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Getty Images/iStockphoto
Chronischer Schmerz
Jatros
Autor:
Mag. Carina Asenstorfer
APR – Ambulante psychosoziale Rehabilitation<br> Imbergstraße 31A<br> 5020 Salzburg
Autor:
Prof. Priv.-Doz. Dr. Michael Bach
Korrespondierender Autor<br> E-Mail: michael.bach@promente-reha.at
30
Min. Lesezeit
08.09.2016
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<p class="article-intro">Schmerz ist ein komplexes bio-psycho-soziales Phänomen, das zum Erfahrungsschatz nahezu jedes Menschen zählt. Jeder Schmerz hinterlässt eine Erlebnisspur, die spätere Schmerzerfahrungen beeinflusst. Die bisherige Dichotomisierung zwischen „körperlichen“ und „seelischen“ Schmerzen kommt zwar dem Bedürfnis nach klar abgrenzbaren klinischen Entitäten nahe, ist jedoch aus der Sicht der modernen klinischen und neurobiologischen Schmerzforschung heute nicht mehr sinnvoll. Anstelle eines „entweder – oder“ steht heute das „sowohl – als auch“ von biologischen und psychosozialen Einflussfaktoren.</p>
<p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite37.jpg" alt="" width="1401" height="994" /></p> <div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Unsere gegenwärtige Auffassung von kompetitiven aszendierenden und deszendierenden Schmerzmodulationsmechanismen lässt die Schmerzverarbeitung nicht mehr als „Alles oder nichts“-Vorgang begreifen, sondern als komplexes Geschehen, in das auch steuernd eingegriffen werden kann: Hier öffnet sich der Weg zur modernen Schmerztherapie.</li> <li>Die fehlende Berücksichtigung psychosozialer Aspekte bei der Schmerzdiagnostik und Therapieplanung insbesondere bei chronischem Schmerz führt fälschlicherweise zu einer einseitig medizinischen Sichtweise von subjektivem Leiden.</li> <li>Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Kommunikation und ihre konstruktive Bewältigung folgen in der Regel einigen wenigen Grundmustern. Schmerztherapeutisch Tätigen wird daher empfohlen, sich näher mit Kommunikationsprozessen in der Arzt-Patienten-Beziehung zu beschäftigen.</li> </ul> </div> <h2>Bio-psycho-soziales Schmerzmodell</h2> <p>Vermutlich das erste multidimensionale biopsycho-soziale Schmerzmodell ist die Gate-Control-Theorie<sup>1</sup>, in der ein neuronaler Tormechanismus im Hinterhorn (Substantia gelatinosa) des Rückenmarks formuliert wurde, der die Übertragung einlangender Schmerzimpulse von den peripheren Schmerzbahnen (A-Delta- und C-Fasern) auf Bahnen des Rückenmarks steuert. Das ZNS spielt dabei eine umfassende aktive Rolle in der Modulation des nozizeptiven Erregungsmusters durch deszendierende antinozizeptive Kontrollmechanismen. Große Bedeutung erhielt diese Theorie weiters durch die Berücksichtigung zentralnervöser Netzwerke – unter anderem subkortikaler Motivations- und Emotionssysteme – für die Schmerzverarbeitung. Unsere gegenwärtige Auffassung von kompetitiven aszendierenden und deszendierenden Schmerzmodulationsmechanismen lässt somit die Schmerzverarbeitung nicht mehr als „Alles oder nichts“-Vorgang begreifen, sondern als komplexes Geschehen, in das auch steuernd eingegriffen werden kann: Hier öffnet sich der Weg zur modernen (pharmakologischen, invasiven oder psychologisch-psychotherapeutischen) Schmerztherapie.</p> <h2>Schmerzentstehung und Schmerzchronifizierung</h2> <p>Akuter Schmerz ist in der Regel kurz andauernd und häufig somatisch ausgelöst. Er hat eine biologische Warnfunktion, indem er auf zugrunde liegende (organ-)pathologische Prozesse hinweist und zu einer unmittelbaren Begrenzung der potenziellen Gewebsschädigung führt (z.B. Entfernen der Hand von der heißen Herdplatte). Gleichzeitig hat akuter Schmerz eine rehabilitative Funktion, indem er (z.B. bei Unfällen oder Entzündungen) zur Ruhe und Schonung zwingt.<br /> Mit zunehmender Schmerzdauer finden auf somatischer und psychosozialer Ebene Chronifizierungsvorgänge statt. Der chronische Schmerz „verselbstständigt“ sich zunehmend von seiner ursprünglich auslösenden Ursache. Er ist nicht mehr Hinweis auf eine zugrunde liegende Verletzung oder Erkrankung, sondern ist selbst zu einer eigenständigen Erkrankung geworden (ab einer Schmerzdauer von mehr als drei Monaten wird von chronischem Schmerz gesprochen). Während bei akuten Schmerzzuständen häufig die somatischen Faktoren eine zentrale Rolle spielen, gewinnen mit der Chronifizierung die psychosozialen Aspekte des Schmerzerlebens und der Schmerzverarbeitung immer mehr an Bedeutung. Bei vielen Betroffenen sind das Ausmaß der erlebten Schmerzen und die subjektive Beeinträchtigung bzw. Behinderung durch die Schmerzen („pain disability“) nicht progressiv linear zum organmedizinischen Befund. Die fehlende Berücksichtigung psychosozialer Aspekte bei der Schmerzdiagnostik und Therapieplanung, insbesondere bei chronischem Schmerz, führt daher fälschlicherweise zu einer einseitig medizinischen Sichtweise von subjektivem Leiden.</p> <h2>Bausteine einer multimodalen Schmerztherapie</h2> <p>Ausgehend von einem mehrdimensionalen Schmerzverständnis ist in der Therapie von chronischen Schmerzen auf ganzheitliche, multimodale Behandlungskonzepte zu achten. Zahlreiche Effektivitätsstudien und Metaanalysen zeigen eine signifikante Überlegenheit einer mehrdimensionalen Schmerztherapie gegenüber eindimensionalen Behandlungen. Folgende Behandlungsansätze sind hier maßgeblich wirksam:<br /> <br /><strong> Medikamentöse Verfahren</strong><br /> Die Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie leiten sich aus den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Das WHO-Stufenschema hat zu einem strukturierten Einsatz von Analgetika und Koanalgetika (in erster Linie Antidepressiva und Antikonvulsiva) bei chronischen Schmerzen geführt. Grundsätzlich werden folgende Gruppen von Analgetika unterschieden:<br /> - Non-Opioid-Analgetika (WHO-Stufe 1): Wirken überwiegend peripher (d.h. am Ort der Schmerzentstehung) als Cyclooxigenasehemmer. Zu dieser Gruppe zählen die NSAR und Coxibe (COX-2-Hemmer). Die ebenfalls den Non-Opioid-Analgetika zugeordneten Präparate Paracetamol und Metamizol haben dagegen einen primär zentralnervösen Wirkmechanismus.<br /> - Opioide: Sie wirken überwiegend als Agonisten an den μ- und/oder κ-Rezeptoren, vorwiegend im ZNS. Es werden schwach wirksame (WHO-Stufe 2, z.B. Tramadol und Codidol) und stark wirksame Opioide (WHO-Stufe 3) unterschieden. In der Schmerztherapie werden Opioide in retardierter Form oral oder transdermal (Fentanyl und Buprenorphin) eingesetzt. Neben den retardierten Formen stehen rasch wirksame, zeitlimitiert wirksame Opioide als sogenannte „Rescue“-Medikation gegen Schmerzspitzen zur Verfügung.<br /> Die klassischen Analgetika haben bei primär neuropathischen Schmerzen (diabetische Neuropathie, Post-Zoster-Neuralgie etc.) sowie Schmerzen im Rahmen von psychiatrischen Störungen (somatoforme Störungen, Fibromyalgiesyndrom, depressive Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen etc.) in der Regel eine geringere antinozizeptive Effektivität als Antidepressiva und Antikonvulsiva. Die beiden letzteren Substanzgruppen werden daher in diesen Indikationen als primäre Schmerztherapie und nicht – wie im WHO-Stufenplan suggeriert – als Ko­analgetika empfohlen.<br /> Die analgetische Wirkung der Antidepressiva wird heute als weitgehend unabhängig von ihrer antidepressiven Wirkung angesehen. Dual (serotonerg-noradrenerg) wirksame Antidepressiva (Trizyklika, SNRI) zeigen eine bessere analgetische Wirkung als selektive (serotonerge oder noradrenerge) Substanzen. Eine Erklärung dafür ist die gleichzeitige modulierende Wirkung auf beide Transmittersysteme im Bereich des deszendierenden schmerzhemmenden Systems im Rückenmark.<br /> Antikonvulsiva eignen sich aufgrund ihrer membranstabilisierenden Wirkung auch zur Behandlung von primär neuropathischen Schmerzen und anderen zentralen Schmerzsyndromen. Sie wirken durch direkte GABAerge Modulation sowie durch Blockade spannungssensitiver Natriumkanäle oder α2δ-Kalziumkanäle.<br /> Weitere Substanzgruppen mit belegter analgetischer Wirkpotenz sind unter anderem (alphabetisch): Capsaicin, Kortikosteroide, Lokalanästhetika (z.B. Lidocain, auch als Pflaster), Muskelrelaxanzien, NMDA-Rezeptor-Antagonisten, Spasmolytika, Triptane, Ziconitide. Wichtig vor dem Einsatz dieser Substanzgruppen ist die genaue Kenntnis von pathogenetischen Schmerzmechanismen sowie möglichen Interaktionseffekten bzw. von Warnhinweisen bei unterschiedlichen Medikamentenkombinationen.<br /> <br /><strong> Klinisch-psychologische und psychotherapeutische Verfahren</strong><br /> Eine Reihe klinisch-psychologischer und psychotherapeutischer Behandlungsansätze für chronische Schmerzpatienten zeigt eine gute evidenzbasierte Effektivität. Das Spektrum der Methoden reicht von klassisch verhaltenstherapeutischen (operanten) Verfahren und kognitiv-behavioralen Ansätzen über psychodynamisch ausgerichtete Interventionen, hypnotherapeutische Verfahren bis hin zu humanistischen Konzepten.<sup>2, 3</sup><br /> Hauptanliegen der symptombezogenen Interventionen (der sogenannten Schmerz­bewältigungsverfahren) ist die Förderung der Eigenaktivität und Selbstkompetenz der Patienten im Umgang mit den Schmerzen und ihren Folgen, sodass sie nicht passiv leidend und hilflos ihren Schmerzen ausgeliefert sind, sondern aktiv und bewusst in das Schmerzgeschehen eingreifen können. Dazu zählen auch der gestufte Aktivitätsaufbau, die Reduktion des Analgetikaüberkonsums sowie eine psychosoziale Rehabilitation und Reintegration mit dem Ziel einer Förderung von Lebensqualität trotz chronischer Schmerzen.<br /> Daneben bestehen symptomübergreifende Interventionen (konfliktzentriert, erlebnisorientiert und interaktionell), die unter dem Begriff „Schmerzpsychotherapie“ bzw. „psychologische Schmerztherapie“ zusammengefasst werden. Insbesondere bei anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen werden frühe schmerzhafte Körpererfahrungen in der Kindheit (mangelnde Nähe, Zurückweisung, Verletzung, Traumatisierung, körperliche Erkrankung) postuliert, die in Form von dysfunktionalen somatosensorischen Repräsentationen bzw. Körperschemata gespeichert werden.<sup>4</sup> Akute Belastungen (Konflikte, „life events“, neuerliche traumatische Erfahrungen, schwere körperliche Erkrankungen) aktivieren Körpervorgänge (z.B. Muskelverspannung), die durch selektive Aufmerksamkeitsfokussierung automatisch (intuitiv, unbewusst) mit diesen früheren Körperschemata verknüpft werden und zum Schmerzerleben führen. In der Folge setzt ein dysfunktionales Krankheitsverhalten mit körperlicher Schonung, Bewegungsvermeidung und verstärktem Hilfesuchverhalten („doctor shopping“) ein, das die Chronifizierung des Schmerzes begünstigt. Die symptomübergreifende Schmerzpsychotherapie thematisiert nun schwerpunktmäßig diese frühen Affektregulationsstörungen bzw. Körperbeziehungsstörungen, ergänzt durch biografische Behandlungselemente, wie z.B. Schematherapie oder Traumatherapie.<br /> <br /><strong> Körperorientierte und komplementäre Verfahren</strong><br /> Die dritte Säule der Schmerztherapie ist die physikalische Therapie (Physiotherapie bzw. medizinische Trainingstherapie). Bewährt haben sich hierbei folgende Verfahren: Bewegungstherapie und medizinische Trainingstherapie, Massagen, Lymphdrainagen, Medikomechanik, Thermotherapie, Elektrotherapie (z.B. TENS), Ultraschall und radiale Stoßwelle. Ergänzt werden diese Therapien häufig durch komplementärmedizinische Verfahren, wie beispielsweise Akupunktur, Neuraltherapie oder Homöopathie.<br /> <br /><strong> Invasive nichtdestruktive und neurodestruktive Verfahren</strong><br /> Durch die Entwicklung moderner medikamentöser Verfahren und die Berücksichtigung ganzheitlicher, multimodaler Behandlungskonzepte haben die invasiven Verfahren, wie Sympathicusblockaden und neuromodulative Verfahren, ihren Stellenwert bei spezieller Indikationsstellung. Die neurodestruktiven Verfahren gelten heute vielfach als Randbereiche der medizinischen Schmerztherapie.</p> <h2>Gesprächsführung und therapeutische Beziehung</h2> <p>Chronisch Schmerzkranke gelten nicht selten als sogenannte „schwierige“ Patienten. In der Regel haben sie bereits eine lange „Patientenkarriere“ mit zahlreichen Arztbesuchen, unterschiedlichsten diagnostischen Prozeduren und diversen Behandlungsansätzen durchlaufen. Neben der positiven Erwartung in die Kompetenz der Ärzte äußern viele Betroffene verständliche Zweifel an der Angemessenheit und Effizienz neuer Behandlungsangebote und haben Angst vor Ablehnung und Entwertung (z.B. als „Simulant“, „Rentenneurotiker“ abgewertet zu werden). Hoffnung und Enttäuschung, Idealisierung und Abwertung wechseln in charakteristischer Weise miteinander ab.<br /> Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Kommunikation und ihre konstruktive Bewältigung folgen in der Regel einigen wenigen Grundmustern. Schmerztherapeutisch Tätigen wird empfohlen, sich näher mit Kommunikationsprozessen in der Arzt-Patienten-Beziehung zu beschäftigen und spezifische Interventionstechniken (Werkzeuge) zu erlernen, die helfen, das therapeutische Bündnis zu verbessern und dadurch – im Sinne einer positiven Placebowirkung – das Behandlungsergebnis in der Schmerztherapie maßgeblich zu beeinflussen.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Melzack R, Wall PD: Pain mechanisms: a new theory. Science 1965; 150: 971-9 <br /><strong>2</strong> Basler et al: Deficits in the psychological care of low back pain patients--comments on the expertise of the expert committee for the health care system regarding low back pain (German). Schmerz 2002; 16: 215-20 <br /><strong>3</strong> Martin A et al: Evidenzbasierte Leitlinie zur Psychotherapie somatoformer Störungen und assoziierter Syndrome. Göttingen: Hogrefe-Verlag, 2013 <br /><strong>4</strong> Brown RJ: Psychological mechanisms of medically unexplained symptoms: an integrative conceptual model. Psychol Bull 2004; 130: 793-812</p>
</div>
</p>
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