Vertrauen in der Onkologie

«Nuancen in der Haltung, die Vertrauen generieren können»

Prof. Dr. phil. Andrea Kobleder hat in der Studie TANGO untersucht, wie onkologische Patientinnen Vertrauen definieren, welchen Stellenwert es für sie hat und wie es gestärkt werden kann. Sie hat mitLeading Opinions über die Ergebnisse von TANGO, aber auch über Vertrauen in der Onkologie im Allgemeinen gesprochen.

Was bedeutet «Vertrauen» im onkologischen Feld?

A. Kobleder: Je nachdem, ob man durch die psychologische oder soziologische Brille auf den Begriff «Vertrauen» blickt, kann er unterschiedlich definiert werden. Grundsätzlich ist der Begriff mehrschichtig: Er betrifft einerseits das Vertrauen der Patient:innen in sich selber und in ihren Körper. Dieses Vertrauen wird durch eine onkologische Erkrankung schwer erschüttert.

Andererseits kann er das Vertrauen ins Gesundheitssystem ausdrücken: in andere Menschen, in Onkolog:innen, Pflegefachpersonen und Personen aus all den Fachbereichen, mit denen Betroffene in Kontakt kommen. Dieses Vertrauen geht auch mit einem Vertrauen in die Politik einher, sowohl in der Schweiz als auch in Österreich. Diese vielschichtigen Vertrauensebenen können ebenfalls unterschiedlich definiert werden.

Gibt es so etwas wie ein optimales Vertrauensverhältnis auf all diesen Ebenen?

A. Kobleder: Im Kontext von Frauen mit einer Brustkrebserkrankung haben wir eine Studie zum Thema Vertrauen gemacht, die TANGO-Studie. Zwölf Frauen durften wir von der Diagnose bis zur Nachsorge begleiten. Während der Diagnostik, Therapie und Nachsorge haben sie uns ihr Verständnis von «Vertrauen» beschrieben, oft auch direkt aus den medizinischen Situationen heraus über Textnachrichten.

Eine grosse Erkenntnis aus dieser Studie war, dass es tatsächlich keine einzelne Definition von Vertrauen geben kann – das ist nicht überraschend, Vertrauen ist so individuell wie wir Menschen. Aber wir konnten feststellen, dass Vertrauen mit dem Gefühl der Unsicherheit korreliert und oft eine Strategie ist, um mit unsicheren Momenten umzugehen. Unsicherheit zieht sich durch eine onkologische Erkrankung, ab dem Zeitpunkt des Krebsverdachts bis hin zu den ersten Therapien. Vertrauen wird von Patient:innen in all diesen Momenten angewandt, um mit der Unsicherheit umgehen zu können.

Das bestmögliche Vertrauensverhältnis lässt sich also nicht definieren.

Gab es grosse individuelle Unterschiede zwischen den Frauen in der Studie?

A. Kobleder: Wir konnten beobachten, dass sich die Patientinnen in zwei Gruppen aufteilen lassen: in jene mit einem fungierenden Vertrauen und jene mit Misstrauen.* Patientinnen mit fungierendem Vertrauen haben grundsätzlich Vertrauen ins Gesundheitssystem und eine positive Haltung zum Leben und zu anderen Menschen. Sie nutzen Vertrauen aktiv als Strategie und zeigen sich dem Gesundheitssystem gegenüber dankbar.

Misstrauischen Patient:innen fehlt das grundlegende Vertrauen. Sie versuchen, über Situationen im medizinischen Kontext Kontrolle auszuüben, da sie den einzelnen Fachpersonen, aber auch dem Gesundheitswesen im Ganzen nicht trauen.

Für medizinisches Personal ist es aber wichtig, zu wissen, dass die meisten Menschen mit einem Vorschuss an Vertrauen ins Gesundheitswesen in ihre eigene Behandlung einsteigen.

Die wenigsten Personen, die eine onkologische Erkrankung haben, vermeiden die Abläufe der Behandlungen oder nehmen sie gar nicht in Anspruch. Diesen Vertrauensvorschuss müssen wir Gesundheitsfachpersonen im Hinterkopf behalten, ihn schätzen und zu bewahren versuchen. Die Patientinnen in unserer Studie haben berichtet, dass sie eigentlich auch keine Wahl haben. Eine Patientin hat gesagt, sie könne sich den Krebs ja nicht selber rausschneiden. Auch die Patientinnen sind also bis zu einem bestimmten Grad auf dieses Vertrauen angewiesen.

Was ist, wenn in der Onkologie Fehler passieren?

A. Kobleder: Ein weiteres Ergebnis der Studie war, dass Patientinnen durchaus bereit sind, Fehler im Rahmen ihrer Behandlung zu verzeihen, sofern sie offen kommuniziert werden. Dann lassen sie auch nicht das Vertrauen bröckeln. Werden Fehler zugegeben und erklärt, kann so ein Erlebnis sogar das Gegenteil eines Vertrauensbruchs sein. Die offene Kommunikation war ein Schlüsselmoment für die Patientinnen.

Haben Sie Tipps für medizinisches Personal, wie man Vertrauen aufbauen kann?

A. Kobleder: Die Teilnehmerinnen unserer Studie haben dazu sehr wertvolle Hinweise gebracht. Teilweise musste ich schmunzeln, weil es Aspekte sind, die tatsächlich nicht wahnsinnig viel Zeit in Anspruch nehmen.

Mehrere Teilnehmerinnen haben das, was zum Aufbau des Vertrauens wichtig ist, so beschrieben: Es ist ein Mix aus Fachexpertise und Menschlichkeit in der Maschinerie der onkologischen Behandlung, der das Vertrauen stärkt oder auch das Misstrauen nährt. Als Beispiel hat eine Patientin ihre eigene Onkologin genannt, die sie bei jedem Gespräch zuerst gefragt hat, wie es ihren Kindern geht und wie es beruflich läuft. Sie hat sich als Mensch wahrgenommen gefühlt, der neben der Erkrankung auch ein ganz normales Leben führt. Das hat das Vertrauen gestärkt. Andererseits hatte diese Studienteilnehmerin nicht die Erwartung, dass jede Fachperson, der sie im Laufe ihrer Erkrankung begegnet, auf diese Weise mit ihr kommuniziert. Von ihren Chirurg:innen hat sie nur eine hohe Expertise erwartet, aber keinen persönlichen Austausch.

Viel hat auch mit der Zeit zu tun, die Patient:innen an bestimmten Orten verbringen. Wenn sie bei der Chemotherapie stundenlang in einer Abteilung sitzen, kann ein Austausch mit Pflegefachpersonen Nähe schaffen und das Vertrauen erhöhen. Das gilt auch, wenn die Pflegenden etwas aus ihrem eigenen Leben preisgeben.

Es lohnt sich auch immer, als Fachperson aktiv nachzufragen: Was verstehen Sie unter Vertrauen? Was kann ich tun, damit Ihr Vertrauen in mich und in die Therapie wächst?

Ausserdem sind Patient:innen sehr wachsam. Sie beobachten genau, wie das Personal Interventionen durchführt. Unterschiede fallen sofort auf. Ein standardisierter Ablauf hilft dabei, das Vertrauen in Institutionen und Prozesse zu erhöhen.

Ist die Bezeichnung «Maschinerie» indiesem Kontext negativ?

A. Kobleder: Von der «Maschinerie», die nach einer Krebsdiagnose startet, haben einige Patientinnen berichtet. Eine Patientin hat gesagt, seit der Diagnose fühle sie sich wie eine Person, die am Kopf einen Saugnapf hat und über ein Fliessband transportiert wird. Es werden Sachen an- oder abgeschraubt und sie muss sich auf diesem Fliessband einfach hingeben, es gibt keinen Ausweg. Das ist natürlich angsteinflössend und nicht vertrauenserweckend, aber sie meinte auch, dass das Maschinelle und Standardisierte ihr auch Sicherheit gegeben hat und das Vertrauen wieder erhöhen konnte.

Brauchen Patient:innen Bezugspersonen, um ihr Vertrauen in diese Maschinerie zu steigern?

A. Kobleder: Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass es zwar wichtig sein kann, dass es eine einzelne Vertrauensperson über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg gibt, aber dass bei guter Kommunikation auch Abweichungen akzeptiert werden. Natürlich schätzen es die Patient:innen, aber es ist für sie auch kein Problem, wenn zum Beispiel ihre Onkolog:innen im Urlaub sind, solange eine gute und zuverlässige Übergabe an die Vertretung stattgefunden hat. Das Vertrauen wurde jedoch gemindert, wenn Patient:innen immer wieder die gleichen Gespräche führen und die gleichen Sachen erzählen mussten. Hat das Gegenüber keine Ahnung von einem Fall, obwohl es sich auskennen sollte, führt das zu Misstrauen. Ein Team muss professionell und interprofessionell sein.

Kann man Vertrauen auch lernen?

A. Kobleder: Es macht absolut Sinn, sich kommunikationstechnisch weiterzubilden und entsprechende Schulungen zu machen. Aber Sympathie und Antipathie sind höchst individuelle menschliche Eigenschaften, die man nur schwer trainieren kann. Authentizität ist bei Vertrauen einer der wichtigsten Aspekte. Sich zu verstellen, wenn man zum Beispiel als Fachperson selber einen schlechten Tag hat, bringt nichts. Das merken Patient:innen sofort. Man kann lernen, die Schwächen in solchen Momenten zuzugeben. Das kreiert Vertrauen.

Gibt es, was Vertrauen betrifft, besonders empfindliche Momente im Laufe einer Krebserkrankung?

A. Kobleder: Es ist wichtig, dass wir uns als Fachpersonen an den Gedanken annähern, wie es ist, von heute auf morgen eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung zu haben, und aber gleichzeitig eingestehen, dass zumindest die meisten von uns nie wissen werden, wie sich das wirklich anfühlt. Zum Beispiel befinden sich Betroffene immer in einer Abhängigkeit zu Fachpersonen, die einen Informationsvorsprung haben.

Gerade die Zeit der noch nicht gesicherten Diagnose ist für Betroffene extrem schwierig. Zu dem Zeitpunkt haben sie noch keine direkten Ansprechpersonen und müssen alleine mit dieser tief wurzelnden Unsicherheit umgehen. Da kommen tiefgehende existenzielle Fragestellungen auf. Viele Menschen nehmen sich zur Diagnosestellung selber auch noch nicht als krank wahr. Selbst eine Patientin, die beruflich im Gesundheitswesen verankert ist, hat diesen Wechsel, von heute auf morgen schwerkrank zu sein oder als schwerkrank zu gelten, in der Studie als einen Tsunami beschrieben.

Zeit dazu, all diese Veränderungen zu verarbeiten, haben die Patient:innen dann oft erst, wenn sie bereits wieder als geheilt gelten. Aber dann gibt es eine grosse Lücke im Gesundheitssystem: Wenn alle Therapien abgeschlossen sind, fühlen sich viele Betroffene alleingelassen. In der Schweiz und in Österreich gibt es bereits Angebote zum Thema «Cancer Survivorship». Diese Angebote sind aber noch nicht so flächendeckend verfügbar, wie es nötig wäre.

Gibt es ein Hauptfazit aus der TANGO-Studie? Sind Nachfolgestudien geplant?

A. Kobleder: Die TANGO-Studie ist jetzt abgeschlossen, die Publikation befindet sich im Review-Prozess. Es gibt noch keine Pläne für eine Nachfolgestudie. Aber da wir zwölf Patientinnen über den gesamten Behandlungspfad begleitet haben, haben wir enorm viele Daten, die uns im Rahmen von Sekundäranalysen sicherlich noch weitere Erkenntnisse liefern.

Bisher kann ich die Schlussfolgerung ziehen, dass in der Onkologie keine grossen Veränderungen nötig sind, um mehr Vertrauen zu schaffen, sondern kleine.

Für Fachpersonen ist die Onkologie der Alltag, für die Patient:innen ist es ihr Leben, das sich von heute auf morgen verändert hat. Wir müssen nicht immer in den Schuhen der Patient:innen gehen, aber wir müssen versuchen, ihre Erfahrungen anzuerkennen. Oft geht es um Nuancen in der Haltung, die Vertrauen generieren können – Fragen, die anders gestellt werden, Aufmerksamkeiten, die man erbringt. Und natürlich auch um den nahtlosen Informationsfluss.

Welche Entwicklungen im Gesundheitswesen können das Vertrauen von Patient:innen in Zukunft erhöhen?

A. Kobleder: Ich würde mir wünschen, dass Patient:innen aus der Passivität, die die Schulmedizin noch von ihnen verlangt, in eine aktivere Rolle schlüpfen können. Mehr Autonomie und Selbstbestimmung helfen dabei, die Beziehung ins Gesundheitswesen, in Fachpersonen und in den eigenen Körper vertrauensvoller zu gestalten.



* Martin Endress (2012) definiert drei Modi des Vertrauens: reflexiv, habituell und fungierend. Das fungierende Vertrauen beruht auf einem tief verankerten Weltverständnis/Grundvertrauen in die Welt.

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