
Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose
Bericht: Dr. Felicitas Witte
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Gerade ist die neue Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose (MS) erschienen.1 Als eine der wichtigsten Neuerungen wird der Einsatz von Immuntherapeutika nach Wirkstoffklassen empfohlen. Die Leitlinie ist eine nützliche Hilfe für den praktischen Alltag, vor allem für Kollegen, die mit MS nicht so viel Erfahrung haben.
Die Leitlinie ist eine S2k-Leitlinie. In dieser Form von Leitlinie werden Empfehlungen im Rahmen einer strukturierten Konsensfindung unter neutraler Moderation diskutiert und abgestimmt. Im Leitlinien-Prozess der AWMF ist sie damit auf der zweiten Stufe: Die dritte wäre eine evidenzbasierte S2e-Leitlinie, der eine systematische Recherche, Auswahl und Bewertung der Literatur zugrunde liegen. Die „höchste“ Stufe wäre eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie. Die vorhergehende Leitlinie von 2012 war eine S2e-Leitlinie. Sie sei zwar als solche bezeichnet worden, habe aber formal nicht die Kriterien erfüllt, sagt sagt Prof. Bernhard Hemmer, federführender Autor und Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. „Ziel der neuen Leitlinie war, das aktuelle Wissen zur Diagnostik und Therapie der MS und verwandter Erkrankungen zusammenzufassen.“ Für viele praktische Fragen im Alltag gebe es weiterhin nur wenig oder keine ausreichende Evidenz. „Um auch für diese Situationen handlungsorientierte Empfehlungen geben zu können, haben wir eine konsensbasierte S2k-Leitlinie geschrieben“, sagt Hemmer.
Die Aktualisierung sei notwendig geworden, um die in den vergangenen Jahren gewonnenen Erkenntnisse zu bewerten und Kollegen dabei zu unterstützen, ihre MS-Patienten auf dem aktuellen Stand des Wissens zu behandeln. Abgesehen davon haben die Autoren zwei Krankheitsbilder ausführlich beschrieben – die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und zum ersten Mal die MOG-Ig-assoziierten Erkrankungen –, seltene, aber klinisch relevante Differenzialdianosesn der MS.
Die neue MS-Leitlinie ist in die fünf Kapitel A bis E unterteilt. Im ersten geht es um die Diagnose der MS, um die Therapie des Schubes und um Immuntherapie. Im zweiten werden Indikationen, Nebenwirkungen und weitere Informationen zu den Immuntherapeutika erklärt. Im dritten lässt sich nachlesen, wie in bestimmten Situationen vorzugehen ist, etwa in der Schwangerschaft, bei Kindern oder Jugendlichen. Im vierten Kapitel beschreiben die Autoren, wie MS-typische Symptome behandelt werden, etwa Spastik, Fatigue, Blasen- oder Darmfunktionsstörungen. Im fünften Kapitel geht es um NMOSD und MOG-IgG-assoziierte Krankheiten.

Abb. 1: Veränderungen im Gehirn bei Multipler Sklerose, dargestellt mittels Kernspintomografie.
V. l. n. r.: Konstrastmittelverstärkte Aufnahmen zeigen frische Entzündungsherde (weiße Ringe oder Flecken); T2-gewichtete Aufnahme zeigen Entmarkungsherde um die inneren Hirnwasserräume (helle ovaläre oder runde Strukturen); Vergleich der Entzündungsherde vor und nach einem Schub. Rot markiert sind neu aufgetretene Entzündungsherde und blaue Herde, die sich teilweise wieder zurückgebildet haben
Neueste Diagnosekriterien von 2018
Voraussetzung für die Diagnose ist, dass der Patient Symptome hat und dass sich im ZNS typische Läsionen nachweisen lassen (Abb. 1), entweder in bestimmen Hirnregionen (räumliche Dissemination, „dissemination in space“ = DIS) oder in bestimmter zeitlicher Abfolge (zeitliche Dissemination, „dissemination in time“ = DIT) (Tab. 1, 2). MS ist eine Ausschlussdiagnose, das heißt, man muss sicherstellen, dass sich keine anderen Erklärungen für die Symptome finden lassen. Seit 2001 gibt es die McDonald-Kriterien, mit denen sich die Diagnose ziemlich sicher stellen lässt. Sie basieren vor allem auf definierten Zeichen in der Magnetresonanztomografie (MRT). Die MRT-Kriterien sind mehrfach überarbeitet worden, die aktuellsten stammen von 2018. Gemäß der letzten Version braucht es nicht mehr den MRT-basierten Nachweis der zeitlichen Dissemination, wenn im Liquor oligoklonale Banden nachweisbar sind. Eine schubförmige MS liegt beispielsweise schon dann vor, wenn der Patient nur einen Schub hatte und zusätzlich Kriterien der räumlichen und zeitlichen Dissemination erfüllt sind.

Tab. 1: Kriterien für die Diagnose einer schubförmigen MS
Ein MS-Schub wird standardmäsßig mit Methylprednisolon (MPS) behandelt, obwohl es hierfür nur wenige aussagekräftige Studien gibt. Die Indikation zur MPS-Therapie hängt davon ab, wie schwer der Schub ist, ob der Patient Glukokortikoide verträgt und ob er Kontraindikationen hat. Behandelt wird in der Regel hoch dosiert intravenös mit Methylprednisolon.
Alternativ kommen Tabletten infrage, denn dass die intravenöse Gabe besser ist als die orale, ist nicht belegt. Die Behandlung sollte möglichst rasch nach Beginn der Symptome begonnen werden, als Dosierung werden 5000 bis 1000 mg Methylprednisolon pro Tag über 3–5 Tage empfohlen. Wirkt die Therapie nicht genügend, kann man eine erneute hoch dosierte Behandlung mit 2000 mg pro Tag über 3–5 Tage probieren oder alternativ eine Plasmapherese oder Immunadsorption durchführen.
Hat man bei einem Patienten eine MS oder ein klinisch isoliertes Syndrom diagnostiziert, sollte man eine Immuntherapie beginnen.

Tab. 2: Diagnose einer primär progredienten MS
Geht man von einem milden Verlauf aus, ist in Ausnahmefällen zu vertreten, dass man mit der Immuntherapie unter engmaschiger Überwachung des Verlaufs zunächst noch zuwartet. Es stehen inzwischen einige Immuntherapeutika zur Verfügung, sodass man das Präparat gemäß zu erwartenden Therapieeffekten, der Verträglichkeit und einem individuellen Risiko für Nebenwirkungen anpassen kann. Was selbstverständlich sein sollte, haben die Leitlinienautoren explizit erwähnt – womöglich weil dem Aspekt in der Praxis nicht genügend Zeit gewidmet wird: Vor- und Nachteile einer Immuntherapie sollen mit dem Patienten ausführlich diskutiert werden.
Neu: Behandlung gemäß Wirkstoffklassen
Statt gemäß klassischem Stufenschema vorzugehen, schlagen die Leitlinien-Autoren neu eine Behandlung gemäß Wirkstoffklassen vor (Abb. 2). Immuntherapeutika der Kategorie 1 reduzieren die Schubrate im Vergleich zu Placebo um 30 bis 50%. Hierzu gehören Beta-Interferone einschliesslich Peg-Interferon, Dimethylfumarat, Glatirameroid und Teriflunomid. Präparate der Kategorie 2 (Cladribin, Fingolimod, Ozanimod) reduzieren die Schubrate um 50 bis 60%, diejenigen der Kategorie 3 (Alemtuzumab, CD20-Antikörper, Natalizumab) um mehr als 60% im Vergleich zu Placebo. „Die Einteilung soll als Hilfestellung dienen und reflektiert unsere Erfahrung“, sagt Prof. Hemmer. Es liegen keinen kontrollierten Vergleichsstudien vor, die die Medikamente untereinander vergleichen, und nicht alle Studien stützen diese Einteilung. In der Regel verursachen Immuntherapeutika der Kategorie 1 weniger schwere Nebenwirkungen als die der Kategorien 2 und 3. „Im Alltag kann es aber durchaus sein, dass Patienten Substanzen der Kategorie 1 schlechter vertragen als Substanzen der Gruppen 2 oder 3“, sagt Hemmer. „Man muss daher immer individuell entscheiden, von welchem Präparat der Patient im Einzelfall am meisten profitiert.“

Abb. 2: Therapiealgorithmus bei Ersteinstellung/Eskalation (Quelle: AWMF-Leitlinie)
Die Immuntherapeutika können die MS nicht heilen, aber ihren Verlauf modifizieren. Ob und welche Immuntherapie man einem Patienten empfiehlt, ist immer eine individuelle Abwägung zwischen mutmaßlichem Nutzen und potenziellen Nebenwirkungen beziehungsweise inwiefern die Behandlung den Patienten belastet. Therapienaiven Patienten mit schubförmiger MS sollte man eine Immuntherapie anbieten, wenn anhand der Befunde nicht von einem milden Verlauf auszugehen ist. Sofern kein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf vorliegt, sollte man zu Beginn in der Regel Immuntherapeutika der Kategorie 1 einsetzen, denn diese haben weniger schwerwiegende Nebenwirkungen, was insbesondere für Beta-Interferone und Glatirameroide gilt (Abb. 2). Welches Präparat man auswählt, richtet sich nach den Nebenwirkungen, den Vorlieben des Patienten und seinen Begleitkrankheiten. Ein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf liegt dann vor, wenn der Patient einen sehr schweren ersten Schub erlitten hat oder Zeichen einer Schädigung der Pyramidenbahnen nachweisbar sind. Die MRT alleine – ohne Symptome – reicht nicht aus, um einen wahrscheinlich hochaktiven Verlauf mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen zu definieren. Hat ein therapienaiver Patient einen wahrscheinlich hochaktiven Verlauf, werden sofort Immuntherapeutika der Kategorien 2 oder 3 empfohlen.
In der Leitlinie ist dann im Folgenden detailliert beschrieben, wie man in bestimmten Situationen vorgehen sollte. Zum Beispiel, dass man bei Patienten, die unter einer Therapie mit Immuntherapeutika der Kategorie 1 einen entzündlich aktiven Verlauf entwickeln, je nach Außmaß der Krankheitsaktivität auf Präparate der Kategorie 2 oder 3 wechselt. Oder dass man die primär progrediente MS nur mit CD20-Antikörpern behandeln sollte. Wichtig sei den Autoren gewesen, erzählt Prof. Hemmer, auf Patientenfragen einzugehen – deshalb waren auch Patientenvertreter an der Leitlinie beteiligt. So kann man beispielsweise bei Patienten mit geringer Krankheitsaktivität vor der Immuntherapie, die unter der Therapie mit einem Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 keine Krankheitsaktivität zeigen, nach einem Zeitraum von mindestens fünf Jahren auf Patientenwunsch eine Therapiepause unter engmaschiger Kontrolle erwägen.

Tab. 3: Standardisierte Checkliste zur Symptomabfrage
Unverzichtbarer Therapiebaustein ist die Behandlung von Symptomen. Da Patienten nicht immer spontan über Beschwerden berichten, die sie beeinträchtigen, sollte man gezielt danach fragen. Hier kann eine standardisierte Checkliste helfen (Tab. 3). Auf 41 Seiten haben die Leitlinien-Autoren ausführlich die MS-assoziierten Symptome beschrieben und wie man sie am besten behandelt. Infrage kommt eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten, seien es Medikamente, nichtmedikamentöse Verfahren oder eine palliativmedizinische Versorgung.
Er sei jetzt öfter kritisiert worden, die Leitlinie mute wie ein „Kochbuch“ an und lasse keine Therapiefreiheit, sagt Prof. Hemmer. „Das sehen wir nicht so. Wir haben versucht, anhand konkreter Situationen zu beschreiben, wie man vorgehen kann, vor allem wenn man sich mit MS nicht en detail auskennt. Wir sagen in der Leitlinie aber immer, dass man Spielraum hat und die Therapie individuell anpassen kann. In einem Kochbuch kann ich ja auch aufschreiben, wie man zum Beispiel Pasta mit Bolognese-Sauce koche, aber jeder Koch hat die Freiheit, das Gericht etwas anzupassen, wenn ein Gast kein Fleisch isst.“
Literatur:
1 Hemmer B et al.: Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie, 2021. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 26.06.2021)
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