
Erheben einer Sexualanamnese
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45,7% der deutschen Frauen leiden laut einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2020 an einem oder mehreren sexuellen Problemen.1 Jede zweite Betroffene findet, dass Gynäkolog:innen bei Sexualproblemen die geeigneten Ansprechpartner:innen wären.2 Um diesem Bedarf im Praxisalltag mit wenig Zeitaufwand seriös nachkommen zu können, hilft die strukturierte Erhebung einer Sexualanamnese.
Kompliziertes zu strukturieren, hilft
Sexuelle Dysfunktionen erscheinen komplex, sind zudem selten monokausal und sehr oft multifaktoriell. Gleichzeitig erhalten Ärzt:innen im Rahmen ihrer universitären Ausbildung keine sexualmedizinische Grundausbildung, die sie im Umgang mit dem Thema vertraut machen würde. Aus diesen Gründen meiden sehr viele Kolleg:innen das Thema sexuelle Gesundheit in ihrem Praxisalltag, obwohl sie um die Wichtigkeit dieses Themas für ihre Patient:innen wissen. Es hilft daher, sich vor Augen zu führen, welche Situationen sich gut für ein sexualmedizinisches Gespräch eignen könnten, welche „Brückensätze“ es gibt, um leichter ein Gespräch eröffnen zu können, die Sexualanamnese strukturiert durchzuführen und dann anhand der gewonnenen Daten die passende Therapie auf der somato-psycho-sozialen Ebene anzubieten oder an sexualmedizinisch geschulte Kolleg:innen zu überweisen.
Gute Startsituationen für ein Gespräch über Sexualprobleme
Das Thema Sexualität ist in unserer Gesellschaft noch immer mit vielen Tabus behaftet, deswegen ist es wichtig, dass unsere Patientinnen nachvollziehen können, warum wir Ärzt:innen sie auf dieses Thema ansprechen. Erleichtert werden solche Gespräche, wenn sich medizinische Zusammenhänge mit dem Thema Sexualität offensichtlich erkennen lassen.
Zum Beispiel, wenn eine Patientin an einer Erkrankung leidet, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu Sexualproblemen führen könnte, oder wenn eine Operation bevorsteht, die ein hohes Risiko birgt, die Sexualität der Patientin zu verändern.
Gute Ausgangssituationen für ein Gespräch über Sexualprobleme ergeben sich oft in folgenden Situationen:
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im Rahmen des Erstgesprächs
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bei der jährlichen Kontrolle
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in „Schwellensituationen“ wie Menarche, Schwangerschaft, vor/nach der Geburt, Menopause, Pension
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bei bekannten Mehrfachbelastungen
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im Rahmen sexualrelevanter Therapiemaßnahmen, wie z.B. vor/nach Operationen oder vor/nach Medikamentenverschreibungen
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bei sexualrelevanten Erkrankungen/Traumata
Leichter Gesprächseinstieg mit „Brückensätzen“
„Brückensätze“ helfen der Patientin, nachvollziehen zu können, warum sie auf ihre sexuelle Gesundheit angesprochen wird, reduzieren so Schamgefühle und verhindern als übergriffig wahrgenommen zu werden. Aus diesen Sätzen wird ersichtlich, dass dieses Thema nur angesprochen wird, weil es medizinische Zusammenhänge gibt. Die Sätze sollten natürlich wirken und in der eigenen Redensart angewendet werden.
Beispiel: Erstgespräch
„Als Ärzt:in bin ich auch für sexuelle Gesundheit zuständig. Sollten Sie auf diesem Gebiet jemals Hilfe brauchen, können Sie sich gerne an mich wenden.“
Beispiel: Erkrankungen, Operationen, Medikamente, Trauma,…
„XY kann sich auf die sexuelle Gesundheit auswirken, falls Sie jemals Fragen dazu haben, können Sie sich gerne an mich wenden.“
Beispiel: vor sexualrelevanter Operation
„Wie besprochen, werden wir Sie operieren. Diese Operation kann Einfluss auf Ihre Sexualität haben. Falls Sie Fragen dazu haben, bin ich gerne Ihr/e Ansprechpartner:in.“
Beispiel: neuer Lebensabschnitt, erstes Kind
„Ein Säugling kann ein gut eingespieltes Liebespaar ganz schön durcheinanderbringen und die bisher eingespielte Sexualität verändern. Sollte Ihnen diese neue Situation Probleme bereiten, scheuen Sie sich nicht, mit mir darüber zu reden.“
Vorsicht! Die Gesprächsinitiative soll ein Gesprächsangebot sein und Patientinnen niemals nötigen, jetzt darauf eingehen zu müssen!
Schritte zur Diagnose3
Zu einer sicheren Diagnoseerstellung gehören neben der Sexualanamnese die allgemeinmedizinische Anamnese, körperliche Untersuchung, gynäkologische (evtl. urologische) Anamneseerhebung sowie Untersuchung. Eventuell sind Hormonanalysen angebracht. Die dabei erhobenen Ergebnisse ermöglichen erst eine seriöse Diagnose.
Ziel der Sexualanamnese ist die sichere Diagnoseerstellung für ein passendes Therapieangebot auf der passenden Ebene, nämlich der somato-psycho-sozialen.
Die Sexualanamnese erstellt ein klares Bild der aktuellen Beschwerden, vorhandene kontrasexuelle Faktoren (Erkrankungen, Operationen, Traumata, Medikation), des aktuellen Sexualverhaltens, der aktuellen sexuellen Beziehung und eventuell der sexuellen Biografie.
Die aktuellen Beschwerden
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welche Phase des sexuellen Erlebens betroffen ist (sexuelles Interesse, Erregung, Orgasmus)
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eine Deskription der Dysfunktion (Beginn, Verlauf, Kontinuität, Ausmaß)
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betroffene Praktiken, Involvierung der Partnerin/des Partners, aktuelle Situation
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wie stark die daraus resultierende Belastung für die Patientin/den Patienten, für die Partnerin/den Partner und die Beziehung ist
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wie der bisherige Umgang mit dem Problem war
Die folgenden Punkte sind oft der Schlüssel zur Lösung, werden im Arbeitsalltag aber leider kaum erfragt. Diese Fragen führen vom konkreten Verhalten zu begleitenden Gedanken und Gefühlen und sind gute Hinweise auf mögliche kontrasexuelle Stressoren.
Das aktuelle sexuelle Verhalten
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Wie wird Sexualität konkret gelebt?
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Wer ergreift die Initiative?
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Wie reagiert der/die andere?
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Wird gesprochen? Worüber?
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Was sind die angenehmen/lustvollen Anteile?
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Was gelingt gut, was weniger gut, was gar nicht?
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Was stört?
Die aktuelle sexuelle Beziehung
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Reaktion der Partnerin/des Partners auf die sexuellen Schwierigkeiten?
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aktueller Kontext der Beziehung
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Dauer der Beziehung
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sexuelle Funktionsstörungen bei der Partnerin/beim Partner
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Stärken der Beziehung
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Schwächen oder Schwierigkeiten der Beziehung
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Beziehungsmerkmale bezogen auf die Sexualität
Eine kurze sexuelle und Beziehungsbiografie
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Struktur der Herkunftsfamilie, sexuelle Botschaften und Modelle
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Kindheit, Pubertät, Erleben von Veränderung und Entwicklung
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Körper als Quelle sexueller Erregung
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frühe sexuelle Beziehungserfahrungen
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kurze Beziehungsbiografie
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Beziehungen, Trennungen
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Schwächen oder Schwierigkeiten der Beziehung
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Einfluss des Beschriebenen auf Sexualität?
Der leichte Weg zur Diagnose nach Prof. Johannes Bitzer
In fünf Schritten zur Diagnose
1. Schritt – präsentiertes Symptom
2. Schritt – Differenzierungsfragen
3. Schritt – beeinflussende Faktoren
4. Schritt – typische Episode
5. Schritt – sexualmedizinische Diagnose
Beispiel Lubrikationsstörung
1. Schritt – präsentiertes Symptom
Das Gespräch könnte wie folgt eröffnet werden:
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offen: „Bitte erzählen Sie mir mehr über Ihr Problem …“
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geschlossen: „Können Sie mir sagen, seit wann Sie dieses Problem haben?“
Die geschlossene Variante ist im Arbeitsalltag für sexualmedizinisch Ungeübte besser geeignet, weil sie in kurzer Zeit zu mehr Informationen führt.
2. Schritt – Differenzierungsfragen
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Beginn: initial (einmalig zu Beginn der sexuellen Aktivität), primär (seit Beginn der sexuellen Aktivität), sekundär nach Phase ungestörter Funktion)
Frage: „Seit wann leiden Sie…“
Verlauf: akut, chronisch
Frage: „Trat die Veränderung plötzlich auf oder schleichend?“
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Kontinuität: fakultativ, obligatorischFrage: „Tritt das Problem immer auf oder gelegentlich?“
Ausmaß: partiell, total
Frage: „Gelingt es Ihnen, ausreichend feucht zu werden oder gar nicht (oder schwerer)?“
Praktik-Abhängigkeit: abhängig, unabhängig
Frage: „Bei der Selbstbefriedigung? Bei oralen oder manuellen Prkatiken?“
Partner-Abhängigkeit: abhängig, unabhängig
Frage: „Haben Sie das Problem auch mit anderen Frauen/Männern?“
Zum Beispiel könnte die Partnerin/der Partner selbst an folgenden Problemen leiden: Lustlosigkeit, erektile Dysfunktion, Ejaculatio praecox, Orgasmusstörung oder folgende Störfaktoren, bestehende Konflikte, fehlende Kommunikation, Verhalten, schwer erfüllbare Ansprüche der Partnerin/des Partners, Äußeres
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Situations-Abhängigkeit: abhängig, unabhängigFrage: „Wie ist die Situation im Urlaub/ unter anderen Umständen?“
3. Schritt – beeinflussende Faktoren
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Andere Sexualstörungen
Die eigentliche Sexualstörung ist nicht das präsentierte Symptom, sondern eine andere Sexualstörung, wie Lustlosigkeit, Orgasmusstörung oder genitaler Sexualschmerz.
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Erkrankungen
schwere Allgemein-, urologische, kardiovaskuläre, endokrine oder metabolische, neurologische, psychiatrische Erkrankungen
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Operationen
Eingriffe im Abdominal-, Becken- und Urogenitalbereich, Strukturen der Sexualfunktionen
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Medikamente
mit zentralnervöser, Durchblutung/Vegetativum regulierender und hormoneller Wirkung
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Lebensstil
Rauchen, Bewegungsarmut, Übergewicht
4. Schritt – typische Episode (Mikroanamnese)
„Können Sie mir das letzte Mal, als Sie mit Ihrer/Ihrem Partner:in sexuell zusammen waren, beschreiben (oder Selbstbefriedigung)?“
„Was ist dabei passiert und wie?“ (Verhalten, Gedanken, Emotionen)
„Wie reagiert Ihr/e Partner:in auf Ihr Problem?“
Dieser Schritt hilft, Erregungsbarrieren, Unsicherheiten sowie Versagensängste zu erkennen und die Selbstbeobachtung zu verbessern. Er wird leider häufig aus Schamgefühl von Kolleg:innen weggelassen, dabei zeigt gerade die typische Episode auf, wie der Umgang der Betroffenen mit dem Problem ist und welche Stressoren dadurch entstehen.
Zwischenbilanz
Vor dem fünften und letzten Schritt lohnt sich eine Zwischenbilanz (Tab. 1):
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Liegt eine primäre oder sekundäre Sexualstörung vor? Primäre sind häufig komplexer, mit wichtigen psychologischen Anteilen. Bei sekundären gilt die Suche nach Hinweisen auf partnerbezogene, persönliche Stressoren oder Komorbiditäten, wie zum Beispiel das metabolische Syndrom.
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Was habe ich erfahren? Entspricht die real gelebte Sexualität den Bedürfnissen einer befriedigenden Sexualität? Wenn nicht, was verhindert es?
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Intrapsychische Faktoren?
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Partnerschaftsdynamik?
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Soziale Faktoren?
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Somatische Faktoren?
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5. Schritt – sexualmedizinische Diagnose
„Ich fasse noch einmal zusammen, was Sie mir erzählt haben …und dabei sind mir folgende Risikofaktoren aufgefallen...“
Durch die Zusammenfassung werden der Patientin die Zusammenhänge zwischen Erkrankung und Sexualstörung bewusst.
Von der Diagnose zur Therapie
Noch bevor wir der Patientin eine Therapie verordnen, ist es wichtig, mit der Patientin Folgendeszu klären:
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„Was ist Ihr ganz persönlicher Therapiewunsch?“ Patientinnen haben oft nicht erfüllbare Wünsche, die man mit dieser Frage aufdecken kann. Man verhindert dadurch Frust bei der Patientin und den Behandelnden.
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Die Patientin sollte in die Therapieentscheidung involviert werden: „Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft stehen Ihnen folgende Therapieoptionen zur Verfügung. Welchen Therapievorschlag würden Sie bevorzugen?“
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Beginn der abgesprochenen therapeutischen Maßnahmen oder weiterer Diagnoseschritte. Eventuell Überweisung zu sexualmedizinisch geschulten Kolleg:innen.
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Unbedingt Folgetermine vereinbaren, denn Therapiemaßnahmen führen selten gleich zum erwünschten Erfolg. Sie bedürfen oft einiger Optimierungsmaßnahmen.
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Anhand des Artikels ist leicht zu erkennen, dass für eine seriöse Sexualanamnese sexualmedizinisches Basiswissen eine Grundvoraussetzung ist. Nur so erkennt man anhand der Antworten, warum das Gesagte ein Hinweis auf die Ursache einer Sexualstörung sein kann und welche Therapie zielführend ist und welche nicht.
ÖÄK-Diplomlehrgang Sexualmedizin 2024–2026
Im Rahmen dieser Weiterbildung werden Sie die derzeit modernste Form der Sexualtherapie – die erlebnis- bzw. emotionsorientierte Sexualtherapie nach dem Hannover-Ansatz – erlernen sowie einen professionellen, sicheren und leichten Umgang mit schwierigen Fällen rund um sexualmedizinische Themen erfahren.
Termine:
Seminar 3: 07.–09.06.2024, Reichenau/Rax
Seminar 4: 20.–22.09.2024, Wien
Seminar 5: 18.–20.10.2024, Wien
Seminar 6: 24.–26.01.2025, Wien (Programm folgt)
Anmeldung unter: https://www.arztakademie.at/va/sexualmedizin-diplomlehrgang
Literatur:
1 Brinken P et al.: Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktionen anhand der neuen ICD-11-Leitlinien. Dtsch Arztebl Int 2020; 117(39): 653-8 2 Shifren JL et al.: Sexual problems and distress in United States women: prevalence and correlates. Obstet Gynecol 2008; 112(5): 970-8 3 Blitzer J: Sexuelle Dysunktion der Frau – Ursachen und aktuelle Therapieoptionen. UNIMED 2008
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