Option bei DFS mit schwerer „small arterial disease“?
Autor:
Dr. Dirk Thümmler
Leitender Arzt und Leiter Fuß-Team Zentrum für Bewegung
Gesundheitszentrum Fricktal, Spital Rheinfelden
E-Mail: dirk.thuemmler@gzf.ch
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Patienten mit diabetischem Fußsyndrom (DFS) und Ulzeration oder Gangrän haben ein hohes Risiko, Teile des Fußes oder die ganze Extremität zu verlieren. Ursächlich sind neben der Polyneuropathie mit fehlender Schutzfunktion und fehlender Druckentlastung meist auch Durchblutungsstörungen im Sinne einer „small arterial disease“. Einer Beobachtung von Ilizarov folgend wurde das Konzept des transversalen Tibiatransports (TTT) entwickelt, welcher erstmals eine chirurgische Option bietet, mit der eine Neoangiogenese am Fuß ausgelöst wird und bisher nicht behandelbare No-Option-Wunden abheilen können.
Keypoints
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Mit dem TTT gibt es erstmals eine chirurgische Option für Patienten mit DFS, für die es bis dato keine Behandlungsmöglichkeit der distalen Durchblutungsstörung (bei SAD) mehr gab.
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Über einen chirurgischen Umweg wird durch eine transversale Kallusdistraktion eine Ausschüttung verschiedener endogener Faktoren induziert, welche eine lokale und systemische Angiogenese auslöst und damit eine Wundheilung wieder ermöglicht.
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Das Verfahren ist neu in Europa, die verfügbaren Erfahrungsberichte (mit mehr als 3000 Patienten) kommen bisher fast ausschließlich aus Asien.
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Ungeklärt ist bisher die Kostenerstattung in Deutschland. Für die Schweiz gibt es erste Ideen der Codierung für die Swiss DRG. In Österreich stellt sich die Frage in öffentlichen Häusern bisher nicht.
Perfusion vermeidet Amputation
Wenig überraschend zeigten sich in zwei aktuellen Studien klare Vorteile bezüglich Ulkusabheilung oder erfolgreich abgeheilter Minoramputationen für revaskularisierte CLTI-Patienten im Vergleich zu sogenannten No-Option-CLTI-Patienten, bei denen keine Revaskularisierung durchgeführt werden konnte.1,2 Bei den letztgenannten waren Majoramputationen und auch Tod häufiger. Im Artikel „Ulkusabheilung: Prognoseabschätzung mit dem MAC-Score“ wurde bereits das Problem der „small arterial disease“ (SAD) thematisiert – insbesondere die Patienten mit SAD-MAC-Score2 sind hochgefährdet für einen fatalen Ausgang in Bezug auf Extremitätenerhalt und Lebensqualität bzw. Überleben. Für diese Patientengruppe gibt es jetzt erstmals eine chirurgische Option.
Umweg zum Ziel
Ilizarov hat schon vor mehr als 35 Jahren beobachtet, dass durch eine Kallusdistraktion eine lokale Neoangiogenese ausgelöst wird.1 Diese Beobachtung hat zunächst ein indischer Kollege aufgegriffen und daraus ist in der Folge in China ein neues Konzept entstanden, bei dem bisherigen No-Option-Patienten mit nichtheilenden Wunden aufgrund einer schweren distalen Durchblutungsstörung erstmals eine erfolgreiche Therapie angeboten werden kann.2 Im Speziellen wird im Bereich des Tibiakopfes, also proximal der eigentlichen Problemstelle, ein etwas mehr als briefmarkengroßer Knochendeckel (ca. 45x15mm) ausgelöst, dann transversal (also nach außen) über ein Fixateursystem ab dem 6. postoperativen Tag über 10Tage 1mm/Tag (0,5mm/12h) angehoben und nach 3 Tagen Pause ab dem 18. postoperativen Tag wieder mit derselben Geschwindigkeit zurückgeführt (Abb. 1).
Abb. 1: Demo-Modell des Prozedere/Fixateursystems
Lokale und systemische Effekte
Über mehrere Stichinzisionen wird die anteriomediale Kortikalis der proximalen Tibia mit engmaschigen Bohrkanälen und Meißeln „kalt“ eröffnet und der Hebefixateur montiert. Eine knappe Woche später wird ab dem 6. postoperativen Tag eine Kallusdistraktion durchgeführt; diese löst eine lokale, aber auch systemische Antwort aus. So werden verschiedene „bone modelling proteins“ (BMPs), inflammatorische Zytokine und angiogene Faktoren während der Mechanotransduktion ausgeschüttet und diese werden über den Blutkreislauf verteilt. Dies hat die sich distal entwickelnde Neoangiogenese zur Folge (Abb. 2).3 Als weiteren erfreulichen Effekt wurde bereits nachgewiesen, dass auch am gegenseitigen Fuß eine Durchblutungsverbesserung durch Gefäßneubildung erfolgt.4
Abb. 2: Schematische Darstellung der lokalen und systemischen Reaktionen während der Distraktionshistogenese (aus Kong et al. 2020)3
Welche Patienten kommen infrage?
Die Indikationen und Kontraindikationen wurden von der chinesischen Assoziation der orthopädischen Chirurgen beschrieben.5 Infrage kommen Patienten mit DFS Wagner III (oder höher) oder TEXAS Class3b (oder höher), deren Wunden unter fachgerechter Therapie innerhalb von 2 Monaten keine Heilungszeichen zeigten, sowie Patienten mit ausbleibender Heilung nach Gefäßinterventionen. Notwendig ist eine ausreichende Perfusion über die Iliakalgefäße, die A.femoralis superficialis und mindestens einen Ast der Unterschenkelgruppe. Der Ankle-Brachial-Index sollte <0,4 sein.
Wir können somit bezüglich der arteriellen Situation zusammenfassen: Erstens: Der Zufluss über die großen Gefäße muss gewährleistet sein, es darf also keine symptomatische „big arterial disease“ (BAD) vorliegen. Zweitens gibt es aber eben jene Patienten, bei denen dann unterhalb des Sprunggelenkes die weitere Verteilung abbricht: die SAD-MAC-2-Patienten. Wegen fehlender kleinster offener Gefäße werden die letzten Zellen nicht mehr oxygeniert. Diese Patienten sind die potenziellen Kandidaten für den TTT.
Ergebnisse bisher
Die Studie von Yan Chen et al. bestätigt die Überlegenheit der neuen Methode (n=136) gegenüber einer Kontrollgruppe (n=137): So sind innerhalb von 6Monaten 93% der Ulcera abgeheilt (Kontrolle 56%), nach 2Jahren waren es 96% (Kontrolle 72%). Die Rate der Majoramputationen war mit 2,9% deutlich niedriger (Kontrolle 23%) und auch die Rezidivulzerationen waren mit 2,9% deutlich unter der Rate in der Kontrollgruppe (17%). Die Ergebnisse waren alle statistisch signifikant.6 Auch in der ersten Übersicht von Dr. Brocco an seinen ersten 6 Patienten zeigten sich messbare Veränderungen: Der tcpO2-Wert (Gewebeoxygenation) stieg innerhalb von 6Wochen jeweils um mehr als das Doppelte an (von präoperativ 14–27 auf 42–60), die Schmerzen gingen im gleichen Zeitraum von VAS 7–10 auf VAS 0–5 zurück.7
Komplikationen
Die Frage nach Versagern und Komplikationen wird von Fan et al. beantwortet:8 Von 30 eingeschlossenen Patienten wurden in einem Nachbeobachtungszeitraum von durchschnittlich 16,5 Monaten (Range 12–26) 3 wegen fortschreitender Infektionen majoramputiert. 2Patienten erlitten postoperativ Tibiaschaftfrakturen, die innerhalb von 3Monaten im Gips ausheilten (hier wurde allerdings die Distraktion auch sichtbar in Schaftmitte durchgeführt). 5Patienten entwickelten Pin-site-Infektionen, die nach Pinentfernung unter regelmäßigen Verbandwechseln in 3,3±2,1Wochen ausheilten.
Aktuelle Unsicherheiten
Die bisher vorliegende Literatur kommt fast ausschließlich aus Asien (vor allem aus China),4,6,8,9 lediglich ein Artikel ist bisher in „Die Unfallchirurgie“ erschienen.10 Die größten Studien kommen aus Hong-Kong, wo das Verfahren inzwischen bei über 3000 Patienten erfolgreich angewandt worden sein soll.11 In Europa wurde der TTT im September 2022 erstmals in Italien durch Dr. Brocco durchgeführt.7 Die europäische Erfahrung liegt noch im niedrigen zweistelligen Bereich.
Aktuell ist nur ein Fixateursystem erhältlich, welches aus Asien importiert und hier vertrieben wird. Die Preise sind für ein Single-Use-System erstaunlich hoch, insbesondere da es für diese neue OP-Methode noch keine OPS-Codierung gibt und Abrechnungs- bzw. Erstattungsfragen noch nicht abschließend geklärt sind. Zum Ende des Jahres 2024 ist die Markteinführung für ein zweites Fixateursystem eines großen Fixateurherstellers angekündigt (Ö/D/CH); es bleibt damit eine Preisreduktion zu erhoffen.
In der Schweiz kann die OP als „Kortikotomie bei Segmenttransport an der Tibia“ verschlüsselt werden, hinzu kommt der Code für einen Fixateur externe. So kann bei einem kurzzeitigen stationären Aufenthalt zumindest eine Kostendeckung erreicht werden.
Der Kostendruck zwingt uns Ärzte, wirtschaftlich zu denken – aus ethischer Sicht bringt uns dies aber in die Bredouille. Meines Erachtens dürfen wir No-Option-Patienten eine neue (und die bisherige einzige) Therapie nicht vorenthalten, auch wenn wir damit ggf. ein finanzielles Minus generieren. Die Chancen auf Extremitätenerhalt steigen mit dem TTT nach derzeitigem Wissen erheblich.
Fazit
Die Methode des transversalen Tibiatransportes kommt eben erst in Europa an. Obwohl die Anzahl der bisher behandelten Patienten bei uns noch sehr überschaubar ist und statistisch signifikante Unterschiede noch nicht dargestellt werden können, zeigen doch die Veränderung der Ulcera bezüglich Wundheilung und die Änderungen im tcpO2 und VAS-Score ermutigende Ergebnisse. Somit scheint der TTT eine echte Hoffnung für die bisher als „no-option“ bezeichneten Patienten mit schwerer „small arterial disease“ (SAD-MAC-Score2) darzustellen. Eigene europäische Studien hierzu sind notwendig. Die Fragen der Kostenerstattung und Codierung sind alsbald zu klären.
Literatur:
1 Ilizarov, GA: The tension-stress effect on the genesis and growth of tissues. Part 1: The influence of stability of fixation and soft-tissue preservation. Clin Orthop Relat Res 1989; (238): 249-81 2 Meloni M et al.: Foot revascularization avoids major amputation in persons with diabetes and ischaemic foot ulcers. J Clin Med 2021; 10(17): 3977 3 Kong L et al.: An update to the advances in understanding distraction histogenesis. J Orthop Translat 2020; 25: 3-10 4 Qin W et al: Efficacy and safety of unilateral tibial cortex transverse transport on bilateral diabetic foot ulcers. J Orthop Translat 2023; 42: 137-46 5 Hua Q et al.: Chinese Association of Orthopaedic Surgeons (CAOS) clinical guideline for the treatment of diabetic foot ulcers using tibial cortex transverse transport technique (version 2020). J Orthop Translat 2020; 25(2): 11-16 6 Chen Y et al.: Proximal tibial cortex transverse distraction facilitating healing and limb salvage in severe and recalcitrant diabetic foot ulcers: Clin Orthop Relat Res 2020; 78(4): 836-51 7 Brocco E: New therapeutic horizons for dessert foot: early experiencies with tibial transverse transposition. Powerpoint presentation: slide handout by author 8 Fan Z-Q et al.: Tibial cortex transverse distraction in treating diabetic foot ulcers: what are we concerned about? J Int Med Res 2020; 48(9): 0300060520954697 9 Yuan Y et al.: Modified tibial transverse transport technique for the treatment of ischemic diabetic foot ulcer in patients with type 2 diabetes. J Orthop Translat 2021; 29: 100-5 10 Thaller PH et al.: Transverse Kallusdistraktion – Neue Chancen für den Extremitätenerhalt? Unfallchirurg 2022; 125(4): 282-7 11 Li G et al: How to perform minimally invasive tibial cortex transverse transport surgery. J Orthop Translat 2020; 25: 28-32
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