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Die Pandemie kein Dauerzustand?

„Unsere Post-Covid-Ambulanz wird nicht ewig bestehen bleiben“

Im März 2020 breitete sich die Covid-Pandemie auch in Österreich aus, bereits ein halbes Jahr später wurden die ersten Fälle von Long Covid bekannt. An vielen Universitätskliniken hat man eigens für diese Patienten Spezialambulanzen eingerichtet, so auch am AKH in Wien. Professor Thomas Berger zieht für uns eine Zwischenbilanz.

Professor Berger, Long Covid ist Dauergast in den Medien, Sie sprechen aber von Post Covid. Wie kommt das?

T. Berger: Der Terminus „Long Covid“ wurde eigentlich von den Betroffenen geprägt. Er basiert auf keiner medizinischen oder Evidenz-basierten Diagnose, daher kann man in der Medizin damit wenig anfangen. Was beschreibt „Long“ überhaupt? Lang anhaltend? Wie lange ist das? Wir Mediziner halten uns daher eher an den Begriff „Post Covid“, denn der sagt aus: Es gab eine Infektion, möglicherweise auch eine Erkrankung und danach gab es anhaltende Beschwerden. Die WHO spricht von Post Covid, wenn die Infektion zumindest drei Monate zurückliegt und es in diesen drei Monaten zumindest zwei Monate lang anhaltende Beschwerden gibt. Das determiniert eindeutig den zeitlichen Zusammenhang der Beschwerden mit einer SARS-CoV-2-Infektion. Und die können dann tatsächlich mit der Infektion zusammenhängen – oder eben auch nicht. Hier zu differenzieren ist sehr wichtig.

Was wird hier differenziert?

T. Berger: Wir unterscheiden vier Fälle: Sind die neurologischen Beschwerden eine Sequela einer SARS-CoV-2-Infektion, ist das meist die gute Seite, denn diese Beschwerden bessern sich von selbst über die Zeit. Im zweiten Fall treten in einem zeitlichen Abstand zu der ursprünglichen Infektion neurologische Symptome auf, die möglicherweise durch Covid bedingt sind. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass dieser Zusammenhang mit der Infektion nicht gegeben ist. Wenn uns beispielsweise Post-Covid-Symptome beschrieben werden, die auf eine Erstmanifestation einer MS hinweisen, dann haben die Beschwerden nichts mit einer Covid-Infektion vor zwei Tagen, drei Wochen oder vier Monaten zu tun, sondern mit dem Beginn einer MS. Die dritte Möglichkeit ist, dass gar kein neurologisches Problem vorliegt. Jemand kann zum Beispiel unter Fatigue leiden, wenn er im Rahmen einer Covid-Infektion eine Pneumonie hatte. Dann geht ihm zwar beim Treppensteigen schnell die Puste aus, aber diese Art von Fatigue ist kein grundlegendes neurologisches Problem, sondern rührt von den Atemproblemen her. Und viertens kann es sein, dass der Zusammenhang mit Covid nicht plausibel ist, weil die Symptomatik nicht passt. Da braucht es dann ein Follow-up und eine breitere Abklärung.

Diese Systematik ist also für die Mediziner sehr wichtig?

T. Berger: Nicht nur für die Mediziner, sondern auch für die Politik. Diese Unklarheiten bezüglich eines Long- oder Post-Covid-Syndroms haben massive sozioökonomische und gesundheitspolitische Auswirkungen. Wenn die Zahlen stimmen würden und 10–30% der Infizierten an Long Covid erkranken, wären das dramatische Dimensionen. Daher war es mir als Leiter einer Universitätsklinik wichtig, dass wir bei uns eine Spezialambulanz installieren, in unserem lokalen Setting eine Systematik etablieren und in Erfahrung bringen, wie die Lage wirklich ist: Welche Beschwerden haben die Menschen, was davon sind wirklich neurologische Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion und wie werden diese Beschwerden optimal therapiert?

Wurde oder wird die Therapielandschaft durch die Pandemie verändert?

T. Berger: Es gibt ja in jeder Krise oder Chance ganz viele Trittbrettfahrer. Auch in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, gibt es Menschen, die finden, wir müssen jetzt neue Strukturen schaffen, Rehazentren einrichten usw. Da bin ich absolut dafür, wenn es die Lage notwendig macht. Patienten, die eine neurologische Symptomatik nach einer SARS-CoV-2-Infektion entwickeln, brauchen die Unterstützung einer neurologischen Rehaeinrichtung. Und wenn die Kapazitäten nicht ausreichen, muss man sie ausbauen. In der aktuellen Lage sehe ich zumindest in der Neurologie keinen Bedarf für Long-Covid-Spezialeinrichtungen in Österreich. Da würde man das Pferd von hinten aufzäumen. Wir sollten also nicht voreilig die Diagnose „Long Covid“ stellen, sondern uns vielmehr fragen: Welches ist die korrekte Diagnose für diese Patienten und was ist die beste Therapie? Das sind wir unseren Patienten und dem Gesundheitssystem schuldig.

Und was bedeutet das für Post-Covid-Patienten?

T. Berger: Auch für sie ist eine klare Abklärung wichtig. Man darf sie auf keinen Fall alleinlassen, sonst werden ihnen in Ermangelung adäquater Differenzialdiagnosen falsche Diagnosen umgehängt. Die bleiben ihnen dann möglicherweise langfristig, bestätigen sie in ihrem falschen Denken oder ziehen sie noch mehr in die Pandemieproblematik mit all ihrer Unsicherheit und Angst hinein.

Viele Patienten wenden sich direkt an die Spezialambulanz und bekommen keinen Platz. Warum?

T. Berger: Ich glaube, hier demaskiert sich ein Kommunikationsproblem – ganz unabhängig von Covid. Man geht mit neurologischen Beschwerden nicht einfach direkt ins AKH. Es gibt in unserem Gesundheitssystem einen „stepwise approach“ der eingehalten werden sollte. Zuerst sucht man den Hausarzt auf, der überweist zum Facharzt, und für akute Fälle gibt es die neurologische Ambulanz. Beide haben die Expertise, ein neurologisches Problem zu erfassen und eine erste Differenzialdiagnose zu stellen. Für Fälle, die in diesem Rahmen nicht gelöst werden können, sind Spezialambulanzen im universitären Setting zuständig.

Die Patienten sehen das womöglich anders?

T. Berger: Natürlich ist es für Betroffene attraktiver, den „one stop shop“ aufzusuchen, wo man in wenigen Stunden eine umfassende Abklärung erhält, die im niedergelassenen Bereich Wochen dauern würde. Das verstehe ich. Aber das System würde massiv überlastet werden, wenn alle Betroffenen direkt den High-End-Versorger aufsuchen. Primär geht es in der Anfangsphase um die Differenzialdiagnose der Beschwerden. Da kann der Hausarzt oder der niedergelassene Neurologe schon vieles klären. Wenn die Beschwerden tatsächlich eine Sequela einer Infektion sind, hat man ohnehin wenige kausale Therapiemöglichkeiten und kann nur symptomatisch behandeln. Das ist im niedergelassenen Setting nicht anders als in der Spezialambulanz.

Wie läuft die Aufnahme in der Post-Covid-Ambulanz am AKH ab?

T. Berger: Jeder, der bei uns anruft oder zu uns überwiesen wird, bekommt einen präliminären Termin. Vor diesem Termin findet dann ein Telefongespräch statt und neurologische Beschwerden werden anhand eines standardisierten Fragebogens abgefragt. Einen fixen Termin bekommen nur jene, die explizit neurologische Beschwerden haben. Diese werden dann umfassend differenzialdiagnostisch abgeklärt und eine passende Therapie wird verordnet.

Und die Patienten mit nichtneurologischen Beschwerden?

T. Berger: Die leiten wir an die entsprechenden Ambulanzen – kardiologische, pulmologische, internistische – weiter. Dieser Selektionsprozess wird in unserer Ambulanz sehr systematisch angegangen, sonst enden wir im Chaos und überlassen das Feld Leuten, die von der Neurologie wenig Ahnung haben.

Welches sind die häufigsten neurologischen Beschwerden nach einer Covid-Infektion?

T. Berger: Die häufigsten Symptome sind Fatigue, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und kognitive Einschränkungen. Kognitive Einschränkungen im Sinne von Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen oder das, was Patienten als „Brain Fog“ beschreiben.

Und welches sind dann nach der Abklärung die häufigsten Diagnosen?

T. Berger: Man muss schon ehrlich sagen, dass das, was dabei herauskommt, wenig Neurologisches ist.

Wie meinen Sie das?

T. Berger: Wir hatten bisher einen Fall eines Guillain-Barré-Syndroms; da war der Zusammenhang mit einer SARS-Infektion plausibel. Abgesehen davon treten aber neurologische Erkrankungen bei Covid-Patienten mit der gleichen Häufigkeit auf wie die Hintergrundhäufigkeit in der allgemeinen Bevölkerung. Die gute Nachricht lautet also: Post Covid verursacht keine nachhaltigen neurologischen Erkrankungen! Diese Erkenntnis deckt sich auch mit den Erfahrungen unserer Kollegen aus Innsbruck. Und es führt mich zu der etwas kecken Vorhersage, dass unsere neurologische Post-Covid-Ambulanz nicht ewig bestehen wird.

Wie wird es also mit der neurologischen Post-Covid-Ambulanz weitergehen?

T. Berger: Ich glaube, sie wird nicht dauerhaft bestehen bleiben. Post-Covid-Symptome werden sich mit Abflauen der Pandemie in eine saisonale Epidemie in die Gruppe der allgemeinen infektionsbedingten Konsequenzen einordnen. Ähnlich wie Beschwerden, über die Patienten nach einer Grippe klagen. Die behandeln wir auch in unserem Standardsetting am AKH und sie brauchen keine spezielle Post-Influenza-Ambulanz. Parallel sollten wir Post Covid aber auch präventiv bekämpfen: Die SARS-CoV-2-Impfung reduziert das Risiko für eine Infektion und somit auch für Post Covid.

DFP-Fortbildung Zu Long Covid

Long Covid ist ein sehr junges Krankheitsbild mit vielen offenen Fragen, Erklärungs- und Abstimmungsbedarf seitens der Medizin und der Betroffenen. In dem Fortbildungsvideo „Long Covid: Was haben wir im letzten Jahr gelernt?“ gibt Dr. Ralf Harun Zwick einen Überblick über die genaue Definition von Long Covid/Post Covid, die Parameter zur Beurteilung der Symptomatik sowie über Therapie- und Rehabilitations-möglichkeiten, auch in Bezug zur aktuellen S2-Leitlinie der ÖGAM.

Obwohl für die primäre Zielgruppe der Allgemeinmediziner erstellt, ist dieser Kurs auch für Ärzte anderer Fachdisziplinen von Relevanz.

Unser Gesprächspartner:

Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: thomas.berger@meduniwien.ac.at

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