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Essenzielle Thrombozythämie und Polycythaemia vera

Ziel behandlungsfreie Remission bei ET-/PV-Therapie: Fakt oder (noch) Fiktion?

Auch wenn eine behandlungsfreie Zeit bei Remission von vielen Patient:innen gewünscht wird, müssen die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen dafür erst noch besser definiert werden.

Keypoints

  • Die BCR::ABL1-negativen myeloproliferativen Neoplasien (MPN) sind seltene Blutkrebserkrankungen mit eingeschränkter Lebenserwartung.

  • Eine länger dauernde Interferontherapie scheint einen bedeutsamen krankheits- modifizierenden Effekt in früheren Erkrankungsstadien aufzuweisen.

Die essenzielle Thrombozythämie (ET) und die Polycythaemia vera (PV) sind Subentitäten der sogenannten BCR::ABL1-negativen myeloproliferativen Neoplasien (MPN), die zu den chronischen Blutkrebserkrankungen zählen und aufgrund von möglichen lebensbedrohlichen Komplikationen mit einer geringeren (ET) oder deutlich (PV) verkürzten Überlebenszeit assoziiert sind.1,2 Eine Heilung ist nur durch eine allogene Blutstammzelltransplantation möglich, die aber in Abwägung der Vor- und Nachteile nur im fortgeschrittenen Stadium indiziert ist. Zur Behandlung der ET und PV stehen mittlerweile mehrere Medikamente zur Verfügung, wobei es für eine potenzielle Krankheitsmodifikation bislang nur bei Interferon (IF) Hinweise auf Erfolg gibt.2

Prinzipiell stellt sich bei chronischen Krebserkrankungen die Frage, ob eine durchgehende medikamentöse Behandlung notwendig und sinnvoll ist. Die Lebensqualität der Patient:innen, Nebenwirkungen, Therapiekosten sowie die mögliche Selektion resistenter Klone zählen hier zu den Überlegungen. Um eine behandlungsfreie Remission („treatment-free remission“, TFR) andenken zu können, sollten bestimmte Voraussetzungen (wie z.B. die Tiefe und Dauer des Ansprechens) definiert werden, unter denen eine Therapiepause ohne Nachteil möglich ist.

Mögliche Nachteile einer TFR wie eine psychische Belastung (Angst vor Progression)3 sowie ein möglicherweise verkürztes erkrankungsfreies- und Gesamtüberleben müssen ebenfalls mitbedacht werden. Interferon wird bei ET und PV bereits seit Jahrzehnten angewandt; eine große Metaanalyse hat rezent die unzähligen retrospektiven sowie die vier prospektiven Studien zusammengefasst und ein recht gutes hämatologisches Ansprechen sowie eine niedrige Thromboembolierate bestätigt.4

In den randomisierten Studien konnte gezeigt werden, dass Interferon im hämatologischen Langzeitansprechen Hydroxyurea eindeutig überlegen ist, bei Niedrigrisiko-Patient:innen gegenüber der Phlebotomie eindeutig einen Vorteil hat und ein eindrucksvolles molekulares Ansprechen erzielen kann.5,6

Neuere Interferonformulierungen haben ein akzeptables Nebenwirkungsprofil.6 Eine große retrospektive Analyse von PV-Patient:innen eines renommierten amerikanischen Zentrums konnte einen signifikanten Vorteil einer Interferontherapie bezüglich des myelofibrosefreien Überlebens (MFS) bei Patient:innen mit niedrigem Thromboembolierisiko und des Gesamtüberlebens (OS) bei Patient:innen mit hohem Thromboembolierisiko zeigen.7 Daten zu IF-Absetzversuchen im Sinne einer TFR gibt es bislang nur auf Basis von Fallberichten8,9 oder größeren retrospektiven Studien, in denen Patient:innen mit verschiedenen Absetzgründen analysiert wurden.10

Zusammenfassend kann aus der derzeitigen Datenlage geschlossen werden, dass ein langes, tiefes hämatologisches sowie molekulares Ansprechen vor dem Absetzversuch mit einer längeren TFR assoziiert ist. Insgesamt ist die Datenlage zur TFR unter IF aber noch unzureichend.

Zwei am ASH-Jahrestreffen 2022 präsentierte Studien zu Ruxolitinib bei PV konnten zeigen, dass Ruxolitinib ebenfalls zu einem beeindruckenden molekularen Ansprechen führen kann, welches mit einem längeren ereignisfreien Überleben und MFS assoziiert ist.11,12 Vielversprechend sind auch erste Daten zur Kombination von Interferon und Ruxolitinib bei MPN, da hier eine gegenseitige Wirkungsverstärkung auftritt.13

Abschließend muss gesagt werden, dass bei MPN die Datenlage für einen gezielten Absetzversuch von Interferon noch nicht ausreichend ist. Im Einzelfall, z.B. bei Nebenwirkungen oder auf dringenden Patient:innenwunsch, scheinen „treatment holidays“ vertretbar zu sein, speziell bei tiefem hämatologischem und molekularem Ansprechen nach optimalerweise mehrjähriger Vortherapie. Künftige Studien sollten u.a. frühe Surrogatparameter für einen krankheitsmodifizierenden Effekt untersuchen, um die Entwicklung modifizierter Ansprechkriterien zu ermöglichen.

1 Tefferi A et al.: Long-term survival and blast transformation in molecularly annotated essential thrombocythemia, polycythemia vera, and myelofibrosis. Blood 2014; 124(16): 2507-13 2 Bjørn ME, Hasselbalch HC: Minimal residual disease or cure in MPNs? Rationales and perspectives on combination therapy with interferon-alpha2 and ruxolitinib. Expert Rev Hematol 2017; 10(5): 393-404 3 Sharf G et al.: Treatment-free remission in chronic myeloid leukemia: the patient perspective and areas of unmet needs. Leukemia 2020; 34(8): 2102-12 4 Bewersdorf JP et al.: Interferon alpha therapy in essential thrombocythemia and polycythemia vera-a systematic review and meta-analysis. Leukemia 2021; 35(6): 1643-60 5 Gisslinger H et al.: Ropeginterferon alfa-2b versus standard therapy for polycythaemia vera (PROUD-PV and CONTINUATION-PV): a randomised, non-inferiority, phase 3 trial and its extension study. Lancet Haematol 2020; 7(3): e196-208 6 Barbui T et al.: Ropeginterferon alfa-2b versus phlebotomy in low-risk patients with polycythaemia vera (Low-PV study): a multicentre, randomised phase 2 trial. Lancet Haematol 2021; 8(3): e175-84 7 Abu-Zeinah G et al.: Interferon-alpha for treating polycythemia vera yields improved myelofibrosis-free and overall survival. Leukemia 2021; 35(9): 2592-2601 8 Larsen TS et al.: Minimal residual disease and normalization of the bone marrow after long-term treatment with alpha-interferon2b in polycythemia vera. A report on molecular response patterns in seven patients in sustained complete hematological remission. Hematology 2009; 14(6): 331-4 9 Utke Rank C et al.: Minimal residual disease after long-term interferon-alpha2 treatment: a report on hematological, molecular and histomorphological response patterns in 10 patients with essential thrombocythemia and polycythemia vera. Leuk Lymphoma 2016; 57(2): 348-54 10 Daltro De Oliveira R et al.: Blood 2020; 136(Suppl_1): 35 11 Harrison CN et al.: ASH 2022; Abstr. #739 12 Guglielmelli E et al.: ASH 2022; Abstr. #741 13 Sørensen AL et al.: Ruxolitinib and interferon-α2 combination therapy for patients with polycythemia vera or myelofibrosis: a phase II study. Haematologica 2020; 105(9): 2262-72

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