gesetzten Aktionen.

Psychosoziales Case Management ist wirklich allumfassend. Man organisiert und implementiert von Fall zu Fall genau das, was es braucht. Dabei ist es egal, ob es sich um eine Leistung aus dem Gesundheitssystem, dem Sozialsystem oder eine andere Leistung handelt. Ich begleite die Patienten außerdem auch über diese Schnittstelle intra-/extramural hinweg. Wenn Patienten immer wieder zwischen beiden wechseln, bin ich sozusagen die Konstante über die Zeit. Was psychosoziales Case Management außerdem von anderen Angeboten unterscheidet, ist, dass psychosoziale Beratung und Case Management aus einer Hand kommen.

Warum ist das wichtig?

B. Klepp: Nun, Patienten mit einer lebensverändernden Diagnose sehen sich ohnehin schon mit zahlreichen Terminen, bei vielen verschiedenen Institutionen konfrontiert. Manche können damit umgehen und sich selbst organisieren. Die meisten aber sind so belastet, dass es ihnen auch zu viel werden kann. Bei der Case Managerin laufen in diesem Fall alle Fäden zusammen. Ich sehe mich als Lotsin durch das Gesundheits- und Sozialsystem UND als mentale Begleiterin durch die Erkrankung.

Sie begleiten Menschen mit lebensverändernden Diagnosen – ein weit gefasster Begriff. Wo gibt es Limitationen?

B. Klepp: Limitationen sehe ich eigentlich keine. Was „lebensverändernd“ bedeutet, ist sehr individuell. Das kann die Diagnose einer chronischen Erkrankung wie beispielsweise Diabetes sein: Gestern noch gesund, heute ist man plötzlich chronisch krank. Solche Patient:innen lernen jedoch meist über die Zeit, mit ihrer Erkrankung umzugehen, und erreichen eine gewisse Stabilität und Unabhängigkeit.

Auf eine andere Art lebensverändernd sind Diagnosen wie Multiple Sklerose, Demenz, Parkinson oder auch Krebs, wo klar ist, dass die Erkrankung eventuell kontinuierlich fortschreiten und im Extremfall sogar lebensverkürzend sein wird. Hier wird den Patient:innen durch die Diagnose der Boden unter den Füßen weggezogen.

Natürlich gibt es Diagnosen, wo ich mich besser auskenne. Wenn jetzt jemand mit einer wirklich ausgefallenen Erkrankung zu mir kommt, müsste ich anfangen zu recherchieren. Aber wenn man lang im Gesundheitsbereich tätig ist, wird man auch da schneller fündig als ein Laie. Diese Recherche bezieht sich allerdings nur auf das Case Management. Meine Aufgabe ist ja nicht, die Rolle der Ärztin oder Therapeutin zu übernehmen. Ganz im Gegenteil. Ich bin weder Ärztin, Psychiaterin noch Psychologin, kann also auch keine Diagnose oder Differenzialdiagnose stellen.

Folgt das Case Management einem Standardablauf?

B. Klepp: Natürlich gibt es Standards bzw. Behandlungspfade, nach denen Patient:innen betreut werden. Ich glaube allerdings, dass es extrem wichtig ist, sich Zeit zu nehmen und gut hinzuhören, was die Patient:innen wollen und brauchen. Wir alle tendieren dazu, unsere eigenen Bedürfnisse als Norm anzunehmen. Das ist hier nicht zielführend. Patient:innen brauchen Zeit, um selbst draufzukommen: Was ist mir wirklich wichtig? Worum geht es mir eigentlich? Was brauche ich? Was will ich? Was will ich absolut nicht?

Das Ziel für onkologische Patient:innen könnte möglicherweise jede Minute sein, die sie länger leben dürfen. Für andere Patient:innen ist es ein bestimmter Aspekt der Lebensqualität, beispielsweise weiterhin mit dem Hund spazieren gehen zu können.

Sprechen wir hier ausschließlich von Aspekten des Privatlebens oder auch über Klarheit in Bezug auf medizinische Entscheidungen?

B. Klepp: Das betrifft natürlich auch die viel zitierte informierte Entscheidung im Gesundheitssystem. Ich helfe also auch zum Beispiel in der Vor- und Nachbereitung eines Arztgesprächs: Was brauche ich noch an Informationen? Wie entscheide ich, wenn ich Antwort A oder B erhalte? Was will ich, was will ich nicht? Wenn die Patient:innen wissen, was ihnen wichtig ist, können sie viel gezielter fragen.

Und wenn gewünscht, kann ich Patient:innen auch zum Arztgespräch begleiten. Belastete Ohren hören weniger als unbelastete, das ist bekannt. Bei jeder schweren Erkrankung bricht eine Flut an Informationen auf die Patient:innen herein, die nur schwer verarbeitet werden kann. Eine Überforderung in so einer Situation ist verständlich und trotzdem manchmal auch mit Scham besetzt. Es ist unangenehm, dem Arzt oder der Ärztin dieselbe Frage ein zweites oder drittes Mal zu stellen, weil man die Antwort nicht ganz verstanden oder wieder vergessen hat. Hier kann ich als psychosoziale Case Managerin auch Ärzt:innen sehr gut unterstützen. Diese vielen Wiederholungen und Erklärungen, die es manchmal braucht, können an mich ausgelagert werden.

Kommen wir zum Dschungel: Emotionaler und behördlicher Dschungel – gehen diese Hand in Hand?

B. Klepp: Das ist sehr individuell, und ich richte mich immer nach dem, was der/die Klient:in sich wünscht. Es gibt Patient:innen, die nur eine psychosoziale Beratung wollen, es gibt aber auch solche, die nur Case Management in Anspruch nehmen. Und dann gibt es alles dazwischen.

© Miriam Mehlman

Psychosoziales Case Management unterstützt beide Seiten – Patient:innen und Mediziner:innen

Generell arbeite ich in zwei verschiedenen Settings. In einem setze ich mich mit meinem Klienten/meiner Klientin zusammen und wir erarbeiten gemeinsam neue Perspektiven und Ziele. In diesem Setting geht meist um die Bedürfnisse und Wunsche des Klienten/der Klientin. Manchen genügt ein Hinweis, wo welche Informationen und Dienstleistungen zu finden sind oder wo man diesen oder jenen Antrag stellen kann. Die Umsetzung können die Klient:innen selbst vornehmen.

Es gibt aber auch Klient:innen, für die ich die gesamte Organisation übernehme. Das heißt, da wird mir sozusagen ein Auftrag erteilt, Fakten zu recherchieren oder etwas vorzubereiten, das ich dann aufarbeite und in die nächste Stunde mitbringe.

Sind Sie eine One-Woman-Show?

B. Klepp: Ich bin eine One-Woman-Show, aber ich habe Netzwerkpartner:innen. Nach meiner fast 30-jährigen Tätigkeit im Gesundheitsbereich habe ich ein großes Netzwerk an Partner:innen jenseits des Gesundheitsbereichs aufgebaut: ein Rechtsanwalt beispielsweise, weil viele Menschen in der Zeit nach einer schweren Diagnose Sorgen haben, bei denen es um eine Vorsorgevollmacht oder um Finanzen oder Besitz geht. Auch eine Tierärztin zählt zu meinem Netzwerk. Es gibt sehr viele Menschen, für die Haustiere wie Familienmitglieder sind. Da gilt dann die Sorge im Rahmen einer schweren Erkrankung dem Tier und der Frage, wer sich in Zukunft darum kümmern wird.

Wird Case Management zunehmend an Bedeutung gewinnen?

B. Klepp: Davon bin ich überzeugt. Das ist der Veränderung unserer Gesellschaft geschuldet. Kümmern ist noch immer weiblich. Erhält jemand in der Familie eine ernst zu nehmende Diagnose, versucht üblicherweise die Tochter oder Schwiegertochter nach bestem Wissen und Gewissen, neben ihrem Job, ihren Kindern, ihren Hobbys und anderen Verantwortungen, die sie hat, die Betreuung des kranken Familienmitgliedes zu organisieren und im Extremfall selbst zu übernehmen. Was bedeutet das aber für die Familie? Es kommt zur Verknappung von Ressourcen und zu zusätzlicher Belastung und Anspannung. Das Case Management ist ein Service, an das man auslagert, worum sich andere gegen Bezahlung kümmern können. Im Gegenzug erhält man Zeit für etwas, das unbezahlbar ist: Für jemanden da zu sein, ihn/sie zu umarmen und lieb zu haben kann man nicht auslagern.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
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