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Chronischer Schmerz

<p class="article-intro">Schmerz ist ein komplexes bio-psycho-soziales Phänomen, das zum Erfahrungsschatz nahezu jedes Menschen zählt. Jeder Schmerz hinterlässt eine Erlebnisspur, die spätere Schmerzerfahrungen beeinflusst. Die bisherige Dichotomisierung zwischen „körperlichen“ und „seelischen“ Schmerzen kommt zwar dem Bedürfnis nach klar abgrenzbaren klinischen Entitäten nahe, ist jedoch aus der Sicht der modernen klinischen und neurobiologischen Schmerzforschung heute nicht mehr sinnvoll. Anstelle eines „entweder – oder“ steht heute das „sowohl – als auch“ von biologischen und psychosozialen Einflussfaktoren.</p> <p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite37.jpg" alt="" width="1401" height="994" /></p> <div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Unsere gegenw&auml;rtige Auffassung von kompetitiven aszendierenden und deszendierenden Schmerzmodulationsmechanismen l&auml;sst die Schmerzverarbeitung nicht mehr als &bdquo;Alles oder nichts&ldquo;-Vorgang begreifen, sondern als komplexes Geschehen, in das auch steuernd eingegriffen werden kann: Hier &ouml;ffnet sich der Weg zur modernen Schmerztherapie.</li> <li>Die fehlende Ber&uuml;cksichtigung psychosozialer Aspekte bei der Schmerzdiagnostik und Therapieplanung insbesondere bei chronischem Schmerz f&uuml;hrt f&auml;lschlicherweise zu einer einseitig medizinischen Sichtweise von subjektivem Leiden.</li> <li>Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Kommunikation und ihre konstruktive Bew&auml;ltigung folgen in der Regel einigen wenigen Grundmustern. Schmerztherapeutisch T&auml;tigen wird daher empfohlen, sich n&auml;her mit Kommunikationsprozessen in der Arzt-Patienten-Beziehung zu besch&auml;ftigen.</li> </ul> </div> <h2>Bio-psycho-soziales Schmerzmodell</h2> <p>Vermutlich das erste multidimensionale biopsycho-soziale Schmerzmodell ist die Gate-Control-Theorie<sup>1</sup>, in der ein neuronaler Tormechanismus im Hinterhorn (Substantia gelatinosa) des R&uuml;ckenmarks formuliert wurde, der die &Uuml;bertragung einlangender Schmerzimpulse von den peripheren Schmerzbahnen (A-Delta- und C-Fasern) auf Bahnen des R&uuml;ckenmarks steuert. Das ZNS spielt dabei eine umfassende aktive Rolle in der Modulation des nozizeptiven Erregungsmusters durch deszendierende antinozizeptive Kontrollmechanismen. Gro&szlig;e Bedeutung erhielt diese Theorie weiters durch die Ber&uuml;cksichtigung zentralnerv&ouml;ser Netzwerke &ndash; unter anderem subkortikaler Motivations- und Emotionssysteme &ndash; f&uuml;r die Schmerzverarbeitung. Unsere gegenw&auml;rtige Auffassung von kompetitiven aszendierenden und deszendierenden Schmerzmodulationsmechanismen l&auml;sst somit die Schmerzverarbeitung nicht mehr als &bdquo;Alles oder nichts&ldquo;-Vorgang begreifen, sondern als komplexes Geschehen, in das auch steuernd eingegriffen werden kann: Hier &ouml;ffnet sich der Weg zur modernen (pharmakologischen, invasiven oder psychologisch-psychotherapeutischen) Schmerztherapie.</p> <h2>Schmerzentstehung und Schmerzchronifizierung</h2> <p>Akuter Schmerz ist in der Regel kurz andauernd und h&auml;ufig somatisch ausgel&ouml;st. Er hat eine biologische Warnfunktion, indem er auf zugrunde liegende (organ-)pathologische Prozesse hinweist und zu einer unmittelbaren Begrenzung der potenziellen Gewebssch&auml;digung f&uuml;hrt (z.B. Entfernen der Hand von der hei&szlig;en Herdplatte). Gleichzeitig hat akuter Schmerz eine rehabilitative Funktion, indem er (z.B. bei Unf&auml;llen oder Entz&uuml;ndungen) zur Ruhe und Schonung zwingt.<br /> Mit zunehmender Schmerzdauer finden auf somatischer und psychosozialer Ebene Chronifizierungsvorg&auml;nge statt. Der chronische Schmerz &bdquo;verselbstst&auml;ndigt&ldquo; sich zunehmend von seiner urspr&uuml;nglich ausl&ouml;senden Ursache. Er ist nicht mehr Hinweis auf eine zugrunde liegende Verletzung oder Erkrankung, sondern ist selbst zu einer eigenst&auml;ndigen Erkrankung geworden (ab einer Schmerzdauer von mehr als drei Monaten wird von chronischem Schmerz gesprochen). W&auml;hrend bei akuten Schmerzzust&auml;nden h&auml;ufig die somatischen Faktoren eine zentrale Rolle spielen, gewinnen mit der Chronifizierung die psychosozialen Aspekte des Schmerzerlebens und der Schmerzverarbeitung immer mehr an Bedeutung. Bei vielen Betroffenen sind das Ausma&szlig; der erlebten Schmerzen und die subjektive Beeintr&auml;chtigung bzw. Behinderung durch die Schmerzen (&bdquo;pain disability&ldquo;) nicht progressiv linear zum organmedizinischen Befund. Die fehlende Ber&uuml;cksichtigung psychosozialer Aspekte bei der Schmerzdiagnostik und Therapieplanung, insbesondere bei chronischem Schmerz, f&uuml;hrt daher f&auml;lschlicherweise zu einer einseitig medizinischen Sichtweise von subjektivem Leiden.</p> <h2>Bausteine einer multimodalen Schmerztherapie</h2> <p>Ausgehend von einem mehrdimensionalen Schmerzverst&auml;ndnis ist in der Therapie von chronischen Schmerzen auf ganzheitliche, multimodale Behandlungskonzepte zu achten. Zahlreiche Effektivit&auml;tsstudien und Metaanalysen zeigen eine signifikante &Uuml;berlegenheit einer mehrdimensionalen Schmerztherapie gegen&uuml;ber eindimensionalen Behandlungen. Folgende Behandlungsans&auml;tze sind hier ma&szlig;geblich wirksam:<br /> <br /><strong> Medikament&ouml;se Verfahren</strong><br /> Die Grundlagen der medikament&ouml;sen Schmerztherapie leiten sich aus den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Das WHO-Stufenschema hat zu einem strukturierten Einsatz von Analgetika und Koanalgetika (in erster Linie Antidepressiva und Antikonvulsiva) bei chronischen Schmerzen gef&uuml;hrt. Grunds&auml;tzlich werden folgende Gruppen von Analgetika unterschieden:<br /> - Non-Opioid-Analgetika (WHO-Stufe 1): Wirken &uuml;berwiegend peripher (d.h. am Ort der Schmerzentstehung) als Cyclooxigenasehemmer. Zu dieser Gruppe z&auml;hlen die NSAR und Coxibe (COX-2-Hemmer). Die ebenfalls den Non-Opioid-Analgetika zugeordneten Pr&auml;parate Paracetamol und Metamizol haben dagegen einen prim&auml;r zentralnerv&ouml;sen Wirkmechanismus.<br /> - Opioide: Sie wirken &uuml;berwiegend als Agonisten an den &mu;- und/oder &kappa;-Rezeptoren, vorwiegend im ZNS. Es werden schwach wirksame (WHO-Stufe 2, z.B. Tramadol und Codidol) und stark wirksame Opioide (WHO-Stufe 3) unterschieden. In der Schmerztherapie werden Opioide in retardierter Form oral oder transdermal (Fentanyl und Buprenorphin) eingesetzt. Neben den retardierten Formen stehen rasch wirksame, zeitlimitiert wirksame Opioide als sogenannte &bdquo;Rescue&ldquo;-Medikation gegen Schmerzspitzen zur Verf&uuml;gung.<br /> Die klassischen Analgetika haben bei prim&auml;r neuropathischen Schmerzen (diabetische Neuropathie, Post-Zoster-Neuralgie etc.) sowie Schmerzen im Rahmen von psychiatrischen St&ouml;rungen (somatoforme St&ouml;rungen, Fibromyalgiesyndrom, depressive St&ouml;rungen, posttraumatische Belastungsst&ouml;rungen etc.) in der Regel eine geringere antinozizeptive Effektivit&auml;t als Antidepressiva und Antikonvulsiva. Die beiden letzteren Substanzgruppen werden daher in diesen Indikationen als prim&auml;re Schmerztherapie und nicht &ndash; wie im WHO-Stufenplan suggeriert &ndash; als Ko&shy;analgetika empfohlen.<br /> Die analgetische Wirkung der Antidepressiva wird heute als weitgehend unabh&auml;ngig von ihrer antidepressiven Wirkung angesehen. Dual (serotonerg-noradrenerg) wirksame Antidepressiva (Trizyklika, SNRI) zeigen eine bessere analgetische Wirkung als selektive (serotonerge oder noradrenerge) Substanzen. Eine Erkl&auml;rung daf&uuml;r ist die gleichzeitige modulierende Wirkung auf beide Transmittersysteme im Bereich des deszendierenden schmerzhemmenden Systems im R&uuml;ckenmark.<br /> Antikonvulsiva eignen sich aufgrund ihrer membranstabilisierenden Wirkung auch zur Behandlung von prim&auml;r neuropathischen Schmerzen und anderen zentralen Schmerzsyndromen. Sie wirken durch direkte GABAerge Modulation sowie durch Blockade spannungssensitiver Natriumkan&auml;le oder &alpha;2&delta;-Kalziumkan&auml;le.<br /> Weitere Substanzgruppen mit belegter analgetischer Wirkpotenz sind unter anderem (alphabetisch): Capsaicin, Kortikosteroide, Lokalan&auml;sthetika (z.B. Lidocain, auch als Pflaster), Muskelrelaxanzien, NMDA-Rezeptor-Antagonisten, Spasmolytika, Triptane, Ziconitide. Wichtig vor dem Einsatz dieser Substanzgruppen ist die genaue Kenntnis von pathogenetischen Schmerzmechanismen sowie m&ouml;glichen Interaktionseffekten bzw. von Warnhinweisen bei unterschiedlichen Medikamentenkombinationen.<br /> <br /><strong> Klinisch-psychologische und psychotherapeutische Verfahren</strong><br /> Eine Reihe klinisch-psychologischer und psychotherapeutischer Behandlungsans&auml;tze f&uuml;r chronische Schmerzpatienten zeigt eine gute evidenzbasierte Effektivit&auml;t. Das Spektrum der Methoden reicht von klassisch verhaltenstherapeutischen (operanten) Verfahren und kognitiv-behavioralen Ans&auml;tzen &uuml;ber psychodynamisch ausgerichtete Interventionen, hypnotherapeutische Verfahren bis hin zu humanistischen Konzepten.<sup>2, 3</sup><br /> Hauptanliegen der symptombezogenen Interventionen (der sogenannten Schmerz&shy;bew&auml;ltigungsverfahren) ist die F&ouml;rderung der Eigenaktivit&auml;t und Selbstkompetenz der Patienten im Umgang mit den Schmerzen und ihren Folgen, sodass sie nicht passiv leidend und hilflos ihren Schmerzen ausgeliefert sind, sondern aktiv und bewusst in das Schmerzgeschehen eingreifen k&ouml;nnen. Dazu z&auml;hlen auch der gestufte Aktivit&auml;tsaufbau, die Reduktion des Analgetika&uuml;berkonsums sowie eine psychosoziale Rehabilitation und Reintegration mit dem Ziel einer F&ouml;rderung von Lebensqualit&auml;t trotz chronischer Schmerzen.<br /> Daneben bestehen symptom&uuml;bergreifende Interventionen (konfliktzentriert, erlebnisorientiert und interaktionell), die unter dem Begriff &bdquo;Schmerzpsychotherapie&ldquo; bzw. &bdquo;psychologische Schmerztherapie&ldquo; zusammengefasst werden. Insbesondere bei anhaltenden somatoformen Schmerzst&ouml;rungen werden fr&uuml;he schmerzhafte K&ouml;rpererfahrungen in der Kindheit (mangelnde N&auml;he, Zur&uuml;ckweisung, Verletzung, Traumatisierung, k&ouml;rperliche Erkrankung) postuliert, die in Form von dysfunktionalen somatosensorischen Repr&auml;sentationen bzw. K&ouml;rperschemata gespeichert werden.<sup>4</sup> Akute Belastungen (Konflikte, &bdquo;life events&ldquo;, neuerliche traumatische Erfahrungen, schwere k&ouml;rperliche Erkrankungen) aktivieren K&ouml;rpervorg&auml;nge (z.B. Muskelverspannung), die durch selektive Aufmerksamkeitsfokussierung automatisch (intuitiv, unbewusst) mit diesen fr&uuml;heren K&ouml;rperschemata verkn&uuml;pft werden und zum Schmerzerleben f&uuml;hren. In der Folge setzt ein dysfunktionales Krankheitsverhalten mit k&ouml;rperlicher Schonung, Bewegungsvermeidung und verst&auml;rktem Hilfesuchverhalten (&bdquo;doctor shopping&ldquo;) ein, das die Chronifizierung des Schmerzes beg&uuml;nstigt. Die symptom&uuml;bergreifende Schmerzpsychotherapie thematisiert nun schwerpunktm&auml;&szlig;ig diese fr&uuml;hen Affektregulationsst&ouml;rungen bzw. K&ouml;rperbeziehungsst&ouml;rungen, erg&auml;nzt durch biografische Behandlungselemente, wie z.B. Schematherapie oder Traumatherapie.<br /> <br /><strong> K&ouml;rperorientierte und komplement&auml;re Verfahren</strong><br /> Die dritte S&auml;ule der Schmerztherapie ist die physikalische Therapie (Physiotherapie bzw. medizinische Trainingstherapie). Bew&auml;hrt haben sich hierbei folgende Verfahren: Bewegungstherapie und medizinische Trainingstherapie, Massagen, Lymphdrainagen, Medikomechanik, Thermotherapie, Elektrotherapie (z.B. TENS), Ultraschall und radiale Sto&szlig;welle. Erg&auml;nzt werden diese Therapien h&auml;ufig durch komplement&auml;rmedizinische Verfahren, wie beispielsweise Akupunktur, Neuraltherapie oder Hom&ouml;opathie.<br /> <br /><strong> Invasive nichtdestruktive und neurodestruktive Verfahren</strong><br /> Durch die Entwicklung moderner medikament&ouml;ser Verfahren und die Ber&uuml;cksichtigung ganzheitlicher, multimodaler Behandlungskonzepte haben die invasiven Verfahren, wie Sympathicusblockaden und neuromodulative Verfahren, ihren Stellenwert bei spezieller Indikationsstellung. Die neurodestruktiven Verfahren gelten heute vielfach als Randbereiche der medizinischen Schmerztherapie.</p> <h2>Gespr&auml;chsf&uuml;hrung und therapeutische Beziehung</h2> <p>Chronisch Schmerzkranke gelten nicht selten als sogenannte &bdquo;schwierige&ldquo; Patienten. In der Regel haben sie bereits eine lange &bdquo;Patientenkarriere&ldquo; mit zahlreichen Arztbesuchen, unterschiedlichsten diagnostischen Prozeduren und diversen Behandlungsans&auml;tzen durchlaufen. Neben der positiven Erwartung in die Kompetenz der &Auml;rzte &auml;u&szlig;ern viele Betroffene verst&auml;ndliche Zweifel an der Angemessenheit und Effizienz neuer Behandlungsangebote und haben Angst vor Ablehnung und Entwertung (z.B. als &bdquo;Simulant&ldquo;, &bdquo;Rentenneurotiker&ldquo; abgewertet zu werden). Hoffnung und Entt&auml;uschung, Idealisierung und Abwertung wechseln in charakteristischer Weise miteinander ab.<br /> Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Kommunikation und ihre konstruktive Bew&auml;ltigung folgen in der Regel einigen wenigen Grundmustern. Schmerztherapeutisch T&auml;tigen wird empfohlen, sich n&auml;her mit Kommunikationsprozessen in der Arzt-Patienten-Beziehung zu besch&auml;ftigen und spezifische Interventionstechniken (Werkzeuge) zu erlernen, die helfen, das therapeutische B&uuml;ndnis zu verbessern und dadurch &ndash; im Sinne einer positiven Placebowirkung &ndash; das Behandlungsergebnis in der Schmerztherapie ma&szlig;geblich zu beeinflussen.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Melzack R, Wall PD: Pain mechanisms: a new theory. Science 1965; 150: 971-9 <br /><strong>2</strong> Basler et al: Deficits in the psychological care of low back pain patients--comments on the expertise of the expert committee for the health care system regarding low back pain (German). Schmerz 2002; 16: 215-20 <br /><strong>3</strong> Martin A et al: Evidenzbasierte Leitlinie zur Psychotherapie somatoformer St&ouml;rungen und assoziierter Syndrome. G&ouml;ttingen: Hogrefe-Verlag, 2013 <br /><strong>4</strong> Brown RJ: Psychological mechanisms of medically unexplained symptoms: an integrative conceptual model. Psychol Bull 2004; 130: 793-812</p> </div> </p>
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