Depressionen bei Kindern und Jugendlichen

Andere Symptome als bei Erwachsenen – kindgerechte Therapie nötig

<p class="article-intro">Auch Kinder und Jugendliche können an Depressionen erkranken – bis zu 6 % sind davon betroffen. Die Symptome sind oft anders als bei Erwachsenen, die Diagnose ist mitunter schwierig. Man muss daher altersspezifisch vorgehen und das Umfeld miteinbeziehen. Wir haben zwei Kinderpsychiater gefragt, wie man in der Praxis vorgeht und wie sich die Therapie von der von Erwachsenen unterscheidet.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Jeder Psychiater sieht sie fast t&auml;glich: Patienten mit Depressionen. Die junge Mutter mit der postpartalen Depression, den 50-J&auml;hrigen nach Suizidversuch, die 42-J&auml;hrige mit regelm&auml;ssigen depressiven Sch&uuml;ben. Aber Kinder? &laquo;Depressionen sind nicht nur im Erwachsenenalter eine ernste Krankheit, sondern auch bei Kindern&raquo;, sagt Prof. Dr. med. Alain Di Gallo, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Uniklinik in Basel. &laquo;Lange Zeit wurde das viel zu wenig beachtet.&raquo; Die Angaben zur Pr&auml;valenz von schweren depressiven Episoden reichen bei Kindern von 1 bis 3 % , bei Jugendlichen von 1 bis 6 % .<sup>1</sup><br /><br /> Bis in die 1970er-Jahre wurden Depressionen im Kindes- und Jugendalter kaum diagnostiziert. Heute gelten dieselben Kriterien wie f&uuml;r Erwachsene. ICD-10 unterscheidet zwischen depressiven Episoden und dysthymen St&ouml;rungen. Um die Kriterien f&uuml;r eine depressive Episode zu erf&uuml;llen, muss der Betroffene w&auml;hrend mindestens zwei Wochen an bestimmten Symptomen leiden (Tab. 1). Die Dysthymie entspricht einer chronischen, jahrelang dauernden depressiven Verstimmung, bei der der Patient aber nicht die Kriterien einer rezidivierenden depressiven St&ouml;rung erf&uuml;llt.<br /><br /> Rund die H&auml;lfte der Kinder und Jugendlichen leidet gleichzeitig unter anderen psychiatrischen Problemen: Sie haben Angst- oder Zwangsst&ouml;rungen, sind hyperaktiv oder nehmen Drogen. So wie der 15-j&auml;hrige Sandro (Name von der Redaktion ge&auml;ndert), der fast t&auml;glich Marihuana konsumiert. &laquo;Er glaubt, damit w&uuml;rde er wieder mehr Sinn im Leben sp&uuml;ren&raquo;, erz&auml;hlt Di Gallo. Er wolle Schluss machen, hatte Sandro seinem Lehrer weinend erz&auml;hlt, er sehe keinen Sinn mehr im Leben. Besorgt riet der Lehrer der Mutter, noch am selben Tag mit Sandro in die psychiatrische Universit&auml;tskinderklinik in Basel zu gehen. Di Gallo erinnert sich noch gut an den Teenager. &laquo;Sandro wirkte lustlos&raquo;, sagt er. &laquo;Er hatte keine Ahnung, was er nach dem Schulabschluss machen sollte, und keine Kraft, sich darum zu k&uuml;mmern. &raquo; Er sei am liebsten mit seinen Freunden zusammen, erz&auml;hlte Sandro dem Arzt, aber in der letzten Zeit habe er das Gef&uuml;hl, sie w&uuml;rden ihn nicht mehr m&ouml;gen. Bereits zweimal hat er sich in seine Unterarme geschnitten.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1701_Weblinks_s34_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="811" /></p> <h2>Keine Lust zu spielen</h2> <p>&laquo;Kinder und Jugendliche mit Depressionen haben einen hohen Leidensdruck&raquo;, sagt Susanne Walitza, Direktorin der Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Kinder- und Jugendpsychiatrie in Z&uuml;rich. &laquo;Das kann sie enorm in ihrer normalen Entwicklung beeintr&auml;chtigen. &raquo; Bei der Diagnose m&uuml;sse man jedoch genau schauen, ob das Kind wirklich depressiv sei oder aus irgendeinem anderen Grunde niedergeschlagen.<br /><br /> &laquo;Es ist v&ouml;llig normal, dass Kinder traurig werden, wenn sich die Eltern trennen, oder dass Jugendliche einmal &lsaquo;schlecht drauf&rsaquo; sind &ndash; gerade in der Pubert&auml;t&raquo;, sagt sie. &laquo;Bei bestimmten Zeichen sollte man aber hellh&ouml;rig werden.&raquo; Etwa wenn ein Kind pl&ouml;tzlich grundlos &uuml;ber l&auml;ngere Zeit traurig wirkt, in der Schule nachl&auml;sst oder st&auml;ndig gereizt reagiert.<br /><br /> Die Neigung zur Depression kann vererbt werden. Zum Ausbruch kommt sie aber in der Regel durch ein Wechselspiel mit zus&auml;tzlichen Faktoren, etwa wenn das Kind durch eine Situation &uuml;berfordert ist, sich die Eltern trennen, das Kind misshandelt, st&auml;ndig &uuml;berfordert oder gemobbt wird. W&auml;hrend sich bei Jugendlichen die Depression eher mit &auml;hnlichen Zeichen &auml;ussert wie bei Erwachsenen, versteckt sie sich bei kleineren Kindern oft hinter anderen Beschwerden (Tab. 2). &laquo;Die Kleinen haben keine Lust mehr zu spielen, klagen &uuml;ber Bauchweh oder wollen nicht allein sein&raquo;, sagt Di Gallo. So wie bei der 4-j&auml;hrigen Tina (Name von der Redaktion ge&auml;ndert): Spielsachen interessieren Tina nicht, sie sitzt oft still auf einem Stuhl, lutscht am Daumen und h&auml;ngt manchmal wie eine Klette an den Betreuern in der Spielgruppe.<br /><br /> Bereits bei S&auml;uglingen und Kleinkindern kann es bei einschneidenden Verlusterlebnissen, vor allem bei einer l&auml;ngeren Trennung von den Eltern ohne entsprechenden Ersatz durch eine vertraute Bezugsperson, zu einer sogenannten anaklitischen Depression kommen. &laquo;Fehlt die emotionale und k&ouml;rperliche Zuwendung, ziehen sich diese Kinder nach anf&auml;nglichem Protest und anhaltendem Weinen immer mehr von ihrer Umwelt zur&uuml;ck&raquo;, sagt Di Gallo. Das geht meist mit Schlafst&ouml;rungen und schliesslich apathischem Verhalten einher. &laquo;Stellt man die Beziehung zu einer Bezugsperson rechtzeitig wieder her, erholen sich die Kinder meist wieder vollst&auml;ndig. Bleibt aber die Trennungssituation bestehen und fehlt die emotionale Unterst&uuml;tzung, dann drohen bleibende schwere Entwicklungsund Beziehungsst&ouml;rungen.&raquo;</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1701_Weblinks_s34_tab2_korr.jpg" alt="" width="1417" height="1683" /></p> <h2>Kindgerecht fragen</h2> <p>Manchmal sei die Diagnose nicht einfach, gibt Di Gallo zu. &laquo;Insbesondere kleinen Kindern f&auml;llt es nat&uuml;rlich schwer, mit Worten zu beschreiben, wie sie sich f&uuml;hlen. &raquo; Oder sie sch&auml;men sich gar f&uuml;r ihr Verhalten. Projektive Testmethoden wie Zeichnungen oder Geschichtenerg&auml;nzungsverfahren seien in der Diagnostik deshalb unerl&auml;sslich. &laquo;Bei kleinen Kindern l&auml;sst sich viel am Spielverhalten erkennen&raquo;, sagt Di Gallo. &laquo;Hat das Kind keine Lust zu spielen, ist es schnell entmutigt oder zeigt es dysphorische Abwehrreaktionen? M&auml;kelt es st&auml;ndig am Essen herum, hat keinen oder einen gesteigerten Appetit, schl&auml;ft es nicht mehr gut durch, wacht fr&uuml;h auf oder hat Alptr&auml;ume, k&ouml;nnen das ebenfalls zus&auml;tzliche Hinweise sein.&raquo; Bei &auml;lteren Kindern beurteilen die Kinderpsychiater das Leistungsverhalten, eventuell zus&auml;tzlich mittels testpsychologischer Verfahren. Mit einer sorgf&auml;ltigen k&ouml;rperlich-neurologischen Untersuchung schliesst man organische Ursachen aus. &laquo;Wichtig ist auch, das Umfeld des Kindes miteinzubeziehen&raquo;, sagt Di Gallo. Bezugspersonen k&ouml;nnen beispielsweise Angaben machen zu einer m&ouml;glichen heredit&auml;ren Belastung, zu psychosozialen Einflussfaktoren wie Migration, Armut, chronischen Krankheiten der Eltern oder Interaktions- und Beziehungsst&ouml;rungen in der Familie wie fr&uuml;hkindlicher Deprivation, inkonsistenter oder abwertender Erziehung, Schuldzuweisungen, h&auml;ufig wechselnde Bezugspersonen oder Trennungstraumata. Kinderg&auml;rtner und Lehrer k&ouml;nnen erz&auml;hlen, ob das Kind in der Schule nachgelassen hat, sich mehr von Gruppenaktivit&auml;ten zur&uuml;ckzieht oder von Gleichaltrigen gemobbt wird.<br /><br /> Nach der Diagnose seien Kind und Eltern oft erleichtert, erz&auml;hlt Walitza. &laquo;Die qu&auml;lenden Beschwerden haben jetzt einen Namen, und das Kind hat nicht mehr das Gef&uuml;hl, es m&uuml;sse sich einfach nur zusammenreissen, damit es ihm besser geht.&raquo; Eltern fragen die Psychiaterin oft, ob sie etwas falsch gemacht h&auml;tten. &laquo;Ich versuche, ihnen die Schuldgef&uuml;hle zu nehmen, und erkl&auml;re ihnen, dass sie eine besonders wichtige Rolle bei der Therapie spielen.&raquo;</p> <h2>Familie in die Therapie einbeziehen</h2> <p>Leichte und mittelschwere Depressionen werden mit Psychotherapie behandelt. Hier lernt das Kind, welche Ausl&ouml;ser zur Depression beigetragen haben, wie es selbstbewusster werden kann und was f&uuml;r Aktivit&auml;ten ihm wieder Freude machen k&ouml;nnten. &laquo;Wir Therapeuten m&uuml;ssen ein altersspezifisches Gespr&auml;chsklima schaffen, mit dem das Kind aus seinem inneren R&uuml;ckzug herausfindet und uns gegen&uuml;ber positiv eingestellt ist&raquo;, sagt Di Gallo. Eltern f&uuml;hlen sich durch das Verhalten ihres Kindes &uuml;berlastet, wissen nicht mehr, wie sie mit ihm umgehen sollen, und sind w&uuml;tend, wenn es abweisend reagiert. Das wiederum gibt dem Kind das Gef&uuml;hl, nicht geliebt und nicht erw&uuml;nscht zu sein &ndash; was das Selbstwertgef&uuml;hl noch mehr verringert. In einer Familientherapie k&ouml;nnen Eltern, Geschwister und das betroffene Kind lernen, dass das Kind nicht aus B&ouml;sartigkeit so reagiert, sondern weil es eine Depression hat. Das zu erkennen, hilft Eltern und Geschwistern oft schon sehr dabei, dem Kind wieder mit mehr Respekt und Verst&auml;ndnis zu begegnen. Antidepressiva setzen die Kinderpsychiater in schweren F&auml;llen ein, meist nur bei Jugendlichen, denn die Medikamente haben nicht unerhebliche Nebenwirkungen.<br /><br /> &laquo;Obwohl wir aufmerksamer geworden sind und offener &uuml;ber Depressionen sprechen, haftet psychischen Krankheiten immer noch ein grosses Tabu an&raquo;, sagt Di Gallo. &laquo;Sie wecken Unsicherheit und &Auml;ngste in uns, die wir lieber an den Rand schieben.&raquo;<br /> Je eher man behandelt und Eltern und Kinder aufkl&auml;rt, wie sich das Kind vor einem erneuten Schub sch&uuml;tzen kann, desto seltener kommt es dazu. Tina hatte nach der Therapie wieder Lust zu spielen und Sandro bestand k&uuml;rzlich die Aufnahmepr&uuml;fung f&uuml;r eine Kunstschule.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Di Gallo A, Weber M: Schweiz Med Forum 2005; 5: 925-30</p> </div> </p>
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