Therapie der Patellaluxation
Autor:
Priv.-Doz. Dr. med. univ. Guido Wierer
Research Unit for Orthopaedic Sports Medicine and Injury Prevention, UMIT, Hall in Tirol
Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg
E-Mail: wierer@gmail.com
Die Inzidenz der Patellaluxation liegt zwischen 2 und 77 pro 100000 Menschen und ist eine der häufigsten Verletzungen des Kniegelenks. Vor allem junge Menschen zwischen 10 und 20 Jahren sind von einer Erstluxation betroffen. Mehrere Faktoren für das Risiko einer (Re-)Luxation wurden identifiziert und werden für die Therapieplanung herangezogen.
Keypoints
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Die Therapie der Patellaluxation richtet sich nach dem individuellen Risikoprofil.
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Die Flake-Fraktur sollte zeitnahe abgeklärt und versorgt werden.
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Die MPFL-Rekonstruktion ist der Grundpfeiler der operativen Therapie.
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Zusatzeingriffe sind je nach Risikoprofil notwendig.
Diagnostik
Die Anamnese ist ein wesentlicher Bestandteil in der Diagnostik der patellofemoralen Instabilität. Validierte Fragebögen wie der BPI 2.0. (Banff Patellofemorales Instabilitäts-Instrument) helfen in der Bewertung der Lebensqualität und Beurteilung des Therapieerfolgs. Insbesondere die Erwartungshaltung der Patient:innen gegenüber einer weiteren Therapie sollte dabei berücksichtigt werden.
Die weiterführende klinische Untersuchung dient zum wesentlichen Verständnis der individuellen Situation. Schon beim Erstkontakt können durch Inspektion wichtige Informationen erfasst werden. Insbesondere das Gangbild, die Beinachse, Stellung der Kniescheibe und Füße können schon Hinweise auf eine komplexe Instabilität geben. Neben einer strukturierten klinischen Untersuchung des gesamten Kniegelenks hat sich der ReDPAT (Reversed Dynamic Patellar Apprehension Test) zur Unterscheidung zwischen einer einfachen oder komplexen patellofemoralen Instabilität bewährt. Der klinische Befund ist dann auch ausschlaggebend für die Wahl der weiteren apparativen Diagnostik.
Zur Basis der Bildgebung gehört das Röntgenbild in 3 Ebenen, inklusive Kniegelenk a.p., seitlich und Patella tangential. Ähnlich zum Erstkontakt in der klinischen Untersuchung gibt das Röntgenbild erste Hinweise, ob eine komplexe Instabilität vorliegt. Insbesondere bei der Beurteilung der seitlichen Aufnahme sollte auf eine exakte Aufnahmetechnik geachtet werden, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Vor allem in der Akutsituation kann die zusätzliche Patella-tangential-Aufnahme osteochondrale Fragmente detektieren und dient darüber hinaus der Erfassung einer bereits vorliegenden patellofemoralen Arthrose.
Schlussendlich gilt jedoch die Magnetresonanztomografie (MRT) als Goldstandard in der Bildgebung des patellofemoralen Gelenks und zum Ausschluss einer (osteo)chondralen Läsion bzw. einer Flake-Fraktur.
In Abhängigkeit von der klinischen Untersuchung werden eine weiterführende Ganzbeinröntgenaufnahme im Stehen und eine Torsionsabklärung mittels Hüft-Knie-Sprunggelenks-MRT oder -Computertomografie (CT) empfohlen. Die dynamische MRT und die dreidimensionale Bildgebung des patellofemoralen Gelenks werden gerade bei komplexen Instabilitäten in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Risikoprofil
Big Data und Artificial Intelligence werden in Zukunft als Werkzeuge einer individualisierten Medizin wohl auch in der Therapie der Patellaluxation zur Verfügung stehen. Als Vorboten dienen aktuell publizierte Risiko-Scores zur Einschätzung einer Reluxation. Dazu zählen unter anderem der Patellar Instability Score (PIS) nach Balcarek und der Recurrent Instability of the Patella (RIP) Score nach Hevesi. Im Rahmen eines österreichweiten, multi-zentrischen Projekts konnten wir den Patellar-Instability-Probability(PIP)-Rechner 2022 im American Journal of Sports Medicine publizieren ( www.pipmyknee.com ).
Alle genannten Autoren zeigen, dass die Trochleadysplasie und ein junges Patientenalter zum Zeitpunkt der Erstluxation wesentliche Risikofaktoren einer Reluxation sind. Weitere bekannte anatomische Risikofaktoren sind der Patellahochstand und ein größerer TT-TG(„tibial tuberosity“-„trochlear groove“)-Abstand. Die Anzahl der vorliegenden Risikofaktoren erhöht das Reluxationsrisiko deutlich. Die jeweiligen Cut-off-Werte der genannten Risikofaktoren variieren je nach Autor und müssen stets in Abhängigkeit aller vorliegenden Faktoren in Betracht gezogen werden. Demnach kann zum Beispiel der TT-TG-Abstand bei vorliegender Trochleadysplasie oder vermehrter tibiofemoraler Knierotation größer sein, obwohl der TT-PCL(„tibial tuberosity“-„posterior cruciate ligament“)-Abstand normwertig ist und auf keine Lateralisation der Tuberositas tibiae hinweist. Daher sollten absolute Cut-off-Werte stets in Relation bewertet werden. Aus diesem Grund basiert der PIP-Rechner auf kontinuierlichen Variablen und kann als Modell für zukünftige Big-Data-basierte Algorithmen dienen, welche weitere Faktoren inklusive Beinachse und -torsion berücksichtigen könnten.
Therapie
Die Dringlichkeit der Abklärung und Therapie hängt in erster Linie mit dem Verdacht bzw. Vorliegen einer Flake-Fraktur zusammen (Abb. 1). Liegt keine Flake-Fraktur bei niedrigem Risikoprofil vor, wird die konservative Therapie empfohlen. Bei rezidivierender Luxation sollte jedoch das Risikoprofil reevaluiert werden und ggf. die operative Therapie angestrebt werden.
Abb. 1: AGA-Therapiealgorithmus der Patellainstabilität (ATAPI) nach Wierer
Das historische Dogma, dass jede Erstluxation konservativ zu behandeln ist, wird bei Patient:innen mit einem hohen Risikoprofil zunehmend infrage gestellt. Aktuelle Metaanalysen haben gezeigt, dass die operative Therapie nicht nur die Instabilität und Reluxationsrate senkt, sondern auch die subjektiven Ergebnisse im Vergleich zur konservativen Therapie verbessert. Dieser Trend ist zu erkennen, seitdem die Rekonstruktion des medialen patellofemoralen Ligaments (MPFL) als Grundpfeiler der operativen Therapie gilt. Demnach löst die MPFL-Rekonstruktion die MPFL-Naht und den isolierten Transfer der Tuberositas tibiae als operative Therapie der patellofemoralen Instabilität bis auf einzelne Ausnahmen ab. Die Grenzen zur Indikation einer isolierten MPFL-Rekonstruktion bei ossären Begleitpathologien sind nach wie vor Gegenstand aktueller Untersuchungen. Bei ausgeprägten Befunden und in Revisionsfällen sollten Zusatzeingriffe je nach Risikoprofil stets in Betracht gezogen werden. Dazu zählen unter anderem der Transfer der Tuberositas tibiae, die Trochleaplastik und Achskorrekturen an Femur und Tibia. In diesen Fällen kann beispielsweise ein zweizeitiges Vorgehen mit vorheriger Achskorrektur und anschließender Metallentfernung inklusive Trochleaplastik und MPFL-Rekonstruktion gewählt werden. Die korrigierende Osteotomie der Patella im Falle einer inkongruenten Situation nach erfolgter Osteotomie der Trochlea wird in speziellen Fällen diskutiert. Zusätzlich können Kontrakturen der lateralen Retinacula mittels Z-Plastik gut adressiert werden.
Liegt eine akute Flake-Fraktur vor, wird je nach Größe, Zustand und Lokalisation des Fragmentes bzw. Defekts die Refixation angestrebt. Dabei sollten auch rein chondrale Fragmente von einer Refixation nicht ausgeschlossen werden. Ist eine Refixation nicht möglich, kommen alternative Verfahren der Knorpelrekonstruktion oder das Debridement zum Einsatz. Wie oben angeführt stellt die MPFL-Rekonstruktion auch hier den Grundpfeiler der operativen Versorgung dar. Denn die isolierte Refixation einer Flake-Fraktur ohne adäquate Versorgung der patellofemoralen Instabilität führt zu einer hohen Reluxationsrate. In ausgewählten Fällen kann eine MPFL-Refixation oder Augmentation zielführend sein. Prinzipiell bietet sich ein gestielter Streifen der Quadrizepssehne an, um keine zusätzliche Hardware bei bereits fixiertem Fragment der Patella zu benötigen und einen möglichen Tunnelkonflikt zu vermeiden.
Je nach Risikoprofil können weitere Zusatzeingriffe notwendig werden, wobei in der Literatur keine wesentliche Assoziation zwischen akuten Flake-Frakturen und ausgeprägten ossären Deformitäten beschrieben wurde. Eine rezente multizentrische Kohortenstudie konnte zeigen, dass eine Patella alta und die Trochleasdysplasie sogar einen protektiven Effekt bezüglich der Entstehung einer akuten osteochondralen Läsion haben. Es sollte jedoch nach jeder Luxation eine individuelle Evaluation des Risikoprofils erfolgen, um mögliche Risikofaktoren auch bei Vorliegen einer Flake-Fraktur zu erkennen.
Risikofaktoren einer Patellareluxation
Alter
Gegenseite
Trochleadysplasie
Patella alta
TT-TG-Distanz
Beinachse/-torsion
Literatur:
beim Verfasser
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