
Was brauchen Mädchen für eine selbstbewusste Sexualität?
Autorinnen:
Alina Ritter, MSc
Klinische Psychologin in Ausbildung
Mag. Eva Trettler
Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin
Frauengesundheitszentrum FEM Süd
Klinik Favoriten, 1100 Wien
Die Entwicklung der eigenen Sexualität ist zentraler Bestandteil des Erwachsenwerdens. Manchen Mädchen fällt es jedoch nicht leicht, ihre Sexualität selbstbewusst und selbstbestimmt zu leben. Eine umfangreiche sexuelle Bildung, die über die ganze Lebensspanne geht, ist daher von besonderer Bedeutung.
Den eigenen Körper kennen
Die Grundlage für eine selbstbestimmte Sexualität bildet die Kenntnis des eigenen Körpers. Diese umfasst grundlegendes anatomisches Wissen, insbesondere über die Funktionsweise des Zyklus und der Geschlechtsteile. Der Menstruationsgesundheitsbericht 2024 zeigt, dass 19% der Mädchen gänzlich unvorbereitet auf ihre erste Periode sind und ein Viertel der 14- bis 18-Jährigen zwar Kenntnis über den Begriff „Menarche“ haben, jedoch über keine detaillierten Informationen verfügen.1 Dies deutet auf eine bedeutende Lücke in der Aufklärung hin. Auch für ältere Mädchen und junge Frauen bleibt das Thema eine Herausforderung: 26% der 14- bis 18-Jährigen sowie 26% der 19- bis 29-Jährigen berichten von negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Menstruation. Diese Zahlen unterstreichen die Notwendigkeit einer umfassenderen, geschlechts- und kultursensibleren sexuellen Bildung, die nicht nur körperliche Aspekte, sondern auch emotionale und soziale Herausforderungen beleuchtet.
Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang eine größere Aufmerksamkeit verdient, sind die Kenntnisse über die weiblichen Geschlechtsorgane, allen voran über die Klitoris. In der weiblichen Anatomie wird die Klitoris oftmals vernachlässigt, obwohl sie für ein lustvolles Empfinden und damit für eine positive Sexualität von entscheidender Bedeutung ist. Diese Vernachlässigung zeigt sich auch durch den „Orgasmus-Gap“. Studien machen deutlich, dass in heterosexuellen Interaktionen Frauen weniger häufig einen Orgasmus erleben als Männer.2 Eine Erklärung für diese Diskrepanz könnte in einem unzureichenden Maß an klitoraler Stimulation während des Geschlechtsverkehrs liegen, möglicherweise in Verbindung mit einer Überbewertung von penetrativem Sex.
Ebenso wird häufig berichtet, dass Mädchen ihre eigene Vulva noch nie selbst gesehen haben und Aussehen und Form einer Vulva nur aus medizinischen Abbildungen oder pornografischen Darstellungen kennen. Letztere erzeugen oftmals ein falsches Bild und führen zu einer Verunsicherung in Bezug auf das eigene Körperbild.3
Verhütung
Verhütung ist ein Aspekt, der die Selbstbestimmung fördern kann und dem Konzept der „Sexualität nur im Kontext der Reproduktion“ entgegensteht. Der österreichische Verhütungsbericht 2024 zeigt, dass 40,3% der 14- bis 20-Jährigen in Österreich nicht verhüten.4 Diese Tendenz zeigt sich auch am Platz 20 von 47 im Contraception Policy Atlas (Europa), welcher unter anderem bewertet, wie der Zugang zu Verhütungsmitteln, Beratung und Online-Informationen ist. Zudem geben Frauen im Vergleich zu Männern fast doppelt so häufig an, allein für die Verhütung verantwortlich zu sein.5 Dies deutet auf eine ungleiche Verteilung der Verantwortung in sexuellen Beziehungen hin und verdeutlicht, wie wichtig es ist, nicht nur den Zugang zu Verhütungsmitteln zu verbessern, sondern auch das Bewusstsein für gemeinsame Verantwortung in Beziehungen zu fördern.
Allerdings muss auch erwähnt werden, dass man davon absehen sollte, die weibliche Sexualität nur aus dem Aspekt der potenziellen Risiken zu sehen und damit das Lustempfinden in den Hintergrund zu rücken. Im Rahmen der Sexualaufklärung wird häufig der Fokus auf die Verhütung ungewollter Schwangerschaften und die Prävention von Geschlechtskrankheiten gelegt. Diese Aspekte sind zweifellos wichtig, da sie die Selbstbestimmung der Individuen unterstützen und eine verantwortungsvolle Sexualität fördern können. Doch den Schwerpunktauf Risiken und Schutzaspekte zu legen, kann die Sexualität auf den Bereich der Reproduktion und der Prävention beschränken. Eine solche Perspektive könnte dazu führen, dass Lust und Genuss in der Sexualität in den Hintergrund treten.
Selbstliebe und Körperbild
In westlichen Ländern zeigt sich eine Zunahme an Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild, vor allem bei Frauen.6Hierbei ist auch eine deutliche Diskrepanz zwischen gefühltem und tatsächlichem Körperbildsichtbar. So finden sich Mädchen häufig zu dick, auch wenn sie kein Übergewicht haben. Ein negatives Körperbild geht oftmals mit einer Vermeidung von sexuellen Erfahrungen einher,7was eine weitere Hürde für Mädchen und Frauen darstellen kann, Sexualität als eine positive Erfahrung zu erleben. Wie bereits erwähnt, sind Pornografie und die darin vermittelten Frauen- und Körperbilder ebenfalls eine große Herausforderung für Mädchen und junge Frauen. Sie berichten oftmals über Erwartungshaltungen von heterosexuellen Partnern, die aufgrund von Pornografie entstanden sind.
Zu einem positiven Körperbild gehören, wie bereits erwähnt, ein anatomisches Wissen und die Kenntnis optischer Diversitäten. In der Sexualaufklärung wird häufig nicht über dieunterschiedlicheForm von Vulven bzw. Vulvalippen gesprochen. Es wird auch in dieser Hinsicht ein unerreichbares Schönheitsideal angestrebt. Laut der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie sind jeweils ca. 3,8% der Schönheitsoperationen Bruststraffungen durch Implantate und Brustvergrößerungen durch Eigenfett,gefolgt von Intimkorrekturen (3,5%).8 Die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper ist augenscheinlich bei vielen Mädchen sehr beeinträchtigt und das kann sich in der Folge auf die Zufriedenheit mit den sexuellen Erfahrungen und Erlebnissen auswirken.
Sexuelle Bildung muss sich also zur Aufgabe machen, diesen Belastungen vorzubeugen oder sieaufzugreifen, zu diskutieren und die Mädchen zu empowern, um ihren Selbstwert zu stärken. Nur so können sie eine erfüllende und selbstbestimmte Sexualität erleben.
Kommunikation
Für einen offenen Umgang mit der eigenen Sexualität ist es essenziell, die korrekte Terminologie zu beherrschen und auch anzuwenden. Zudem ist eine Enttabuisierung der weiblichen Sexualität und Lust erforderlich. Empirische Studien belegen, dass Frauen, denen es möglich ist, in der Partnerschaft über ihre sexuellen Bedürfnisse zu sprechen, auch von einem positiveren Sexualerleben berichten.9 Die Etablierung entsprechender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ist daher von entscheidender Bedeutung, um Frauen die Kommunikation über ihre Sexualität ohne die Angst vor Stigmatisierung zu ermöglichen. Dabei ist auch wesentlich, dass Frauen die Möglichkeit erhalten, ihre individuellen Grenzen zu erkennen, diese zu akzeptieren und in ihr Verhalten einfließen zu lassen.
In der Konsequenz hat sexuelle Bildung die umfassende Aufgabe, Kinder und Jugendliche auf ihrem Lebensweg zu begleiten und auf die vielfältigen Aspekte einer gesunden Sexualität altersgerecht einzugehen. Der Fokus sollte dabei nicht nur auf ungewollte Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten, sondern auch auf psychosoziale Aspekte gelegt werden. Das Setzen von Grenzen und das Kennen der eigenen Bedürfnisse sollten nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden, sie sind vielmehr eine Fähigkeit, die erlernt werden muss. Eine sexuelle Bildung, die ausder Risikoperspektive stattfindet, sollte gerade bei Mädchen und Frauen vermieden werden, der Fokus sollte auf die positiven Aspekte und den Genuss gelegt werden.
Literatur:
1 Gaiswinkler S et al.: Menstruationsgesundheitsbericht 2024. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) 2024; verfügbar unter https://www.sozialministerium.at/Services/Neuigkeiten-und-Termine/Archiv-2024/praesentation-menstruationsgesundheitsbericht-2024.html (zuletzt aufgerufen am 12.2.2025) 2 Mahar EA et al.: Orgasm equality: scientific findings and societal implications. Curr Sex Health Rep 2020;12(1): 24-32 3 Schick VR et al.: Genital appearance dissatisfaction: implications for women’s genital image self-consciousness, sexual esteem, sexual satisfaction, and sexualrisk. Psychol Women Q 2010; 34(3): 394-404 4 Gaiswinkler S et al.: Verhütungsbericht 2024. BMSGPK2024; verfügbar unter https://www.sozialministerium.at/Services/Neuigkeiten-und-Termine/Archiv-2024/verhuetungsbericht.html (zuletzt aufgerufen am 12.2.2025) 5 Fiala C, Parzer E: Verhütungsreport 2019. Gynmed Ambulatorium 2019; verfügbar unter https://verhuetungsreport.at/ (zuletzt aufgerufen am 12.2.2025) 6 Gaiswinkler S et al.: Frauengesundheitsbericht 2022. BMSGPK 2023; verfügbar unter https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Frauen--und-Gendergesundheit.htmlcc (zuletzt aufgerufen am 18.2.2025) 7 Döring N: Körperbild. In: Wirtz MA (Hg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie (Online-Version). Hogrefe 2024; verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/ (zuletzt aufgerufen am 18.2.2025) 8 Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie: DGAEPC-Statistik 2022–2023. DGAEPC 2023; verfügbar unter https://www.dgaepc.de/aktuelles/dgaepc-statistik/dgaepc-statistik-2023/ (zuletzt aufgerufen am 12.2.2025) 9 Muin DA et al.: Effect of long-term intranasal oxytocin on sexual dysfunction in premenopausal and postmenopausal women: a randomized trial. Fertil Steril 2015; 104(3): 715-23.e4
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