
Migräne und ihre Varianten im Kindesalter
Autor:
Dr. Christian Rauscher
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde
Uniklinikum Salzburg
E-Mail: C.Rauscher@salk.at
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Laut der Global Burden of Disease 2013 Study gehört Migräne zu den 10 am meisten belastenden Erkrankungen in den 50 bevölkerungsreichsten Ländern. Dieser Beitrag befasst sich im Speziellen mit der kindlichen Migräne.
Keypoints
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Im Unterschied zur Migräne bei Erwachsenen reicht zur Diagnose bereits eine Kopfschmerzdauer von 2 Stunden. Die Migräne im Kindesalter ist meist durch heftigste Kopfschmerzen charakterisiert. Die Schmerzlokalisierung ist bei jüngeren Kindern häufig beidseitig.
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Zyklisches Erbrechen als Differenzialdiagnose zu erwägen erspart den Patienten eine Abklärungsodyssee.
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Angesichts der hohen Prävalenz, des beträchtlichen Leidensdrucks und des herausfordernden Managements ist die Zuweisung an die Kopfschmerzambulanzen der österreichischen pädiatrischen Abteilungen wünschenswert.
Prävalenz und klinisches Erscheinungsbild
Zwei systematische Reviews fanden bei Kindern und Jugendlichen eine Migräneprävalenz von 10,7% bzw. 9,1%, wobei in den Studien zumeist ICHD-I und ICHD-II zugrunde gelegt wurden. In einer Studie von meinungsraum.at im Auftrag von „Initiative Schmerzlos: Kopfschmerzen bei Jugendlichen in Österreich“, berichteten 75% der 14- bis 19-jährigen Österreicher, in den vergangenen 3 Monaten zumindest 1x Kopfschmerz gehabt zu haben, davon 3% täglich, 10% mehrmals pro Woche, mehr als jeder Fünfte 1x pro Woche. 32% können zumindest 1x pro Monat nicht zur Schule oder in die Arbeit gehen, mehr als die Hälfte der Kinder mit Migräne leidet nach 40 Jahren noch oder wieder unter Migräne. Angesichts der hohen Prävalenz, des beträchtlichen Leidensdrucks und des herausfordernden Managements ist die Zuweisung an die Kopfschmerzambulanzen der österreichischen pädiatrischen Abteilungen wünschenswert. Diese sollten auf den Websites besser als bisher ausgewiesen werden.
Die Klinik der pädiatrischen Migräne unterscheidet sich etwas von der Migräne des Erwachsenen. Die Migräne im Kindesalter ist meist durch heftigste Kopfschmerzen charakterisiert. Im Unterschied zur Migräne bei Erwachsenen reicht zur Diagnose bereits eine Kopfschmerzdauer von 2 Stunden, eine unbehandelte Dauer von unter 2 Stunden ist nicht belegt. Die Schmerzlokalisierung ist oft einseitig, bei jüngeren Kindern jedoch häufig beidseitig. Begleiterscheinungen wie Lichtscheu, Lärmempfindlichkeit, unilateraler und pulsierender Kopfschmerz werden bei Kindern und Jugendlichen mit zunehmendem Alter häufig, während Erbrechen immer seltener auftritt. Eine begleitende Photo- und Phonophobie kann bei Kindern gelegentlich nur aus dem Verhalten abgeleitet werden. Die häufigste Aura bei Migränekopfschmerzen des Kindes- und Jugendalters ist von visueller Natur. Häufig findet man bei Kindern auch Symptome einer Migräneattacke in Form von Müdigkeit, Stimmungsschwankungen und Nackensteifigkeit.
Krankheitsbilder der Migräne im Kindesalter
Auch finden sich im Kindesalter Erkrankungen, die in der aktuellen internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) als „episodische Syndrome, die mit einer Migräne einhergehen können“, geführt werden. Abu-Arafeh und Gelfand plädieren in einer rezenten Publikation in „Nature Reviews Neurology“ dafür, die abdominelle Migräne, zyklisches Erbrechen, den benignen paroxysmalen Schwindel des Kindesalters, den benignen paroxysmalen Torticollis und kindliche Koliken unter dem Begriff des „kindlichen Migränesyndroms“ in ICHD zu integrieren: Das Migränesyndrom des Kindesalters stellt eine komplexe genetische Erkrankung mit komplizierter Pathogenese und polymorpher Präsentation dar, der Einschluss der Syndrome, die mit einer Migräne einhergehen können, stimuliert zur Forschung von Genetik, Pathophysiologie und Klinik. Kinder profitieren vom Einschluss in klinische Studien. Die oben angeführten Krankheitsbilder haben eine Prävalenz in pädiatrischer Population von 1,8–4%, bei Patienten mit bekannter Migräne eine von 9,8%.
Abb. 1: Pragmatische Therapie der Migräne im Kindesalter auf Grundlage von Expertenerfahrung (modifiziert nach Ebinger et al. 2009)
Säuglingskoliken
Säuglingskoliken beginnen typischerweise im Alter von 3 Monaten mit plötzlichem Einsetzen von anfallsartigem, untröstlichem Schreien für mehr als 3 Stunden pro Tag und mehr als 3x pro Woche über zumindest 3 Wochen. Der Säugling schreit vor allem am späten Nachmittag und Abend. Diese Symptome enden spontan bis zum Alter von 9 Monaten. Obwohl häufig selbstlimitierend und gutartig löst das Schreien großen Stress bei den Eltern aus und kann zum „shaken baby“ führen. Das Baby in einen dunklen, ruhigen Raum zu bringen und sensorische Stimuli zu minimieren, kann zur Beruhigung des Kindes führen. Studien haben gezeigt, dass Kinder mit Säuglingskoliken später häufig unter Migräne leiden und auch eine positive mütterliche Migräneanamnese haben.
Benigner paroxysmaler Torticollis
Der durchschnittliche Beginn des benignen paroxysmalen Torticollis liegt etwa um den 6. Lebensmonat. Die Erkrankung ist charakterisiert durch eine plötzlich einsetzende Drehung des Kopfes oder Rumpfes für eine Dauer von Minuten bis zu 30 Tagen. Übelkeit, Irritiertheit, Erbrechen, Blässe, Schläfrigkeit, Ataxie, Augenbewegungsstörung, Extremitätendystonien oder Nystagmus können klinische Begleitphänomene darstellen.
Die Häufigkeit der Attacken variiert von 1x pro Woche bis 1x in 5 Monaten mit einem Ende um das 4. Lebensjahr. Zwischen den Attacken sind die Patienten meist unauffällig. Mutationen im CACNA1A-Gen und auch im PRRT2-Gen wurden beschrieben, sodass Kanalerkrankungen als Ursache angenommen werden.
Benigner paroxysmaler Schwindel
Der benigne paroxysmale Schwindel beginnt meist zwischen dem 1. und 4. Lebensjahr. Er ist charakterisiert durch wiederholte Schwindelepisoden mit einer Dauer von Minuten bis Stunden mit spontanem Ende. Er kann mit Nystagmus, Ataxie, Erbrechen, Blässe und Ängstlichkeit einhergehen. Die Episoden enden etwa mit 10–12 Jahren. 21–33% der Kinder entwickeln später eine Migräne.
Zyklisches Erbrechen
Zyklisches Erbrechen kann vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter auftreten. Die Hauptsymptome sind massive Übelkeit und Erbrechen. Das Erbrechen muss zumindest 4x innerhalb 1 Stunde auftreten und kann bis zu 5 Tage andauern. Das Erbrechen kann so heftig sein, dass eine Infusionstherapie nötig wird. An eine mitochondriale Erkrankung oder Fettsäureoxidationsstörung ist zu denken. Die Patienten werden häufig Ärzten verschiedener Disziplinen vorgestellt, die Diagnose wird oft erst nach Jahren gestellt. Die Inzidenzrate liegt zwischen 1,7% und 2,7%. Kinder mit zyklischem Erbrechen zeigen eine individuelle, stereotype Klinik. Eine Änderung derselben sollte zur kritischen Reevaluation führen.
Abdominelle Migräne
Die Prävalenz der abdominellen Migräne bei Kindern im Alter von 5 bis 15 Jahren wird mit ca. 4,1% angenommen. Die abdominelle Migräne ist gekennzeichnet durch Attacken von mäßigen bis schweren periumbilikalen oder schwer lokalisierbaren abdominellen Schmerzen, die mit zwei der folgenden Symptome vergesellschaftet sein müssen: Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Blässe. Die Dauer der Beschwerden wird mit 2 bis 72 Stunden angegeben, verschiedene Behandlungen wie Eliminationsdiät, kognitive Verhaltenstherapie, Pizotifen, Clonidin, Sumatriptan, Valproinsäure, Propranolol oder Cyproheptadin werden beschrieben.
Medikamentenübergebrauchskopfschmerz
Häufige Einnahme von Analgetika kann auch schon im Kindesalter zu Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch führen. Dieser ist definiert als Kopfschmerz von 15Tagen im Monat bei vorbestehender Kopfschmerzerkrankung und einer Therapie mit Triptanen/Opioiden an mehr als 10Tagen bzw. nichtsteroidalen Antirheumatika an mehr als 15 Tagen/Monat über mehr als 3 Monate. Eine amerikanische Studie findet bei 12- bis 17-Jährigen für chronische, tägliche Kopfschmerzen eine Inzidenz von 3,5%, eine Medikamentenübergebrauchsinzidenz von 0,9% und eine chronische Migräneinzidenz von 0,8%. Eine Aufklärung über die Möglichkeit des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes ist eine sinnvolle Prophylaxe.
Therapie
Konsequentes Führen eines Kopfschmerzkalenders über 6 Wochen ist wesentlich zur richtigen Einschätzung des Kopfschmerztyps sowie von wichtigen Auslösern. Diese intensive Auseinandersetzung führt in manchen Fällen bereits zur Besserung und gibt dem Arzt die Möglichkeit, günstige Verhaltensweisen zu besprechen. Als Allgemeinmaßnahmen können bei vielen Kindern und Jugendlichen bereits Reizabschirmung und Schlaf die Migräneattacken gut beherrschen. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, dann ist eine medikamentöse Therapie indiziert. Für das Migränemanagement bei Kindern liegen spezifische gemeinsame Leitlinien der American Academy of Neurology (AAN) und der American Headache Society (AHS) vor. Die AAN und die AHS empfehlen unter anderem als Akutmedikation eine frühzeitige Gabe von Schmerzmedikamenten, initial eine Medikation mit Ibuprofen 10mg/kg. Für Jugendliche empfohlen wird Sumatriptan/Naproxen OC (10/60, 30/180, 85/500), Zolmitriptan NS (5mg), Sumatriptan NS (20mg), Rizatriptan ODT (5–10mg), Almotriptan OT (6,25–12,5mg). Es wird empfohlen, die Eltern entsprechend aufzuklären, dass möglicherweise mehrere Therapieversuche nötig sind, um die wirksamste Medikation für die jeweilige Migräneart zu finden. Manchmal ist auch der Wechsel auf ein anderes Triptan notwendig bzw. eine alternative Applikationsform. Sollte es zu einem guten Ansprechen, aber neuerlicher Attacke innerhalb von 24 Stunden kommen, so kann die Therapie im Rahmen der Tageshöchstdosis wiederholt werden.
Es ist wichtig, die Migräneauslöser zu erkennen und zu ändern, den Lebensstil und die Verhaltensformen entsprechend anzupassen. Eine Prophylaxe sollte diskutiert werden, besonders wenn der Verdacht auf Medikamentenmissbrauch besteht. Die Mindestdauer einer Prophylaxe muss mit zwei Monaten angesetzt werden. Hier zu empfehlen sind Amitriptylin und kognitive Verhaltenstherapie, aber auch Topiramat und Propranolol mit Diskussion der entsprechenden Nebenwirkungen. Regelmäßige Verlaufskontrollen sind notwendig. Die Gruppe um Prof. Heinen in München hat gezeigt, dass der Kopfschmerz auch über Druckpunkte über myofasziale Triggerpunkte im Trapezius-Muskel provoziert werden kann. Der Druck auf Triggerpunkte führte zu anhaltendem Kopfschmerz bei den Patienten, der Kopfschmerz wurde eher ausgelöst bei Patienten über 12 Jahren und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten und unterstreicht das Konzept des trigeminozervikalen Komplexes in der Pathophysiologie der Migräne ( www.moma-migraine.de ).
Derzeit läuft in Deutschland eine Studie, die einen Vergleich zeigt zwischen der Migränetherapie in pädiatrischen Praxen und in interdisziplinären Ambulatorien in sozialpädiatrischen Zentren. Der primäre Endpunkt dieser Studie ist die Anzahl der Kopfschmerztage über 12 Wochen. Die Hypothese besagt, dass in der multimodalen Gruppe eine Reduktion um 2 Tage mehr erreicht wird. Sekundäre Endpunkte sind die Anzahl der Responder (Reduktion der Kopfschmerztage >50%), Kopfschmerzintensität, Anzahl von Schulfehltagen, Anzahl der Tage mit Unterbrechung der Freizeitaktivität, kopfschmerzassoziierte Beeinträchtigung (PedMIDAS), Lebensqualität (KINDL-Fragebogen) sowie die Anzahl der Tage mit Akutmedikation.
Eine Leitlinie zum primären Kopfschmerz im Kindes- und Jugendalter ist derzeit in Arbeit (AWMF-Register-Nr. 022-026).
Literatur:
beim Verfasser
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