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Neue orthopädische Behelfe
Jatros
Autor:
Dr. Franz Landauer
1. Oberarzt für Orthopädie<br>Univ.-Klinik für Orthopädie und Traumatologie <br>PMU Salzburg<br>E-Mail: f.landauer@salk.at
30
Min. Lesezeit
12.07.2018
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<p class="article-intro">Die Digitalisierung (Scantechnik, 3D-Druck, elektronische Mess- und Steuersysteme etc.) führt zu einer Individualisierung der Patientenversorgung. Es werden damit orthopädische Behelfe mit neuen Funktionen verfügbar, die Behandlungsregime verändern.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Aus orthopädietechnischer Sicht verändert die Digitalisierung nicht nur die Fertigungsprozesse, sondern revolutioniert das Zusammenwirken von Medizin und Orthopädietechnik.</li> <li>Die Scantechnik ist nicht das neue Gipsmodell – sie wird vielmehr zum Bindeglied zwischen medizinischen Daten (CT, MRI etc.) und den neuen technischen Möglichkeiten (Scan-Daten) für die Orthesen- und Prothesenproduktion bis hin zum 3D-Druck.</li> <li>Die gleichzeitige dreidimensionale Dokumentation visualisiert die Therapieeffekte für den Arzt und liefert so Informationen für eine individuelle Behandlungsanpassung.</li> <li>Orthesen können dank elektronischer Funktionen nicht nur dokumentieren, sondern auch Bewegungsabläufe anleiten und den Patienten an ein selbstständiges physiotherapeutisches Übungsprogramm heranführen.</li> </ul> </div> <h2>Digitalisierung der Orthetik und Prothetik</h2> <p>Die Digitalisierung bedeutet, dass zunehmend elektronische Verfahren in die Orthopädietechnik Einzug halten. Aus dem Wortstamm „digitus“ („Finger“) wird aber klar, dass wir weiterhin unsere Finger im Spiel haben und trotz erster Automatisierungsschritte das technische Können und anatomische Wissen der Orthopädietechniker (OT) und Orthopädieschuhmacher (OSM) entscheidend für das funktionelle Ergebnis von Prothesen und Orthesen bleiben. <br />Die Scantechnik nur als Ersatz für das Gipsmodell anzusehen ist sicherlich zu wenig. Die als „Subtraktionsscan“ vorgestellte Technik dokumentiert die Differenz zwischen zwei gescannten Formen und erweitert so deren Einsatzbereich. Damit wird eine Verbindung zwischen den medizinischen Daten von CT oder MRI zu den technischen Scandaten hergestellt (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1804_Weblinks_s18_1.jpg" alt="" width="2150" height="1548" /><br />Aus medizinischer Sicht kann diese Darstellung auch zur Dokumentation der Behandlungsergebnisse in dreidimensionaler Form verwendet werden. Formveränderungen wie Gewichtszunahme, Operationsergebnisse oder Behandlungsfortschritte und vieles mehr werden sichtbar gemacht (Abb. 2). <br />Aus technischer Sicht werden die Daten direkt oder indirekt zur Orthesen- und Prothesenproduktion verwendet. Indirekte Fertigung bedeutet, dass aus den Daten ein Modell gefräst wird, auf das die Orthese oder Prothese in herkömmlicher Art und Weise gefertigt wird. <br />Direkte Fertigung bedeutet die Verwendung eines 3D-Datensatzes (üblicherweise STL-Format), der in FDM („Fused Deposition Modelling“)-Technik oder in Sintertechnik das Orthesen- oder Prothesenwerkstück produziert. Der 3D-Druck ist besonders bei der Orthopädieschuhtechnik für die Fertigung von Probeschuhen mittlerweile weit verbreitet. Noch bestehende Nachteile bei der Nachbearbeitbarkeit sollen nicht unerwähnt bleiben. Die ersten Prothesen aus dem 3D-Drucker wurden gefertigt und haben die geforderten Testreihen hinsichtlich Haltbarkeit erfolgreich absolviert. <br />In der Korsettfertigung zur Skoliosebehandlung muss besonders die Möglichkeit der Fertigung komplexer dreidimensionaler Strukturen hervorgehoben werden, die ein luftdurchlässiges Hilfsmittel liefert. Die Entwicklung geht aber weiter und so werden für die Skoliosekorrektur erste automatisierte Berechnungsmodelle in Finite-Elemente-Methode (FEM), wie wir sie aus der Autoindustrie kennen, zur Korsettfertigung angeboten. Die automatisierte Formgebung (Korrektur) kann zunehmend CT- oder MRI-Daten mit Scandaten verknüpfen und so eine Verbindung zwischen den anatomischen Strukturen (Knochen, Muskulatur, Fettgewebe etc.) mit den technischen Messdaten herstellen.<br />All die genannten Entwicklungen erfordern einen hohen finanziellen Einsatz, der durch das Outsourcen von Arbeitsschritten bis hin zur Fremdfertigung reicht.<sup>1</sup></p> <h2>Die Elektronik in der Prothetik und Orthetik</h2> <p>Bei der Prothesenversorgung nach Amputation hat die Elektronik seit vielen Jahren einen hohen Stellenwert. Die Myoelektrik nach Armamputation oder elektronisch gesteuerte Kniepassteile seien beispielhaft genannt. <br />Die Miniaturisierung der Elektronik zur Steuerung von Orthesengelenken verbessert zusehends deren Alltagstauglichkeit. Die Verbesserung der Energiespeicherdichte der Batterien trägt das Übrige dazu bei. Beispielhaft soll für die Gangsicherheit die Schwungphasen- und Standphasensteuerung der Kniegelenke von Oberschenkelorthesen bei Lähmung genannt werden. Das Exoskelett zur Mobilisierung von Patienten nach Querschnittlähmung bleibt vorerst noch ein Therapiegerät, trotz individueller Anpassung. <br />Waren es in den letzten Jahren nur einfache Chips zur Dokumentation der Compliance bei der Skolioseversorgung, so werden zunehmend Vernetzungen zwischen Orthese und App zur Beurteilung der physiotherapeutischen Maßnahmen angewendet. Orthesen in ihren verschiedensten Formen bleiben damit nicht mehr auf ihre angestammte biomechanische Funktion beschränkt. Wenn Kleidungsstücke Messdaten der sportlichen Leistung liefern, so sind die Möglichkeiten für ein physiotherapeutisches Kontrollprogramm nicht mehr fern. Wenn das Kleidungsstück oder die Body-Orthese, auf welche Bezeichnung man sich auch einigt, das Übungsprogramm für den Patienten nicht nur dokumentiert, sondern auch den Patienten anleitet, so wird aus einem „Sportgerät“ ein medizinisches Hilfsmittel. <br />Schrittzähler, Kalorienverbrauch, Bewegungsmessung, Compliance etc. sind die Schlagworte, die unsere Patienten zu einem aktiven und selbstständigen Übungsprogramm anleiten sollen. Die Aktivierung unserer Diabetespatienten kann durch diese Hilfsmittel in Kombination mit Glukose-Sensor-Systemen („continuous glucose monitoring“, GCM) nicht nur Einblicke in den Lebensstil liefern, sondern auch entsprechende gesundheitsfördernde Maßnahmen etablieren.</p> <h2>Osseointegration und TMR</h2> <p>Wenn in Wien die erste Osseointegration bei Oberarmamputation in funktioneller Verbindung mit „target muscle reinnervation“ (TMR) vorgestellt wurde, so gibt es damit für zwei orthopädietechnische Probleme einen Fortschritt. Bei der Osseointegration wird ein Adapter in den Knochen implantiert, dessen Anschlussteil durch die Haut ragt und damit eine fixe prothesenschaftfreie Verbindung mit der Exoprothese eingeht. TMR bedeutet, dass einzelne Nerven in ein muskuläres Erfolgsorgan verlagert werden, damit eine verbesserte Signaldifferenzierung für die myoelektrische Prothesensteuerung ermöglicht wird. Die Prothesenversorgung wird von der handwerklich entscheidenden Prothesenschaftversorgung zum elektronischen Hightech-Produkt mit einer immunologischen Herausforderung an der Adapterdurchtrittsstelle durch die Haut. Dieser Entwicklungsschritt verlangt vom Orthopädietechniker hohes anatomisches Fachwissen, elektronische Kenntnisse, handwerkliches Können und führt damit diese Berufsgruppe näher an die medizinische Versorgung heran.<sup>2</sup></p> <h2>Die evidenzbasierte Medizin in der Orthopädietechnik</h2> <p>Die Korsettversorgung bei Skoliosen hat sich durch wissenschaftliche Beharrlichkeit vom Mief des „Gestrigen“ befreit. Wenn es eine Studie in das „New England Journal of Medicine“ schafft, so ist dies etwas Besonderes. Wenn diese prospektive Studie dann auch noch gestoppt werden muss, da die Erfolge der Korsettversorgung den Patienten der Kontrollgruppe aus ethischen Gründen nicht mehr vorenthalten werden darf, so gibt dies neuen Auftrieb für diese Behandlungsform. Zu betonen ist, dass die Eingrenzung auf Erfolg versprechende Behandlungskriterien entscheidend ist. Die Grenzen der Korsettindikation zu kennen und zu akzeptieren ist entscheidend (Cobb-Winkel >20°–40°, Risser 0–II).<sup>3</sup><br />Jede Skoliose von Kindern und Jugendlichen als idiopathisch zu bezeichnen ist dagegen zum Scheitern verurteilt. Es kommt damit der differenzierten Untersuchung und einem realistischen Therapieziel eine besondere Bedeutung zu, die mit kompetenter handwerklicher Ausführung und begleitender gezielter Physiotherapie bei entsprechender Compliance zum Erfolg führen.<br /> Die Veränderungen im österreichischen Gesundheitssystem führen zur Realisierung neuer Denkansätze, die am Beispiel von Schuheinlagen aufgezeigt werden sollen. Das Besondere dabei ist, dass von den Orthopädieschuhmachern und Orthopädietechnikern eine neue Abklärungstiefe und Dokumentationsleistung gefordert und abgegolten wird. Dies betrifft Pathologien, die über die Bezeichnung Spreizfuß, Senkfuß etc. hinausgehen. Ein Spreizfuß mit der Differenzierung einer Minusvariante des Metatarsale I oder das Zusammenspiel mit einer komplexen Zehenfehlstellung bei Läsion der plantaren Platte seien dafür beispielhaft genannt. Damit die strukturellen Befunde in die Versorgung einfließen können, sind eine vorhandene Bildgebung und versorgungsrelevante Befundergänzungen dem Techniker als verknüpfbarer Datensatz zur Verfügung zu stellen. Die Techniker sind damit gefordert, die genannte Pathologie in die Form aufzunehmen sowie die notwendige Dokumentationsleistung zu liefern. Es wird ein einheitliches Dokumentationssystem angestrebt, das eine messbare dreidimensionale Verlaufsbeurteilung ermöglicht. Durch die Digitalisierung erhalten die Ärzte damit eine dreidimensionale Darstellung der Fußentwicklung als Entscheidungshilfe für das weitere Vorgehen. Langfristig sollte damit auch die Effektivität der Schuheinlagen nach EBM-Kriterien erhoben werden (Abb. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1804_Weblinks_s18_2.jpg" alt="" width="2150" height="1171" /></p> <h2>Zukunftsperspektiven</h2> <p>Neigt sich das Zeitalter der standardisierten Massenprodukte aus Billiglohnländern dem Ende zu? Orthesen der Größe S, M, L, XL können ihren Einsatzzweck häufig nur schwer erfüllen. <br />Scan und 3D-Druck individualisieren bei kurzen Lieferzeiten besonders die Orthesenversorgung. Maßschuhe aus dem 3D-Drucker sind keine Zukunftsmusik mehr. Maßschuhe für alle? Verschwimmt die Grenze zwischen Eigenverantwortung und Pathologie als Verantwortungsbereich von Medizin und Kassenleistung? <br />Die Prothetik wird von immer neuen elektronischen Kniegelenksfunktionen, Fußpassteilen und myoelektrischen Händen beherrscht. Die Schafttechnik wird damit zusehends zum Schwachpunkt der Versorgung. TMR und Osseointegration eröffnen neue Versorgungsmöglichkeiten. Die Osseointegration hat besonders bei der transfemoralen Amputation ihre Berechtigung, ohne die Risiken von Infekt und Lockerung des Implantates außer Acht zu lassen. Die TMR verbessert aus technischer Sicht die Nervensignalübertragung und damit die Funktionalität myoelektrischer Prothesen.<br />Die aus dem Sport bekannten Messinstrumente als Uhren und Apps kommen zunehmend auch in der Orthopädietechnik zum Einsatz. Messung der Compliance, Schrittzähler, Bewegungssensoren etc. lassen die Grenzen zwischen der Orthese als orthopädietechnisches Hilfsmittel und als physiotherapeutisches Messinstrument zur selbstständigen Behandlungsdurchführung verschwimmen. Die „konservativen orthopädietechnischen Therapiemaßnahmen“ werden damit durch ihre Messbarkeit und dreidimensionale Dokumentation einer evidenzbasierten Medizin zugänglich.</p></p>
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<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Pea R et al.: Computer-assisted design and finite element simulation of braces for the treatment of adolescent idiopathic scoliosis using a coronal plane radiograph and surface topography. Clin Biomech 2018; 54: 86-91 <strong>2</strong> Farina D et al.: Noninvasive, accurate assessment of the behavior of representative populations of motor units in targeted reinnervated muscles. Trans Neural Syst Rehabil Eng 2014; 22(4): 810-9 <strong>3</strong> Stuart L et al.: Effects of bracing in adolescents with idiopathic scoliosis. N Engl J Med 2013; 369: 1512-21</p>
</div>
</p>
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