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Neue orthopädische Behelfe

<p class="article-intro">Die Digitalisierung (Scantechnik, 3D-Druck, elektronische Mess- und Steuersysteme etc.) führt zu einer Individualisierung der Patientenversorgung. Es werden damit orthopädische Behelfe mit neuen Funktionen verfügbar, die Behandlungsregime verändern.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Aus orthop&auml;dietechnischer Sicht ver&auml;ndert die Digitalisierung nicht nur die Fertigungsprozesse, sondern revolutioniert das Zusammenwirken von Medizin und Orthop&auml;dietechnik.</li> <li>Die Scantechnik ist nicht das neue Gipsmodell &ndash; sie wird vielmehr zum Bindeglied zwischen medizinischen Daten (CT, MRI etc.) und den neuen technischen M&ouml;glichkeiten (Scan-Daten) f&uuml;r die Orthesen- und Prothesenproduktion bis hin zum 3D-Druck.</li> <li>Die gleichzeitige dreidimensionale Dokumentation visualisiert die Therapieeffekte f&uuml;r den Arzt und liefert so Informationen f&uuml;r eine individuelle Behandlungsanpassung.</li> <li>Orthesen k&ouml;nnen dank elektronischer Funktionen nicht nur dokumentieren, sondern auch Bewegungsabl&auml;ufe anleiten und den Patienten an ein selbstst&auml;ndiges physiotherapeutisches &Uuml;bungsprogramm heranf&uuml;hren.</li> </ul> </div> <h2>Digitalisierung der Orthetik und Prothetik</h2> <p>Die Digitalisierung bedeutet, dass zunehmend elektronische Verfahren in die Orthop&auml;dietechnik Einzug halten. Aus dem Wortstamm &bdquo;digitus&ldquo; (&bdquo;Finger&ldquo;) wird aber klar, dass wir weiterhin unsere Finger im Spiel haben und trotz erster Automatisierungsschritte das technische K&ouml;nnen und anatomische Wissen der Orthop&auml;dietechniker (OT) und Orthop&auml;dieschuhmacher (OSM) entscheidend f&uuml;r das funktionelle Ergebnis von Prothesen und Orthesen bleiben. <br />Die Scantechnik nur als Ersatz f&uuml;r das Gipsmodell anzusehen ist sicherlich zu wenig. Die als &bdquo;Subtraktionsscan&ldquo; vorgestellte Technik dokumentiert die Differenz zwischen zwei gescannten Formen und erweitert so deren Einsatzbereich. Damit wird eine Verbindung zwischen den medizinischen Daten von CT oder MRI zu den technischen Scandaten hergestellt (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1804_Weblinks_s18_1.jpg" alt="" width="2150" height="1548" /><br />Aus medizinischer Sicht kann diese Darstellung auch zur Dokumentation der Behandlungsergebnisse in dreidimensionaler Form verwendet werden. Formver&auml;nderungen wie Gewichtszunahme, Operationsergebnisse oder Behandlungsfortschritte und vieles mehr werden sichtbar gemacht (Abb. 2). <br />Aus technischer Sicht werden die Daten direkt oder indirekt zur Orthesen- und Prothesenproduktion verwendet. Indirekte Fertigung bedeutet, dass aus den Daten ein Modell gefr&auml;st wird, auf das die Orthese oder Prothese in herk&ouml;mmlicher Art und Weise gefertigt wird. <br />Direkte Fertigung bedeutet die Verwendung eines 3D-Datensatzes (&uuml;blicherweise STL-Format), der in FDM (&bdquo;Fused Deposition Modelling&ldquo;)-Technik oder in Sintertechnik das Orthesen- oder Prothesenwerkst&uuml;ck produziert. Der 3D-Druck ist besonders bei der Orthop&auml;dieschuhtechnik f&uuml;r die Fertigung von Probeschuhen mittlerweile weit verbreitet. Noch bestehende Nachteile bei der Nachbearbeitbarkeit sollen nicht unerw&auml;hnt bleiben. Die ersten Prothesen aus dem 3D-Drucker wurden gefertigt und haben die geforderten Testreihen hinsichtlich Haltbarkeit erfolgreich absolviert. <br />In der Korsettfertigung zur Skoliosebehandlung muss besonders die M&ouml;glichkeit der Fertigung komplexer dreidimensionaler Strukturen hervorgehoben werden, die ein luftdurchl&auml;ssiges Hilfsmittel liefert. Die Entwicklung geht aber weiter und so werden f&uuml;r die Skoliosekorrektur erste automatisierte Berechnungsmodelle in Finite-Elemente-Methode (FEM), wie wir sie aus der Autoindustrie kennen, zur Korsettfertigung angeboten. Die automatisierte Formgebung (Korrektur) kann zunehmend CT- oder MRI-Daten mit Scandaten verkn&uuml;pfen und so eine Verbindung zwischen den anatomischen Strukturen (Knochen, Muskulatur, Fettgewebe etc.) mit den technischen Messdaten herstellen.<br />All die genannten Entwicklungen erfordern einen hohen finanziellen Einsatz, der durch das Outsourcen von Arbeitsschritten bis hin zur Fremdfertigung reicht.<sup>1</sup></p> <h2>Die Elektronik in der Prothetik und Orthetik</h2> <p>Bei der Prothesenversorgung nach Amputation hat die Elektronik seit vielen Jahren einen hohen Stellenwert. Die Myoelektrik nach Armamputation oder elektronisch gesteuerte Kniepassteile seien beispielhaft genannt. <br />Die Miniaturisierung der Elektronik zur Steuerung von Orthesengelenken verbessert zusehends deren Alltagstauglichkeit. Die Verbesserung der Energiespeicherdichte der Batterien tr&auml;gt das &Uuml;brige dazu bei. Beispielhaft soll f&uuml;r die Gangsicherheit die Schwungphasen- und Standphasensteuerung der Kniegelenke von Oberschenkelorthesen bei L&auml;hmung genannt werden. Das Exoskelett zur Mobilisierung von Patienten nach Querschnittl&auml;hmung bleibt vorerst noch ein Therapieger&auml;t, trotz individueller Anpassung. <br />Waren es in den letzten Jahren nur einfache Chips zur Dokumentation der Compliance bei der Skolioseversorgung, so werden zunehmend Vernetzungen zwischen Orthese und App zur Beurteilung der physiotherapeutischen Ma&szlig;nahmen angewendet. Orthesen in ihren verschiedensten Formen bleiben damit nicht mehr auf ihre angestammte biomechanische Funktion beschr&auml;nkt. Wenn Kleidungsst&uuml;cke Messdaten der sportlichen Leistung liefern, so sind die M&ouml;glichkeiten f&uuml;r ein physiotherapeutisches Kontrollprogramm nicht mehr fern. Wenn das Kleidungsst&uuml;ck oder die Body-Orthese, auf welche Bezeichnung man sich auch einigt, das &Uuml;bungsprogramm f&uuml;r den Patienten nicht nur dokumentiert, sondern auch den Patienten anleitet, so wird aus einem &bdquo;Sportger&auml;t&ldquo; ein medizinisches Hilfsmittel. <br />Schrittz&auml;hler, Kalorienverbrauch, Bewegungsmessung, Compliance etc. sind die Schlagworte, die unsere Patienten zu einem aktiven und selbstst&auml;ndigen &Uuml;bungsprogramm anleiten sollen. Die Aktivierung unserer Diabetespatienten kann durch diese Hilfsmittel in Kombination mit Glukose-Sensor-Systemen (&bdquo;continuous glucose monitoring&ldquo;, GCM) nicht nur Einblicke in den Lebensstil liefern, sondern auch entsprechende gesundheitsf&ouml;rdernde Ma&szlig;nahmen etablieren.</p> <h2>Osseointegration und TMR</h2> <p>Wenn in Wien die erste Osseointegration bei Oberarmamputation in funktioneller Verbindung mit &bdquo;target muscle reinnervation&ldquo; (TMR) vorgestellt wurde, so gibt es damit f&uuml;r zwei orthop&auml;dietechnische Probleme einen Fortschritt. Bei der Osseointegration wird ein Adapter in den Knochen implantiert, dessen Anschlussteil durch die Haut ragt und damit eine fixe prothesenschaftfreie Verbindung mit der Exoprothese eingeht. TMR bedeutet, dass einzelne Nerven in ein muskul&auml;res Erfolgsorgan verlagert werden, damit eine verbesserte Signaldifferenzierung f&uuml;r die myoelektrische Prothesensteuerung erm&ouml;glicht wird. Die Prothesenversorgung wird von der handwerklich entscheidenden Prothesenschaftversorgung zum elektronischen Hightech-Produkt mit einer immunologischen Herausforderung an der Adapterdurchtrittsstelle durch die Haut. Dieser Entwicklungsschritt verlangt vom Orthop&auml;dietechniker hohes anatomisches Fachwissen, elektronische Kenntnisse, handwerkliches K&ouml;nnen und f&uuml;hrt damit diese Berufsgruppe n&auml;her an die medizinische Versorgung heran.<sup>2</sup></p> <h2>Die evidenzbasierte Medizin in der Orthop&auml;dietechnik</h2> <p>Die Korsettversorgung bei Skoliosen hat sich durch wissenschaftliche Beharrlichkeit vom Mief des &bdquo;Gestrigen&ldquo; befreit. Wenn es eine Studie in das &bdquo;New England Journal of Medicine&ldquo; schafft, so ist dies etwas Besonderes. Wenn diese prospektive Studie dann auch noch gestoppt werden muss, da die Erfolge der Korsettversorgung den Patienten der Kontrollgruppe aus ethischen Gr&uuml;nden nicht mehr vorenthalten werden darf, so gibt dies neuen Auftrieb f&uuml;r diese Behandlungsform. Zu betonen ist, dass die Eingrenzung auf Erfolg versprechende Behandlungskriterien entscheidend ist. Die Grenzen der Korsettindikation zu kennen und zu akzeptieren ist entscheidend (Cobb-Winkel &gt;20&deg;&ndash;40&deg;, Risser 0&ndash;II).<sup>3</sup><br />Jede Skoliose von Kindern und Jugendlichen als idiopathisch zu bezeichnen ist dagegen zum Scheitern verurteilt. Es kommt damit der differenzierten Untersuchung und einem realistischen Therapieziel eine besondere Bedeutung zu, die mit kompetenter handwerklicher Ausf&uuml;hrung und begleitender gezielter Physiotherapie bei entsprechender Compliance zum Erfolg f&uuml;hren.<br /> Die Ver&auml;nderungen im &ouml;sterreichischen Gesundheitssystem f&uuml;hren zur Realisierung neuer Denkans&auml;tze, die am Beispiel von Schuheinlagen aufgezeigt werden sollen. Das Besondere dabei ist, dass von den Orthop&auml;dieschuhmachern und Orthop&auml;dietechnikern eine neue Abkl&auml;rungstiefe und Dokumentationsleistung gefordert und abgegolten wird. Dies betrifft Pathologien, die &uuml;ber die Bezeichnung Spreizfu&szlig;, Senkfu&szlig; etc. hinausgehen. Ein Spreizfu&szlig; mit der Differenzierung einer Minusvariante des Metatarsale I oder das Zusammenspiel mit einer komplexen Zehenfehlstellung bei L&auml;sion der plantaren Platte seien daf&uuml;r beispielhaft genannt. Damit die strukturellen Befunde in die Versorgung einflie&szlig;en k&ouml;nnen, sind eine vorhandene Bildgebung und versorgungsrelevante Befunderg&auml;nzungen dem Techniker als verkn&uuml;pfbarer Datensatz zur Verf&uuml;gung zu stellen. Die Techniker sind damit gefordert, die genannte Pathologie in die Form aufzunehmen sowie die notwendige Dokumentationsleistung zu liefern. Es wird ein einheitliches Dokumentationssystem angestrebt, das eine messbare dreidimensionale Verlaufsbeurteilung erm&ouml;glicht. Durch die Digitalisierung erhalten die &Auml;rzte damit eine dreidimensionale Darstellung der Fu&szlig;entwicklung als Entscheidungshilfe f&uuml;r das weitere Vorgehen. Langfristig sollte damit auch die Effektivit&auml;t der Schuheinlagen nach EBM-Kriterien erhoben werden (Abb. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1804_Weblinks_s18_2.jpg" alt="" width="2150" height="1171" /></p> <h2>Zukunftsperspektiven</h2> <p>Neigt sich das Zeitalter der standardisierten Massenprodukte aus Billiglohnl&auml;ndern dem Ende zu? Orthesen der Gr&ouml;&szlig;e S, M, L, XL k&ouml;nnen ihren Einsatzzweck h&auml;ufig nur schwer erf&uuml;llen. <br />Scan und 3D-Druck individualisieren bei kurzen Lieferzeiten besonders die Orthesenversorgung. Ma&szlig;schuhe aus dem 3D-Drucker sind keine Zukunftsmusik mehr. Ma&szlig;schuhe f&uuml;r alle? Verschwimmt die Grenze zwischen Eigenverantwortung und Pathologie als Verantwortungsbereich von Medizin und Kassenleistung? <br />Die Prothetik wird von immer neuen elektronischen Kniegelenksfunktionen, Fu&szlig;passteilen und myoelektrischen H&auml;nden beherrscht. Die Schafttechnik wird damit zusehends zum Schwachpunkt der Versorgung. TMR und Osseointegration er&ouml;ffnen neue Versorgungsm&ouml;glichkeiten. Die Osseointegration hat besonders bei der transfemoralen Amputation ihre Berechtigung, ohne die Risiken von Infekt und Lockerung des Implantates au&szlig;er Acht zu lassen. Die TMR verbessert aus technischer Sicht die Nervensignal&uuml;bertragung und damit die Funktionalit&auml;t myoelektrischer Prothesen.<br />Die aus dem Sport bekannten Messinstrumente als Uhren und Apps kommen zunehmend auch in der Orthop&auml;dietechnik zum Einsatz. Messung der Compliance, Schrittz&auml;hler, Bewegungssensoren etc. lassen die Grenzen zwischen der Orthese als orthop&auml;dietechnisches Hilfsmittel und als physiotherapeutisches Messinstrument zur selbstst&auml;ndigen Behandlungsdurchf&uuml;hrung verschwimmen. Die &bdquo;konservativen orthop&auml;dietechnischen Therapiema&szlig;nahmen&ldquo; werden damit durch ihre Messbarkeit und dreidimensionale Dokumentation einer evidenzbasierten Medizin zug&auml;nglich.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Pea R et al.: Computer-assisted design and finite element simulation of braces for the treatment of adolescent idiopathic scoliosis using a coronal plane radiograph and surface topography. Clin Biomech 2018; 54: 86-91 <strong>2</strong> Farina D et al.: Noninvasive, accurate assessment of the behavior of representative populations of motor units in targeted reinnervated muscles. Trans Neural Syst Rehabil Eng 2014; 22(4): 810-9 <strong>3</strong> Stuart L et al.: Effects of bracing in adolescents with idiopathic scoliosis. N Engl J Med 2013; 369: 1512-21</p> </div> </p>
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