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Langzeittherapie beim Restless-Legs-Syndrom

Wenn die Beine nicht zur Ruhe kommen

<p class="article-intro">Die Beine zucken, wenn man sitzt oder liegt, man spürt ständig einen Bewegungsdrang, hat Missempfindungen in den Beinen und kann nicht mehr schlafen – ein Restless-Legs-Syndrom (RLS) kann die Lebensqualität enorm einschränken. Lässt sich keine Ursache finden und behandeln, steht die symptomatische Therapie im Vordergrund. Während der langfristigen Behandlung muss man insbesondere die medikamentös induzierte paradoxe Verschlechterung des RLS (Augmentation) unter dopaminerger Therapie im Blick haben. Prof. Dr. med. Johannes Mathis vom Inselspital in Bern erklärt, wie man bei der Pharmakotherapie vorgeht und welche Rolle der Schweregrad bei der Stellung der Therapieindikation spielt.</p> <hr /> <p class="article-content"><p><strong>Herr Professor Mathis, in der aktuellen dritten Version der Internationalen Klassifikation der Schlafst&ouml;rungen (ISC-3) wird im Vergleich zur vorherigen der Schweregrad erw&auml;hnt. Warum ist das wichtig?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Zun&auml;chst einmal: Die Diagnose basiert auf obligatorischen und fakultativen Kriterien (siehe Textkasten). Aber nicht jeder Patient, der diese Kriterien erf&uuml;llt, braucht eine Behandlung. Ein Krankheitswert wird dann angenommen, wenn der Patient an mindestens zwei bis drei Tagen pro Woche Beschwerden hat und diese ihn in seiner Lebensqualit&auml;t beeintr&auml;chtigen. Der Schwergrad bestimmt also, ob man behandeln muss.</p> <p><strong>Wie findet man das heraus?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Am einfachsten ist, denPatienten zu fragen: &laquo;Denken Sie, dass Sie mit diesen Beschwerden leben k&ouml;nnen oder beeinflusst es Ihren Alltag so, dass wir eine Therapie erw&auml;gen sollten?&raquo; F&uuml;r das Gespr&auml;ch muss man sich viel Zeit nehmen. Die Medikamente k&ouml;nnen n&auml;mlich nicht unerhebliche Nebenwirkungen verursachen, und einige k&ouml;nnen die Symptome langfristig verschlimmern, was wir Augmentation nennen. Dem Patienten muss man diese Aspekte m&ouml;glichst genau erkl&auml;ren. Wir haben 2003 eine Umfrage in Schweizer Apotheken gemacht und nur drei von zehn Patienten, die alle essenziel- len diagnostischen RLS-Kriterien erf&uuml;llten, h&auml;tten sich auch behandeln lassen wollen. Leider therapieren einige Kollegen ein RLS auch dann, wenn es (noch) gar nicht notwendig w&auml;re, ohne sich &uuml;ber die potenziellen Nebenwirkungen im Klaren zu sein.</p> <p><strong>Wie w&uuml;rden Sie ein behandlungsbed&uuml;rftiges RLS charakterisieren?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Der Patient sp&uuml;rt praktisch jeden Tag gegen Abend oder nachts, wenn er sitzt oder liegt, sehr unangenehme Sensationen in den Beinen oder seine Beine zucken. Der Betroffene muss st&auml;ndig aufstehen, zum Beispiel alle paar Minuten beim Nachtessen. Das st&ouml;rt nicht nur ihn, sondern die ganze Familie wird verr&uuml;ckt. Verwandte und Freunde ziehen sich zur&uuml;ck, die Patienten sind einsam und viele leiden unter Schlafst&ouml;rungen.</p> <p><strong>Wie starten Sie die Therapie?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Wichtig ist, zun&auml;chst sekund&auml;re Ursachen f&uuml;r ein RLS &ndash; was neuerdings &laquo;co-morbides RLS&raquo; genannt wird &ndash; abzukl&auml;ren und gegebenenfalls zu behandeln. Am h&auml;ufigsten sind dies ein Eisenmangel, eine Polyneuropathie oder auch bestimmte Medikamente.</p> <p><strong>Ab welchem Eisenwert sollte man substituieren?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Eine Eisensubstitution wird bei einem Ferritin &lt;50&mu;g/l empfohlen, manche raten sogar schon bei &lt;75&mu;g/l oder &lt;100&mu;g/l dazu. Weil der Eisengehalt im Gehirn von RLS-Betroffenen schon bei normalen Serum-Eisenwerten geringer ist als bei Gesunden, ist es sehr schwierig zu wissen, welcher Grenzwert der richtige ist. Am meisten scheint die Eisensubstitution zu helfen, wenn der Eisenmangel akut auftrat. Eisen bessert nicht nur die Symptome, sondern die Dopamin-Agonisten scheinen auch besser zu wirken, und das Risiko f&uuml;r eine Augmentation scheint geringer zu sein. Man kann eine orale Eisentherapie probieren, aber gerade &auml;ltere Menschen nehmen das Eisen oft nicht so gut &uuml;ber den Darm auf, und sie profitieren mehr von Infusionen.</p> <p><strong>Wie behandeln Sie ein RLS durch Polyneuropathie?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Je nach Ursache, also zum Beispiel Vitamin B<sub>12</sub> substituieren, den Blutzucker gut einstellen oder eine Schilddr&uuml;senunterfunktion behandeln. Bei jedem Zweiten finden wir allerdings keine Ursache f&uuml;r die Polyneuropathie &ndash; das ist ziemlich frustrierend und dann bleibt einem nur &uuml;brig, die Symptome zu behandeln.</p> <p><strong>Neuroleptika k&ouml;nnen ein RLS ausl&ouml;sen, auch Betablocker, Antidepressiva oder Kalzium-Antagonisten. Verschwindet das RLS, wenn man die Pr&auml;parate absetzt?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Nicht immer vollst&auml;ndig, weil ein RLS immer zu einem Teil genetisch bedingt ist. Aber man kann erwarten, dass es wesentlich besser wird.</p> <p><strong>Zur symptomatischen Therapie stehen mehrere Wirkstoffgruppen zur Verf&uuml;gung: dopaminerge Substanzen, Hypnotika, Antiepileptika, Antidepressiva und Opioide. Wie w&auml;hlen Sie das Passende aus?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Das entscheide ich anhand des Schweregrades, der Komorbidit&auml;ten und der zu erwartenden Nebenwirkungen. Hat der Patient nur ein- bis zweimal pro Woche Beschwerden, verschreibe ich L-Dopa, nur in Reserve und maximal 2x 250mg pro Woche. L-Dopa sollte man aber auf keinen Fall als Dauertherapie einsetzen, weil das bei 80 Prozent der Patienten zu einer Augmentation f&uuml;hrt. Dopamin-Agonisten eignen sich gut, wenn der Patient gleichzeitig unter Depressionen leidet, da diese Pr&auml;parate auch leicht antidepressiv wirken. Leidet ein Patient aber unter kompulsivem Verhalten &ndash; also etwa &uuml;berm&auml;ssig viel Geld ausgeben, essen oder Sex haben &ndash;, rate ich von einem Dopamin-Agonisten ab, denn dieser kann als Nebenwirkung ein derartiges Verhalten ausl&ouml;sen oder verst&auml;rken.<br /> Die Alpha-Delta-Liganden Gabapentin oder Pregabalin kommen haupts&auml;chlich infrage bei schmerzhafter Form des RLS, wenn der Patient zus&auml;tzlich eine Polyneuropathie hat. Weil Pregabalin auch angstl&ouml;send wirkt, eignet sich das Medikament bei zus&auml;tzlicher Angstst&ouml;rung. Genauso wie die Dopamin-Agonisten sollte man die Antiepileptika langsam aufdosieren, dann vertr&auml;gt der Patient sie besser. &Auml;lteren Patienten gebe ich diese Substanzen aber nicht so gerne, weil diese das Risiko f&uuml;r St&uuml;rze erh&ouml;hen und die Gefahr einer Gewichtszunahme sollte beachtet werden. Codein-Pr&auml;parate werden heute nur noch als zweite oder dritte Wahl verwendet. Als Reservemedikament oder in Kombination mit Dopamin-Pr&auml;paraten kann es aber auch heute noch gute Dienste leisten. In sehr schweren F&auml;llen kann eine Behandlung mit Opiaten inklusive Methadon erwogen werden, insbesondere bei schmerzhaften Formen des RLS.</p> <p><strong>Wie starten Sie die Therapie bei einem RLS?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Mit der kleinsten verf&uuml;gbaren Dosis, welche bis zu der kleinsten n&ouml;tigen Dosis aufdosiert wird. Gibt man hohe Dosen zu rasch, kann dies &Uuml;belkeit ausl&ouml;sen. Oft sprechen die Patienten zu Beginn relativ rasch auf die Behandlung an, aber leider kann eine Gew&ouml;hnung auftreten und der Effekt l&auml;sst wieder nach. In diesen F&auml;llen braucht man viel Geduld und der Patient Vertrauen zum Arzt, bis man ein neues, wirksameres Mittel oder eventuell eine Medikamentenkombination gefunden hat. Das Risiko einer Augmentation ist besonders bei kurzwirksamen Dopamin-Pr&auml;paraten erh&ouml;ht.</p> <p><strong>Wie &auml;ussern sich die Augmentationen?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Die RLS-Symptome treten wieder auf oder verschlechtern sich rasch innert Wochen &ndash; es ist eine paradoxe Nebenwirkung aller dopaminerger Pr&auml;parate. Bestand das Unruhegef&uuml;hl in den Beinen fr&uuml;her erst am Abend im Bett, treten die Symptome wegen der Augmentation schon beim Nachtessen auf und im weiteren Verlauf schon beim Mittagessen. Zus&auml;tzlich breiten sich die Symptome von den Unterschenkeln nach proximal aus oder sogar bis in die Arme. Oft &auml;ndert sich auch der Charakter: Die Beschwerden sind jetzt schmerzhafter oder es treten mehr unwillk&uuml;rliche Zuckungen auf.</p> <p><strong>Wie behandeln Sie die Augmentation?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Es ist oft schwierig, die Augmentation in den Griff zu bekommen. Entweder wird man es mit einem Dopamin- Agonisten mit l&auml;ngerer Wirkungsdauer wie dem Rotigotin-Pflaster versuchen oder mit Pregabalin. Meist muss man aber vor&uuml;bergehend und &uuml;berlappend ein Opiat dazugeben, um die Beschwerden ertr&auml;glich zu gestalten. Wenn die Augmentation behoben ist, kann man das Opiat sp&auml;ter eventuell wieder ausschleichen.</p> <p><strong>Warum muss man &uuml;berlappend ein Opiat geben?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Ein Patient mit einer schweren Augmentation hat oft so starke Beschwerden, dass er oft kurz vor dem Selbstmord steht &ndash; solche Patienten ben&ouml;tigen dringend etwas, was unmittelbar hilft, wozu sich Opiate am besten eignen. Langfristig sollten Opiate aber wegen der Nebenwirkungen nur als letzte Option zur Basisbehandlung eingesetzt werden.</p> <p><strong>Was machen Sie bei einer Schwangeren mit RLS?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Das ist eine Herausforderung. Wir haben f&uuml;r alle &uuml;blicherweise eingesetzten Pr&auml;parate nicht gen&uuml;gend Daten zur Sicherheit f&uuml;r das Ungeborene. Deshalb kann hier neben einer guten Schlafhygiene die orale Substitution eines Eisenmangels, allenfalls Magnesium versucht werden. Wirkt das nicht, kann man ein Benzodiazepin oder ein dopaminerges Pr&auml;parat &uuml;berlegen. Bei rund jeder dritten Schwangeren persistiert das RLS oder es tritt bei einer n&auml;chsten Schwangerschaft wieder auf. Es schadet sicherlich nichts, die Eisenreserven vor einer Schwangerschaft gut aufzuf&uuml;llen.</p> <p><strong>Gibt es keine Therapien, die auf die Psyche wirken?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Leider steckt die Verhaltenstherapie noch in den Kinderschuhen &ndash; hier gibt es nur Einzelberichte. Entspannungstherapien scheinen nichts zu helfen und machen den Patienten noch nerv&ouml;ser. Eine Achtsamkeitstherapie empfinden viele Patienten als angenehm, auch Stretching am Abend kann wirken. Vielleicht k&ouml;nnte man lernen, mit dem Problem besser umzugehen &ndash; &auml;hnlich wie bei chronischen Schmerzen.</p> <p><strong>Ist ein RLS heilbar?</strong><br /> <strong>J. Mathis:</strong> Zumindest das idiopathische RLS bleibt meist lebenslang bestehen. Trotzdem treten immer wieder Phasen einer vor&uuml;bergehenden Remission ein, weshalb man bei fehlenden Beschwerden auch versuchen soll, die Medikamente zu reduzieren. Umgekehrt k&ouml;nnen schwere Verl&auml;ufe mit Therapieresistenz auftreten, weshalb neben einer guten Zusammenarbeit von Hausarzt und Facharzt f&uuml;r die beste Therapie den Betroffenen auch die Unterst&uuml;tzung in Selbsthilfegruppen helfen kann &ndash; etwa www.restless-legs.ch.</p> <p><strong><em>Vielen Dank f&uuml;r das Gespr&auml;ch!</em></strong></p> <h2>Diagnosekriterien des Restless-Legs-Syndroms (www.restless-legs.ch)</h2> <p>Obligatorische Symptome</p> <ul> <li>Bewegungsdrang der Extremit&auml;ten, oft assoziiert mit unangenehmen Gef&uuml;hlsst&ouml;rungen</li> <li>Bewegungsunruhe</li> <li>Verschlimmerung der Beschwerden in Ruhe und zumindest vor&uuml;bergehende Besserung bei Bewegung</li> <li>Verschlechterung der Beschwerden am Abend und in der Nacht</li> <li>Die Beschwerden m&uuml;ssen ein erhebliches Ausmass mit Einschr&auml;nkungen der Lebensqualit&auml;t erreichen und k&ouml;nnen nicht durch eine andere Ursache erkl&auml;rt werden.</li> </ul> <p>Fakultative Symptome</p> <ul> <li>Schlafst&ouml;rungen und Tagesschl&auml;frigkeit</li> <li>Periodische Bewegungen der Beine und Arme im Schlaf</li> <li>Unwillk&uuml;rliche Bewegungen der Beine und Arme im Wachzustand und in Ruhe</li> <li>Normale Befunde bei der &auml;rztlichen Untersuchung bei RLS-Formen ohne bekannte Ursachen (= idiopathische Form)</li> <li>Tendenz zu einer Verschlechterung im mittleren und h&ouml;heren Lebensalter</li> <li>Positive Familienanamnese, entsprechend einer autosomal-dominanten Vererbung</li> </ul></p>
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