Anaphylaxie auf pflanzliche Allergene am Beispiel von Brennnesseltee
Autor:
Dr. Robert Grims
Universitätsklinik für Dermatologie Medizinische Universität Graz
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Bekannterweise werden heutzutage Naturprodukte in vermehrtem Maß eingenommen, welche auch sehr oft als „Naturheilmittel“ bezeichnet werden. Doch nicht selten kommt es nach der Einnahme pflanzlicher Produkte zu unvermuteten allergischen Reaktionen, welche in der Regel nur durch eine zielgerichtete allergologische Abklärung nachvollziehbar sind. Ein Beispiel dafür wird hier anhand von Brennnesseltee präsentiert.
Keypoints
In Mitteleuropa sind Sensibilisierungen auf Brennnesselpollen mit rhinokonjunktivaler
und asthmatischer Symptomatik seltenZur IgE-mediierten, systemischen Anaphylaxie mit Beteiligung von Haut, Atemwegen und Kreislaufsystem nach oralem Brennnesselkonsum liegt keine weitere Publikation vor
Bei der Anamnese sollte nach Kofaktoren wie Medikation, Alkoholkonsum oder Enteritiden gefragt werden, die eine verstärkte und somit maßgebliche Allergenaufnahme im Gastrointestinaltrakt bewirken können.
Zur allergologischen Abklärung werden Antikörperbefund und ggf. Hauttest empfohlen
Die Notfallmedikation umfasst Antihistaminika und Kortikosteroide, evtl. auch einen Adrenalin-Pen.
Fallbericht
Anamnese
Eine 59-jährige Patientin hatte wegen Kopfschmerzen 1 Tablette Duan® (Acetylsalicylsäure, Paracetamol) eingenommen und 20 Minuten später einen Brennnesseltee getrunken. Eine Stunde danach traten urtikarielles Exanthem, Lid-, Lippen- und Zungenschwellung, laryngeale Dyspnoe und schließlich Blutdruckabfall bis auf 60mmHg systolisch auf. Nach Erstversorgung durch Hausarzt und Notarzt (mit Gabe von Solu-Dacortin®, Fenistil®, Elomel® isoton und Adrenalin) war der Zustand der Patientin bei der Aufnahme an der Notfallambulanz der lokalen Klinik bereits wieder stabil. Einen Monat später kam es dann zu einer weiteren Unverträglichkeitsreaktion mit starker Rötung und Schwellung im Gesichts- und Halsbereich, circa ein bis zwei Stunden nach dem Roden von Brennnesseln mit Handschuhen, wobei die Patientin angab, sich währenddessen mit den Handschuhen in diesem Bereich berührt zu haben (wahrscheinlicher Kontakt mit dem Saft der Brennnesseln).
Abklärung
Im Rahmen der allergologischen Abklärung an unserer Klinik waren die primär vermuteten Auslöser der Reaktion – Acetylsalicylsäure und Paracetamol – in oralen Provokationstestungen mit jeweils Gesamtdosen von 890mg bzw. 910mg gut verträglich. Somit stand aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs (der Brennnesseltee wurde ca. 20 Minuten nach der Einnahme von Duan® getrunken) sowie der weiteren Anamnese (s.o.) die Brennnessel als mögliches ursächliches Allergen im Vordergrund.
Da jedoch die Brennnessel bekanntlich Histamin enthält, ergab sich die Frage, ob nicht der Histamingehalt des Brennnesseltees für die Reaktion verantwortlich gewesen sein könnte. So wurde, nachdem die Patientin ihre ursprünglich verwendeten, getrockneten Brennnesseln in unsere Klinik gebracht hatte, nach ihrer Anleitung der Brennnesseltee bei uns hergestellt. In der Folge wurde unser Labor kontaktiert. Allerdings war unser Labor nach telefonischer Anfrage für eine Bestimmung des Histamingehalts in einem Brennnesseltee „nicht eingerichtet“, so musste ein Kunstgriff vorgenommen werden – der Brennnesseltee wurde als „Harnprobe“ eingeschickt. Mit einem überraschenden Ergebnis: Das im „Brennnesseltee-Harn“ enthaltene Histamin wies zum einen eine „physiologische Konzentration“ von 9,3µg/l (Norm 3–10µg/l) auf, dies entspricht in etwa 9,3µg/kg, zum anderen war die Konzentration im Vergleich zu den beliebten „Nationalgetränken“ (österreichische Rotweine: 60–1100µg/kg, Bier: 25–50 µg/kg) im Brennnesseltee deutlich geringer.1 Entsprechend konnte der Histamingehalt des Brennnesseltees als Ursache der anaphylaktischen Reaktion der Patientin ausgeschlossen werden. Eine in der Folge durchgeführte Antikörperbestimmung ergab bei einem Gesamt-IgE von 246kU/l eine RAST-Klasse 2 auf Brennnessel (0,93kU/l).
Nun wurde bei positiver Anamnese und Antikörperbefund noch ein klinischer Test zur endgültigen Bestätigung der Diagnose durchgeführt. Dieser erfolgte als Prick-zu-Prick-Test mit zwei Kontrollpersonen, wobei jeweils die Pricknadel zuerst in den Stängel von zwei Brennnesselpflanzen und danach in den Unterarm der Probanden eingestochen wurde. Das Ergebnis war bei der Patientin eine deutlich positive Reaktion auf beide getesteten Brennnesselpflanzen, während beide Kontrollpersonen negativ waren (Abb. 1).
Abb. 1: Prick-zu-Prick-Test mit zwei negativ gestesteten Kontrollpersonen
Diskussion
In Zusammenschau von Anamnese, Antikörperbefund und Hauttest konnte das Vorliegen einer IgE-mediierten, systemischen anaphylaktischen Reaktion mit Beteiligung von Haut, respiratorischem und Kreislaufsystem nach oraler Zufuhr von Brennnesselallergenen bestätigt werden, was bislang nach eingehender Recherche in der Literatur noch nicht beschrieben wurde. Neben den bekannten lokalen Reaktionen nach Brennnesselkontakt an der Haut, welche durch Stoffe wie u.a. Histamin, Serotonin oder Acetylcholin ausgelöst werden, werden in erster Linie fast ausschließlich inhalative Allergien auf Brennnesselpollen beschrieben.2,3Wobei die Brennnessel (Urtica dioica) im Vergleich zum Glaskraut (Parietaria judaica), welches zur selben Pflanzenfamilie der Brennnesselgewächse (Urticaceae) gehört, eine deutlich niedrigere allergene Potenz besitzt. Das Glaskraut kommt vorwiegend im Mittelmeerraum vor und stellt dort ein bedeutendes Inhalationsallergen dar (Abb. 2).
Abb. 2: Pollensensibilisierungen durch Urticaceae
In Mitteleuropa sind Sensibilisierungen auf Brennnesselpollen mit rhinokonjunktivaler Symptomatik und asthmatischen Beschwerden selten vorzufinden. An darüber hinaus dokumentierten Unverträglichkeitsreaktionen auf Brennnesselallergene liegen lediglich Einzelfallberichte vor. Diesbezüglich beschreibt Caliskaner eine 32-jährige Frau, welche als Therapieversuch für Gelenksschmerzen ein frisches Brennnesselblatt auf die Zunge legte und den Saft auszusaugen versuchte. Dies führte nach fünf Minuten zu einer ausgeprägten Zungenschwellung mit begleitenden starken lokalen Schmerzen, welche sich in den nächsten Stunden noch verstärkten. Nach Einnahme von zwei Tabletten Aspirin® kam es zu einer weiteren Verstärkung der Symptomatik, was danach bei der Vorstellung an der lokalen Allergieabteilung mit Antihistaminika und Steroiden therapiert werden musste.4
Ein ausgeprägtes urtikarielles Exanthem an beiden Armen, welches über zwölf Stunden andauerte, beschreibt Edwards bei einem 9-jährigen Kind nach Sturz in ein Brennnesselgebüsch. In der Folge bildete sich nach zwei Tagen an den Armen ein erneutes Exanthem mit kleinvesikulösen Effloreszenzen aus.5
Ein weiterer nicht unwesentlicher Aspekt bezüglich unseres vorliegenden Fallberichts ist die Tatsache, dass unsere Patientin mit Ausnahme der beschriebenen Reaktion den Brennnesseltee üblicherweise gut vertragen hat. Lediglich am Tag der besagten Reaktion war ein Kofaktor im Spiel (Acetylsalicylsäure), welcher zur Aufnahme einer relevanten Menge an Brennnesselallergen im Darm führte, die dann die allergische Reaktion auslösen konnte.6 So sollte bei unklaren Nahrungsmittelallergie-Anamnesen – „laut Patient wurde das besagte Nahrungsmittel sonst immer gut vertragen“ – immer nach Kofaktoren gefragt werden, welche zur vermehrten – und somit für eine potenzielle allergische Reaktion maßgeblichen – Aufnahme des Allergens im Gastrointestinaltrakt führen könnten. Dabei sind nicht nur nichtsteroidale Antirheumatika, sondern auch beispielsweise Alkohol, Darmentzündungen oder die Einnahme von Protonenpumpenhemmern in Betracht zu ziehen.
Zusammenfassung
Pflanzliche Produkte können, selbst wenn sie – vorwiegend im Internet – oft als „Naturheilmittel“ angepriesen werden, mit ihren Allergenen potenzielle Auslöser von Allergien sein, welche sich, wenn auch selten, im schlimmsten Fall als anaphylaktische Reaktionen höheren Grades auswirken können. Dabei werden in der Literatur anaphylaktische Reaktionen auf verschiedenste pflanzliche Allergene beschrieben, worunter nicht immer nur spezielle „Naturheilmittel“7–10, sondern beispielsweise auch Obst des täglichen Gebrauchs fallen können.11 Somit ist bei entsprechender Anamnese eine allergologische Abklärung durch Antikörperbefund (mittels Komponentendiagnostik kann auch zwischen potenziell weniger und eventuell stärkeren Allergenen unterschieden werden) und ggf. Hauttest unbedingt zu empfehlen, wobei im Anamnesegespräch, besonders bei unklarer Anamnese, auch immer mögliche Kofaktoren zu hinterfragen sind.
Obwohl bei Nahrungsmittelallergien eine konkrete Diagnose nicht immer trotz penibler Abklärung erfasst werden kann, sollte die Verordnung einer Notfallsmedikation für den Bedarfsfall mit Antihistaminika und Kortikosteroiden, bei Verdacht auf möglicherweise schwerere Reaktionen auch mit Adrenalin-Pen, in jedem Fall erfolgen.
Literatur:
1 Jarisch R: Histamin-Intoleranz. Leipzig: Thieme, 1999 2 Dutkiewicz J et al.: Response of herb processing workers to work-related airborne allergens. Ann Agric Environ Med 2001; 8(2): 275-83 3 Tiotiu A et al.: Urtica dioica pollen allergy: Clinical, biological, and allergomics analysis. Ann Allergy Asthma Immunol 2016; 117(5): 527-34 4 Caliskaner Z et al.: Misuse of a herb: stinging nettle (Urtica urens) induced severe tongue oedema. Complement Ther Med 2004; 12(1): 57-8 5 Edwards EK Jr, Edwards EK Sr: Immediate and delayed hypersensitivity to the nettle plant. Contact Derm 1992; 27: 264-5 6 Muñoz-Cano R et al.: Immune-mediated mechanisms in cofactor-dependent food allergy and anaphylaxis: effect of cofactors in basophils and mast cells. Front Immunol 2021; 11: 623071 7 Ventura MT et al.: Hypersensitivity reactions to complementary and alternative medicine products. Curr Pharm Des 2006; 12(26): 3393-9 8 Bossuyt L, Dooms-Goossens A: Contact sensitivity to nettles and camomile in ‚alternative‘ remedies. Contact Derm 1994; 31: 131-2 9 Crivellaro MA et al.: Pollen mixtures used as health food may be a harmful source of allergens. Invest Allergol Clin Immunol 2000; 10(5): 310-11 10 Mayer DEY et al.: Anaphylaktische Reaktion auf einen TCM-Tee/Anaphylactic reaction to a traditional Chinese medicine. Allergologie 2009; 32(4): 146-51 11 Sato S et al.: A case of food-dependent exercise-induced anaphylaxis due to ingestion of peach. J Investig Allergol Clin Immunol 2009; 19(4): 337
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