Die Tibiaplateaufraktur: aktuelle Entwicklungen und Behandlungsstrategien
Autoren:
Priv.-Doz. DDr. Thomas Tiefenböck, MSc1
Dr. Lorenz Pichler1,2
1Klinische Abteilung für Unfallchirurgie
Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Medizinische Universität Wien
2Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Korrespondierender Autor:
Priv.-Doz. DDr. Thomas Tiefenböck, MSc
Tibiaplateaufrakturen stellen aufgrund ihrer oft komplexen Frakturmorphologie und der damit verbundenen hohen Anforderungen an die operative Versorgung nach wie vor eine Herausforderung in der Orthopädie und Unfallchirurgie dar. Der steigenden Inzidenz, bedingt durch zunehmende körperliche Aktivität bis ins hohe Alter, wird mit neuen Bildgebungstechniken und individuellen operativen Zugangswegen begegnet.
Keypoints
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Die Inzidenz von Tibiaplateaufrakturen beträgt 10,3 Fälle pro 100.000 Einwohner und weist aufgrund der vermehrten körperlichen Aktivität bis ins fortgeschrittene Alter eine steigende Tendenz auf.
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Moderne, dreidimensionale Klassifikationsmodelle wie das 3-Säulen-Modell ermöglichen eine exakte Diagnostik und Therapieplanung.
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Individualisierte Zugangswege können die operative Versorgung erleichtern und die Frakturreposition und das Outcome verbessern.
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Die primäre Endoprothesenversorgung und die damit verbundene rasche Remobilisierung gewinnen bei geriatrischen Patienten zunehmend an Bedeutung.
Inzidenz
Tibiaplateaufrakturen betreffen sowohl jüngere Menschen, im Zusammenhang mit Hochrasanz- und Sporttraumen, als auch ältere Menschen, infolge von Sturzereignissen. Die aktuelle Inzidenz in Österreich liegt jährlich bei bis zu 10,3 Fällen pro 100.000 Einwohner:innen, wobei vor allem die steigende Aktivität älterer Menschen zu einem Anstieg dieser Frakturart beiträgt.1 Die Aktivität in den älteren Bevölkerungsschichten und die steigende Lebenserwartung führen dabei auch zu einer vermehrten Behandlungsnotwendigkeit bei Patient:innen mit reduzierter Knochenqualität.
Klassifikationen
Die Klassifikation von Tibiaplateaufrakturen spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahl der Behandlungsstrategie. Traditionelle, zweidimensionale Klassifikationssysteme wie die AO/OTA- oder die initiale Schatzker-Klassifikation, die vielerorts immer noch als Standard gelten, stoßen bei der Darstellung komplexer Frakturverläufe an ihre Grenzen.2
Abb. 1: 3-Säulen-Modell nach Luo et al.,3 modifiziert durch die Autoren
Moderne Klassifikationen, basierend auf Computertomografieuntersuchungen, haben in den letzten Jahren zu einem deutlich besseren Frakturverständnis geführt. Das 3-Säulen-Modell nach Luo et al. (Abb. 1) ermöglicht beispielsweise erstmals auch eine axiale Beurteilung der Fraktur unter Berücksichtigung der anterolateralen, anteromedialen und posterioren Plateauanteile.3 Die neuesten Klassifikationen, wie die 10-Segment-Klassifikation der Deutschen Kniegesellschaft nach Krause et al. (Abb. 2) oder die aktualisierte Version der Schatzker-Klassifikation,4 bieten zusätzlich eine differenzierte Analyse der Frakturverläufe und ermöglichen im Falle einer operativen Versorgung eine noch genauere Planung des Eingriffs.5
Indikationsstellung
Abb. 2: 10-Segment-Klassifikation nach Krause et al.5
Hinsichtlich der Indikation zur operativen Versorgung von Tibiaplateaufrakturen werden in der Literatur unterschiedliche Kriterien diskutiert, wobei sich die folgenden etabliert haben:6-8
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intraartikuläre Gelenkstufe in den lasttragenden Gelenkabschnitten >2 mm
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Gelenkflächenabsenkung >5°
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Verbreiterung des Tibiaplateaus >5 mm
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koronare oder sagittale Achsabweichung >5°
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Fraktur des medialen Plateaus ausgenommen undislozierte Fissuren
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assoziierte diaphysäre oder ipsilaterale Fibulafraktur
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operationspflichtige ligamentäre Begleitverletzungen
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drohendes Kompartmentsyndrom
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offene Fraktur
Hinsichtlich des optimalen Zeitpunkts für eine operative Versorgung konnte gezeigt werden, dass, sofern eine direkte Versorgung innerhalb von 4 Stunden nach dem Trauma nicht möglich ist, eine Versorgung nach 5–8 Tagen angestrebt werden sollte, um Wund- und Weichteilkomplikationen zu vermeiden.9
Individuelle operative Zugangswege
Moderne Behandlungsstrategien basieren zunehmend auf einer frakturabhängigen Zugangswahl. Der operative Zugangsweg wird dabei nicht mehr stets anterolateral gewählt, sondern an die individuelle Frakturmorphologie angepasst. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass in Fällen von posterolateralen Frakturen eine Versorgung über einen entsprechenden posterolateralen Zugang zu einer deutlich besseren Frakturreposition führen kann.10 In der Folge wurden zahlreiche weitere alternative Zugangswege zum Tibiaplateau beschrieben. Zu den etabliertesten zählen dabei folgende:
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posterolateraler Zugang nach Frosch,10 z.B. bei Frakturen im posterolateralen und anterolateralen Quadranten
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anteromedialer Zugang nach Tscherne und Lobenhoffer,11 z.B. bei anteromedialen Impressionsfrakturen
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posteromedialer Zugang nach Lobenhoffer,12 z.B. bei posteromedialen Abscherfrakturen
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dorsaler Zugang in Bauchlage nach Galla und Lobenhoffer,13 z.B. bei großem dorsalem Gelenkblock
„Frakturoskopie“
Neben der individuellen Zugangswahl hat sich auch zunehmend der Einsatz der Arthroskopie zur Frakturreposition unter Sicht und zur Detektion von intraartikulären Begleitverletzungen etabliert.14 Die Arthroskopie kann bei wenig dislozierten Frakturen ohne Verdacht einer Gelenkkapselverletzung analog zur klassischen Kniegelenksarthroskopie erfolgen. Bei komplexeren Frakturen, insbesondere solchen mit Gelenkkapselverletzung und damit einhergehender Gefahr einer Kompartmentbildung, kann das Arthroskop über den Zugangsweg der Frakturversorgung („Frakturoskopie“) eingebracht werden, sodass bei niedrigem Wasserdruck der Abfluss der Spülflüssigkeit gewährleistet wird.
Osteosynthese
Abb. 3: Fallbeispiel – 82-jährige Patientin mit Tibiaplateaufraktur Typ 41C1 nach AO bzw. TypV nach Schatzker. Oben: präoperative Röntgenbilder; Mitte: präoperative 3D-Rekonstruktion; unten: Follow-up 12 Wochen nach Versorgung mit 8-Loch-LCP-Proximal Tibia Plate 4,5mm (DePuy Synthes) und 7-Loch Proximal-Humeral Locking Plate 2 (IST Medical GmbH)
Zur osteosynthetischen Versorgung von Tibiaplateaufrakturen steht eine Vielzahl an Techniken zur Verfügung, wobei die Wahl in erster Linie von der Frakturmorphologie abhängig ist. Einfache Frakturen (z.B. AO Typ B1 bzw. Schatzker Typ I) können oft minimalinvasiv mittels zwei parallel verlaufender Zugschrauben versorgt werden.15 Komplexere Frakturen hingegen bedürfen einer Versorgung mittels Verplattung über den jeweils geeigneten Zugangsweg. Hierbei haben sich winkelstabile Verriegelungsplatten, Antigleitplatten und LISS („less invasive stabilization system“) etabliert.16 Aufgrund der großen Heterogenität in der Frakturmorphologie von Tibiaplateaufrakturen ist eine optimale Versorgung in manchen Fällen nicht allein mit tibiaspezifischen Plattensystemen möglich. Daher ist der Einsatz von Plattensystemen, die ursprünglich für andere Körperregionen entwickelt wurden, durchaus keine Seltenheit (Abb. 3).
Endoprothetische Versorgung
Dem gesellschaftlichen Trend einer gesteigerten körperlichen Aktivität bis ins höhere Alter folgend, betreffen Tibiaplateaufrakturen zunehmend auch ältere Menschen.1,11 Neben der Herausforderung einer oft deutlich reduzierten Knochenqualität im Sinne einer Osteoporose gilt es bei diesen Patient:innen vor allem auch, die Risiken einer eingeschränkten Mobilisierung infolge einer osteosynthetischen Versorgung zu berücksichtigen.
Auf Basis dieser Faktoren hat die primäre endoprothetische Versorgung mit der Möglichkeit einer raschen postoperativen Vollbelastung bei geriatrischen Patient:innen zunehmend an Stellenwert gewonnen. Es konnte gezeigt werden, dass das funktionelle Outcome einer solchen primären endoprothetischen Versorgung nach Tibiaplateaufrakturen in dieser Patientenkohorte jenem einer osteosynthetischen Versorgung gleicht und dem einer sekundären endoprothetischen Versorgung überlegen ist.17–20
Frühfunktionelle Nachbehandlung nach Osteosynthese
Hinsichtlich der Nachbehandlung von osteosynthetisch versorgten Tibiaplateaufrakturen stellt die Entlastung des betroffenen Beines über einen Zeitraum von bis zu 12 Wochen immer noch die gängigste Empfehlung in der Literatur dar.20
Einzelne Studien konnten jedoch zeigen, dass eine frühfunktionelle Nachbehandlung im Sinne einer sofortigen bzw.frühen (Teil-)Belastung in ausgewählten Fällen durchaus eine Option darstellen kann.21–23 Untersuchungen zu einem verbesserten Outcome bzw. der Revisionsrate solch frühfunktioneller Konzepte stehen jedoch noch aus.
Konservative Therapie
Eine konservative Therapie von Tibiaplateaufrakturen kann in Fällen ohne oder mit lediglich sehr geringer Frakturdislokation erfolgen. Das Mittel der Wahl zur Immobilisierung sind dabei der Oberschenkelgips sowie im weiteren Verlauf und abhängig von der Compliance die Rahmenorthese. Während mit passiven Bewegungsübungen sofort begonnen werden kann, muss das betroffene Bein für 6 bis 8 Wochen vollständig entlastet werden. Anschließend sollte eine Teilbelastung für weitere 6 Wochen erfolgen.
Um eine mögliche sekundäre Dislokation frühzeitig zu erkennen und entsprechend reagieren zu können, sind engmaschige Röntgenkontrollen notwendig (in den Wochen 1 bis 3 wöchentlich, ab Woche 4 ggf. zweiwöchentlich). Eine physiotherapeutische Beübung mit Belastung sollte erst nach radiologischer Abschlusskontrolle erfolgen, wobei ein Zeitraum von 16–20 Wochen bis zum Wiedererlangen der vollen Funktion keine Seltenheit darstellt.11, 24, 25
Outcome
Für konservativ behandelte Tibiaplateaufrakturen konnte gezeigt werden, dass sich das patientenberichtete Outcome zwischen undislozierten Frakturen und solchen mit minimaler bis leichter Dislokation nicht signifikant unterscheidet.26
Bei osteosynthetisch versorgten Patient:innen hingegen fand sich ein signifikanter Unterschied in den Ergebnissen, abhängig vom Schweregrad der Fraktur (Schatzker I–II vs. IV–V).27 Weiters konnte nachgewiesen werden, dass das funktionelle Outcome dieser Patient:innen bis zu fünf Jahe lang ein Potenzial für Verbesserung aufweist.28
Auch wenn bei Patient:innen über 60 Jahre in der Therapie öfter eine konservative Vorgehensweisen gewählt wird,29 konnten auch in dieser Kohorte mittels operativer Versorgung mehrheitlich gute klinische und radiologische Ergebnisse erzielt werden.30
Schlussfolgerung
Tibiaplateaufrakturen stellen aufgrund ihrer oft komplexen Frakturmorphologie eine therapeutische Herausforderung dar. Während moderne, dreidimensionale Klassifikationsmodelle und individuell angepasste operative Zugangswege zu einer präziseren Diagnose und Therapieplanung beitragen, bleibt die Wahl zwischen konservativer und operativer Therapie in erster Linie vom Schweregrad der Fraktur abhängig. Bei geriatrischen Patient:innen kann die primäre endoprothetische Versorgung eine effektive Behandlungsoption darstellen, um eine rasche Remobilisierung zu erreichen. Konzepte einer frühfunktionellen Nachbehandlung nach osteosynthetischer Versorgung scheinen möglich, bedürfen jedoch weiterer Untersuchungen.
Literatur:
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