© Getty Images/iStockphoto

Österreichische Leitlinie Kreuzschmerzen

<p class="article-intro">Die österreichische Leitlinie „Update der evidenz- und konsensusbasierten österreichischen Leitlinien für das Management akuter und chronischer unspezifischer Kreuzschmerzen 2011“<sup>1</sup> entstand unter Mitarbeit von Experten des BMG sowie zahlreichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Die getroffenen Aussagen basieren auf einer sorgfältigen Literaturrecherche und Expertenempfehlungen. Hohe Praxisrelevanz und „Augenmaß“ kennzeichnen diese zur Erschließung und Vermittlung von Wissen in diesem Bereich gut geeignete Leitlinie.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <strong>Diagnostische Empfehlungen der Leitlinie:</strong> <ul style="list-style-type: none;"> <li>- Differenzierung nach Dauer der Symptomatik (Tab. 1)</li> <li>- Ausschluss spezifischer Kreuzschmerzformen, wenn zumindest eine &bdquo;red flag&ldquo; vorliegt (Tab. 2)</li> <li>- Bildgebung und Labor nur, wenn Anamnese oder klinische Befunderhebung Hinweise auf das Vorliegen spezifischer Ursachen geben, oder bei Fortbestehen der Beschwerden 4&ndash;6 Wochen nach deren Beginn Therapie des akuten unspezifischen Kreuzschmerzes:</li> <li>- Aktivit&auml;t beibehalten, medikament&ouml;se Behandlung, 70 % Spontanremission innerhalb von 6 Wochen</li> <li>- First Line: NSAR, Second Line: Muskelrelaxanzien, Opioide; weiters Manualtherapie, physikalische Kombinationstherapie</li> <li>- Der Chronifizierungsprozess durch psychosoziale und somatische Faktoren sollte durch rechtzeitige Behandlung hintangehalten werden (Warnhinweise siehe Tab. 3).</li> </ul> <strong>Therapie des chronischen unspezifischen Kreuzschmerzes:</strong> <ul style="list-style-type: none;"> <li>- NSAR: cave Sicherheitsprobleme (KI, KHK und Schlaganfallsrisiko, Gastrointestinaltrakt, Leber, Niere, Blutungsrisiko)</li> <li>- Opioidanalgetika Second Line, Antidepressiva als Koanalgetika, Muskelrelaxanzien (cave Abh&auml;ngigkeitspotenzial), Capsaicin (Spezialform: Munari-Packung), Antikonvulsiva beim neuropathischen Schmerz, facettengelenksnahe und epidurale Infiltrationen als Probetherapie, physikalische Kombinationstherapie, psychologische Behandlung und Psychotherapie</li> <li>- Weitere Ma&szlig;nahmen: Radiofrequenztherapie, Spinal-Cord-Stimulation, Akupunktur</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s27_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="549" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s27_tab2.jpg" alt="" width="686" height="1715" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s27_tab3.jpg" alt="" width="1417" height="1180" /></p> </div> <h2>Nutzen und Grenzen von Leitlinien</h2> <p>Leitlinien k&ouml;nnen helfen, Wissen zu erschlie&szlig;en und Wissen zu vermitteln. Als alleinige Grundlage zur Anwendung im konkreten Fall eines Patienten greifen sie zu kurz bzw. sind sie sogar fallweise gef&auml;hrlich. Leitlinien werden unter Abstraktion gro&szlig;er Teile der Wirklichkeit modellhaft erstellt, um eine breite Anwendbarkeit zu gew&auml;hrleisten. Diese ausgeblendeten Teile der Wirklichkeit und vom Modell nicht erfassten Bereiche sind aber ma&szlig;geblich f&uuml;r den Therapieerfolg. Nimmt man dem Arzt die M&ouml;glichkeit, situativ zu entscheiden, und bindet man ihn an die Festlegungen von Leitlinien, bedeutet dies ein erh&ouml;htes Risiko von Fehlentscheidungen. So zeigt eine &ouml;sterreichische Multicenterstudie zur ambulant erworbenen Pneumonie, dass nach Leitlinie behandelte Patienten ein deutlich h&ouml;heres Mortalit&auml;tsrisiko aufweisen als solche, bei denen der behandelnde Pulmologe situativ entscheidet.<sup>2</sup> Auch in den USA &auml;nderten die Centers for Medicare &amp; Medicaid Services (CMS)/Joint Commission die Vorgehensweise bei Pneumoniebehandlung, nachdem bekannt geworden war, dass nach Leitlinie behandelte Pneumoniepatienten &ouml;fter sterben als solche, bei denen die &Auml;rzte nach eigenem Ermessen entscheiden.<sup>3</sup><br /> Die Beschr&auml;nkung bei der Leitlinienerstellung auf ausschlie&szlig;lich externe Evidenz und hier auf die Einschr&auml;nkung, nur Evidenz der Klassen I und IIa heranzuziehen, f&uuml;hrt zum Ausblenden gro&szlig;er Teile der medizinischen Wirklichkeit, insbesondere der individuellen Expertise des behandelnden Arztes und der klinischen Bed&uuml;rfnisse des Patienten. Diese beiden Entit&auml;ten sind aber zentrale Forderungen der evidenzbasierten Medizin. H&auml;ufig erfolgen das Design von Studien und die Erstellung von Literatur&uuml;bersichten interessengeleitet. Nach meinem Daf&uuml;rhalten ist die &ouml;sterreichische Leitlinie f&uuml;r das Management akuter und chronischer unspezifischer Kreuzschmerzen diesbez&uuml;glich wesentlich realit&auml;tsorientierter und &ndash; da auch Expertenmeinung in die Erstellung eingeflossen ist &ndash; breit anwendbar.<br /><br /> Die vorliegende Leitlinie sieht sich als Orientierungshilfe. Es wird betont, dass ein Abweichen vom empfohlenen Vorgehen in bestimmten F&auml;llen nicht nur sinnvoll, sondern sogar angezeigt sein wird.</p> <h2>Vorgehen bei der Erstellung der Leitlinie</h2> <p>Unter dem Vorsitz von Prim. em. Univ.- Prof. Dr. Martin Friedrich, Center of Excellence for Orthopaedic Pain Management Speising (CEOPS), waren in der Arbeitsgruppe t&auml;tig: Vertreter des Bundesministeriums f&uuml;r Gesundheit, der &Ouml;sterreichischen &Auml;rztekammer (&Ouml;&Auml;K), der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie (&Ouml;GPP), der &Ouml;sterreichischen R&ouml;ntgengesellschaft (&Ouml;RG), der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Allgemeinmedizin (&Ouml;GAM), der &Ouml;sterreichischen Schmerzgesellschaft (&Ouml;SG), der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Orthop&auml;die und orthop&auml;dische Chirurgie (&Ouml;GO), der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Neurologie (&Ouml;GN), der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Rheumatologie und Rehabilitation (&Ouml;GR), der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Neurochirurgie (&Ouml;GNC) und der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Physikalische Medizin und Rehabilitation (&Ouml;GPMR) sowie Vertreter der Physiotherapeuten und Ergotherapeuten.<br /><br /> Als Grundlage dienten europ&auml;ische Leitlinien und Instrumente zur Leitlinienbewertung. Wissenschaftliche Daten des Evidenzgrades Ia bis IIa und Empfehlungsgrad a und b wurden einbezogen. Bei manchen Empfehlungen wurde auf unzureichende und/oder widerspr&uuml;chliche Evidenzlage hingewiesen, weiters wurde Expertenmeinung eingeholt.</p> <h2>Einteilung</h2> <p>Der Begriff Kreuzschmerz (&bdquo;low back pain&ldquo;) wird definiert als Schmerz im Bereich zwischen den 12. Rippen und den unteren Glutealfalten, mit oder ohne Ausstrahlung ins Bein. Er wird differenziert in akut, subakut, chronisch, akut rezidivierend und chronisch rezidivierend (Tab. 1). Zun&auml;chst wird der Ausschluss spezifischer Kreuzschmerzformen empfohlen, wobei die in Tabelle 2 angef&uuml;hrten klinischen Alarmsymptome zu beachten sind.<br /> Degenerative Wirbels&auml;ulenver&auml;nderungen werden nur insofern als spezifische Kreuzschmerzform bezeichnet, als ihr klinisches Bild eng mit dem morphologischen Substrat korreliert und dessen Nachweis therapeutische Implikationen nach sich zieht, vor allem Anterolisthese und Modic-L&auml;sion. Ist durch Anamnese und klinische Befunderhebung kein Hinweis auf eine spezifische Ursache gegeben, sollen Bildgebung und Labor erst bei Fortbestehen der Beschwerden nach 4 bis 6 Wochen zum Einsatz kommen.</p> <h2>Therapie des akuten unspezifischen Kreuzschmerzes</h2> <p>Neben der medikament&ouml;sen Therapie ist beim akuten Kreuzschmerz die Aufkl&auml;rung der Patienten &uuml;ber den Verlauf der Erkrankung eine der wichtigsten Ma&szlig;nahmen. Insbesondere soll darauf hingewiesen werden, dass zu 70 % eine Spontanremission innerhalb von 6 Wochen zu erwarten ist und die gewohnten Alltagsaktivit&auml;ten einschlie&szlig;lich der Arbeit beibehalten werden sollen. Bettruhe soll vermieden werden.<br /> Als Pharmakotherapie kommen in erster Linie NSAR zur Anwendung (wobei als Behandlungsdauer maximal 2 Wochen empfohlen wird), Opioide und Muskelrelaxanzien erst in zweiter Linie. Naturgem&auml;&szlig; (fehlende M&ouml;glichkeit der Verblindung) gibt es f&uuml;r physikalische Therapiemodalit&auml;ten (therapeutischer Ultraschall, Elektrotherapie, Packung, Massage, Bewegungstherapie) in dem herangezogenen Evidenzgrad nur wenige Studien, was aber nicht die Unwirksamkeit dieser Ma&szlig;nahmen bedeutet. Empfohlen wird auch Manualtherapie, die eine Effektgr&ouml;&szlig;e &auml;hnlich der von NSAR hat.<br /> Der Chronifizierungsprozess wird durch spezielle psychosoziale Faktoren beg&uuml;nstigt (Tab. 3). Darauf zu achten ist, wenn subakuter Kreuzschmerz eingetreten ist. Somatische Faktoren m&uuml;ssen neu evaluiert werden, um spezifische Ursachen auszuschlie&szlig;en. MR kann indiziert sein.</p> <h2>Therapie des chronischen unspezifischen Kreuzschmerzes</h2> <p>Mit der Zielsetzung, Chronifizierung und Aktivit&auml;tseinschr&auml;nkung hintanzuhalten, soll multidisziplin&auml;r vorgegangen werden, d.h., eine Einzelintervention wie eine ausschlie&szlig;lich medikament&ouml;se Behandlung ist nicht ausreichend. Neben der Pharmakotherapie (NSAR, Opioidanalgetika, Antidepressiva und Capsaicin) wird die facettengelenksnahe und epidurale Infiltration als Probebehandlung empfohlen, obwohl noch nicht ausreichend viele Arbeiten innerhalb der betrachteten Evidenz vorliegen. Bei positivem Ansprechen auf die Infiltration liegt ein spezifischer Kreuzschmerz vor und die Behandlung soll fortgesetzt werden.<br /> Empfohlen wird die Kombinationstherapie mit physikalischen Modalit&auml;ten, aber nicht als Einzelma&szlig;nahme: &bdquo;Zur Behandlung des subakuten, chronisch rezidivierenden und chronischen Kreuzschmerzes sind Bewegungstherapie, medizinische Trainingstherapie, R&uuml;ckenschule, Funktions-, Arbeitsplatztraining und Arbeitsplatzadaptierung und Massage indiziert. Auch die Kombination von &ndash; nicht aber die Anwendung der einzelnen &ndash; Modalit&auml;ten (Elektro- und Thermotherapie/Hydrotherapie/ Massage/Traktionen/Ultraschall) gilt als wirksam.&ldquo;<sup>1, 4, 5</sup><br /> Empfohlen werden weiters TENS, Bewegungstherapie, medizinische Trainingstherapie, R&uuml;ckenschule, Funktionsund Arbeitsplatztraining, Arbeitsplatzadaptierung sowie die Auswahl der Therapie nach klinischem Bild, Verfassung und k&ouml;rperlicher Belastung des Patienten. Dies gilt auch f&uuml;r den subakuten und chronisch rezidivierenden Kreuzschmerz. Weitere Empfehlungen betreffen die psychologische Behandlung und Psychotherapie, insbesondere bew&auml;ltigungsorientierte und pr&auml;ventive Ans&auml;tze, lerntheoretisch- kognitiv orientierte Behandlung und Verhaltenstherapie bis hin zu multimodalen Schmerzbew&auml;ltigungsprogrammen inklusive psychologischer Interventionen.<br /><br /> Weitere Ma&szlig;nahmen sind Radiofrequenztherapie, Spinal-Cord-Stimulation (hier wird keine definitive Empfehlung abgegeben) und Akupunktur.<br /><br /> Bez&uuml;glich der operativen Therapie ist beim chronischen unspezifischen Kreuzschmerz keine Indikation gegeben. Sie ist spezifischen Ursachen vorbehalten. Spezifische Ver&auml;nderungen, wie Metastasen, Tumoren, Bandscheibenvorfall und Modic- L&auml;sionen, sind nicht Gegenstand dieser Leitlinie.<br /><br /> Erg&auml;nzend zur Leitlinie k&ouml;nnen in Bezug auf physikalische Kombinationsbehandlung evidenzbasierte Empfehlungen inklusive der dahinterstehenden Literatur auf www.orientierungshilfe-pmr.at eingesehen werden. Hier finden Sie geordnet nach ICD-10-Diagnosen in unterschiedlicher Granularit&auml;t Empfehlungen zum Einsatz physikalischer Therapiemodalit&auml;ten, wobei die jeweilige Modalit&auml;t (Art der physikalischen Therapie) mit der aktuellen Literatur und deren Empfehlungen hinterlegt ist.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Friedrich M et al: Update der evidenz- und konsensusbasierten &ouml;sterreichischen Leitlinien f&uuml;r das Management von unspezifischen Kreuzschmerzen 2011; www.aekwien. at/aekmedia/UpdateLeitlinienKreuzschmerz_2011_0212. pdf <strong>2</strong> Wenisch C: Pneumonia in Austria &ndash; clinical data and outcome in hospitalised adults. Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe &bdquo;Giftiger Dienstag&ldquo;, 22. Mai 2012, Wien <strong>3</strong> Wachter RM et al: Public reporting of antibiotic timing in patients with pneumonia: lessons from a flawed performance measure. Ann Intern Med 2008; 149(1): 29-32 <strong>4</strong> Pieber K et al: Combination treatment of physical modalities in the treatment of musculoskeletal pain syndromes. Eur J Transl Myol 2010, 1 (4): 157-65 <strong>5</strong> Torstensen TA et al: Efficiency and costs of medical exercise therapy, conventional physiotherapy, and self-exercise in patients with chronic low back pain. Spine 1976; 23(23): 2016-24</p> </div> </p>
Back to top