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Die passende Operationsmethode wählen
Urologik
Autor:
Prof. Ricarda M. Bauer
Urologische Klinik und Poliklinik<br> Klinikum der Universität München – Campus Großhadern<br> Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)<br> E-Mail: ricarda.bauer@med.uni-muenchen.de
30
Min. Lesezeit
30.03.2017
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<p class="article-intro">Die Belastungsinkontinenz des Mannes ist die am meisten gefürchtete Komplikation der radikalen Prostatektomie. Bei nicht ausreichender Besserung unter konservativer Therapie wird eine operative Therapie empfohlen. Die Auswahl der operativen Methode sollte in erster Linie nach den Kontraindikationen erfolgen und Patientenwünsche berücksichtigen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Es gilt: nicht „eines für alle“.</li> <li>Jeder Patient ist anders.</li> <li>Ziel bei der Wahl der operativen Methode: bestes Verhältnis von Kontinenzrate und Komplikationen.</li> <li>Verständnis der Pathophysiologie und differenzierte Diagnostik sind Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung.</li> </ul> </div> <h2>Einleitung</h2> <p>Harninkontinenz wird meist als Problem der Frau wahrgenommen, aber auch eine relevante Anzahl von Männern ist betroffen. Typischerweise ist die Harninkontinenz beim Mann – wie bei der Frau – mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität verbunden. Die Belastungsinkontinenz des Mannes ist zumeist iatrogen bedingt, wobei die radikale Prostatektomie die häufigste Ursache darstellt. Insgesamt werden in der Literatur persistierende Inkontinenzraten von 10 bis 20 % beschrieben, wobei in High-Volume- Zentren Raten <5 % erzielt werden. Zusätzlich können neben der Belastungsinkontinenz in bis zu 70 % der Fälle zusätzlich Symptome einer überaktiven Blase mit erhöhter Miktionsfrequenz, imperativem Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz sowie Nykturie auftreten. Diese sind allerdings typischerweise innerhalb des ersten Jahres nach radikaler Prostatektomie spontan rückläufig.<br /> Die postoperative Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie (PPI) basiert oftmals auf einer Schädigung der autonomen Innervation der glattmuskulären Sphinkteranteile. Im Gegensatz dazu ist die quergestreifte Sphinktermuskulatur oftmals völlig unbeschädigt. Daher berichten betroffene Männer häufig, dass es bei kurzfristiger Belastung wie Husten oder Niesen zu keinem Urinverlust komme und sie auch völlig problemlos den Harnstrahl unterbrechen könnten. Typischerweise tritt ein Urinverlust häufig erst bei längerer körperlicher Belastung wie Laufen, Gartenarbeit oder Sport auf, bei der es zur Ermüdung der quergestreiften Sphinkteranteile kommt. Darüber hinaus berichten viele Patienten von einer Verschlechterung der Kontinenz am Nachmittag.<br /> Im Gegensatz dazu ist die Ursache einer postoperativen Harninkontinenz nach beispielsweise TURP, Prostatalaserung, Adenomenukleation und nach Anastomosenresektionen meist ein direkter Sphinkterschaden.<br /> Auch wenn die postoperativ persistierende Belastungsinkontinenz häufig zu einer deutlich eingeschränkten Lebensqualität und hohem Leidensdruck führt, erhalten doch zahlreiche Betroffene keine Behandlung. Vermutlich liegt dies auch daran, dass das Bewusstsein für die zur Verfügung stehenden operativen Therapiemöglichkeiten unter den behandelnden Ärzten noch nicht ausreichend verbreitet ist.</p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Die Diagnostik der PPI wird in eine Basisdiagnostik und eine erweiterte Diagnostik unterteilt (Abb. 1). In der Basisdiagnostik sollte eine gezielte Anamnese erfolgen und es sollten spezielle Fragen zur Inkontinenz geklärt werden. Hierbei sollten unter anderem folgende Punkte berücksichtigt werden:</p> <ul> <li>inkontinenzauslösende Operation</li> <li>andere Voroperation im kleinen Becken</li> <li>Komorbiditäten mit möglichen neurogenen oder anatomischen Veränderungen (z.B. Diabetes mellitus, neurologische Erkrankungen, Wirbelsäulenoperationen)</li> <li>Radiatio und Einfluss der Radiatio auf Kontinenz und Drangbeschwerden</li> <li>Miktionsfrequenz untertags und Nykturie</li> <li>Drangbeschwerden inkl. Dranginkontinenz</li> <li>Inkontinenz auslösende Situationen (z.B. husten, niesen, aufstehen, heben, bergab gehen/Stiegen hinuntersteigen, laufen in der Ebene, im Liegen, bei Ermüdung, Sport, bei körperlicher Arbeit)</li> <li>Inkontinenzsymptomatik im Tagesverlauf (z.B. unverändert über den Tag oder morgens gering und dann Zunahme der Inkontinenz im Tagesverlauf)</li> <li>Harnstrahlunterbrechung möglich</li> <li>Vorlagenverbrauch untertags und nachts</li> <li>vorausgegangene Inkontinenzoperationen</li> <li>Miktionsprobleme/Kontinenzstatus vor Prostataoperation</li> </ul> <p>Darüber hinaus sollte insbesondere vor einer operativen Therapie immer das Ausmaß des Therapiewunsches und des Leidensdrucks des Patienten geklärt werden, da beides einen wesentlichen Einfluss auf die Wahl der operativen Methode haben kann.<br /> Vor einer operativen Therapie wird die erweiterte Diagnostik empfohlen. Hierbei sollten eine Urethrozystoskopie und ggf. auch eine Urodynamik erfolgen. Im Rahmen der Urethrozystoskopie sollte Folgendes evaluiert werden:</p> <ul> <li>Urethra: Strikturen und Elastizitätsverlust (starre, atrophe, weißliche Urethra)</li> <li>Beurteilung der Anastomose: Anastomosenstriktur</li> <li>Beurteilung der Blase: Inflammation, Trabekulierung, Tumor, Steine, Blasenkapazität</li> <li>Beurteilung der Sphinkterfunktion: Fähigkeit zum aktiven Sphinkterschluss, Sphinkterdefekt und sogenannter „Repositionierungstest“ zur Beurteilung der funktionellen Harnröhrenlänge</li> </ul> <p>Vor geplanter Implantation eines artifiziellen Sphinkters empfiehlt sich eine kognitive und manuelle Basisdiagnostik (Kognition: z.B. Uhrentest, bei dem der Patient das Zifferblatt einer Uhr zeichnen und eine vorgegebene Zeigereinstellung eintragen soll; manuelle Fähigkeiten und Kognition: z.B. Kugelschreibertest, bei dem man den Kugelschreiber vom Patienten auseinander- und wieder zusammenschrauben lässt).<br /> Insgesamt dient die Diagnostik bei der persistierenden männlichen Belastungsinkontinenz weniger der Aufdeckung der spezifischen Pathophysiologie als vielmehr der Identifikation von Kontraindikationen für die operative Therapie. Die Auswahl der Methode sollte in erster Linie anhand der Kontraindikationen erfolgen (Tab. 1). Zwischen den einzelnen Methoden gibt es allerdings breite Überschneidungen. Hier sollte daher nach der Expertise des Operateurs und der Patientenpräferenz entschieden werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_s22_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="1501" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_s22_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="615" /></p> <h2>Konservative Therapie</h2> <p>Empfohlene First-Line-Therapie ist die konservative Therapie. Hierbei spielt vor allem die Physiotherapie, optimalerweise durch geschulte Beckenbodentherapeuten, eine zentrale Rolle.<br /> Wenn der Patient nicht oder nur schwer in der Lage ist, den Beckenboden selbstständig zu kontrahieren, kann dieser auch passiv mittels Elektrostimulation stimuliert werden. Die Elektrostimulation sollte aber mit einem aktiven Beckenbodentraining kombiniert werden.<br /> Darüber hinaus wird eine Verhaltenstherapie (Miktion nach der Uhr, Reduktion der Trinkmenge, Vermeiden von blasenreizenden Substanzen) als unterstützende Maßnahme bei der initialen Behandlung der PPI empfohlen.<br /> Bei postoperativen Drangbeschwerden wird in den aktuellen Leitlinien eine anticholinerge Therapie empfohlen. Da Drangbeschwerden häufig nach einem Jahr regrediert sind, sollten regelmäßige Auslassversuche erfolgen.<br /> Der Serotoninwiederaufnahmehemmer Duloxetin hat für die Behandlung der männlichen Belastungsinkontinenz keine Zulassung. Dennoch unterscheidet sich das Wirkprofil nicht von dem bei der Frau. In mehreren Studien konnte auch bei Männern die Wirksamkeit nachgewiesen werden, wobei eine signifikante Reduktion der Inkontinenz bei bis zu 50 % der Patienten eingetreten war. Falls es im Rahmen eines „off-label use“ eingesetzt wird, sollte es einschleichend dosiert werden, damit, ähnlich wie bei der Frau, Nebenwirkungen reduziert werden können.</p> <h2>Operative Therapie</h2> <p>Bei entsprechendem Therapiewunsch sollte eine operative Therapie immer dann empfohlen werden, wenn die Belastungsinkontinenz trotz adäquater und suffizienter konservativer Therapie mindestens sechs Monate postoperativ persistiert und eine stabile Kontinenzsituation eingetreten ist.<br /> Die Erkenntnisse zur Pathophysiologie der PPI des Mannes, insbesondere nach radikaler Prostatektomie, haben in den letzten Jahren maßgeblich zur Entwicklung neuerer operativer Methoden beigetragen. Mittlerweile kommen daher nicht mehr nur der seit Jahrzehnten etablierte artifizielle Sphinkter, sondern auch verschiedene funktionelle und adjustierbare Schlingensysteme zum Einsatz. <br /><br /><strong>Artifizieller Sphinkter</strong><br /> Der artifizielle Sphinkter AMS 800 (Boston Scientific, zuvor American Medical Systems, USA) gilt nach wie vor als operative Standardtherapie der persistierenden PPI. Die Erfolgsrate (0–1 Vorlage) liegt durchschnittlich bei 80 % und die Kontinenzrate (keine Vorlagen) bei knapp 45 % , allerdings muss hierbei beachtet werden, dass viele der so behandelten Patienten präoperativ an einer starken bis kompletten Inkontinenz litten. Typische Komplikationen sind mechanischer Art (durchschnittlich 6,2 % ), Harnröhrenatrophie (durchschnittlich 8 % ) und Infektion bzw. urethrale Arrosionen (durchschnittlich 8,5 % ). Urethrale Arrosionen und Infektionen erfordern typischerweise eine Entfernung des Implantats. Insgesamt liegt die Revisionsrate bei etwa 30 % . Bei bestrahlten Patienten scheinen die Kontinenzraten etwas niedriger und die Komplikationsraten (besonders Infektionen sowie Harnröhrenarrosionen) höher zu sein. Insgesamt ist die Patientenzufriedenheit aber hoch, sie korreliert mit der Kontinenzrate und nicht mit der Anzahl der Revisionen.<br /> Ein Doppel-Cuff-System sollte nicht standardmäßig in der Primärsituation verwendet werden, da dieses mit einem höheren Risiko für Komplikationen und Rezidiveingriffen verbunden ist, ohne die Kontinenzrate zu erhöhen.<br /> Für die erfolgreiche Bedienung des künstlichen Schließmuskels müssen eine ausreichende manuelle Geschicklichkeit und mentale Fähigkeiten des Patienten vorhanden sein (siehe Diagnostik). Das Alter allein sollte aber in keinem Fall eine Kontraindikation für die Implantation darstellen. <br /><br /><strong>Funktionelle Schlingensysteme (retrourethrale transobturatorische AdVance-XP-Schlinge)</strong><br /> Die Wirkung der transobturatorischen AdVance-XP-Schlinge (Boston Scientific, zuvor American Medical Systems, USA) ist bisher nicht abschließend geklärt und scheint multifaktoriell zu sein. Unter anderem scheinen folgende Faktoren eine Rolle zu spielen: Korrektur einer postoperativen urethralen Hypermobilität, Verlängerung der funktionellen Harnröhre, venöser Sealing-Effekt. AdVance XP besteht aus Polypropylen und wird retrourethral im Bereich der membranösen Harnröhre direkt auf den Bulbus implantiert. Voraussetzung für eine erfolgreiche Implantation ist eine adäquate Selektion der Patienten inklusive zystoskopischer Evaluation mit Nachweis einer ausreichenden Mobilität der hinteren Harnröhre und einer guten Residualfunktion des Sphinkters im sogenannten Repositionierungstest. In diversen Studien konnten Kontinenzraten (keine Vorlagen) von bis zu 70 % erzielt werden. In zwei aktuellen multizentrischen Untersuchungen konnte außerdem gezeigt werden, dass die Ergebnisse auch drei Jahre postoperativ stabil bleiben und keine Langzeitkomplikationen auftreten.<br /> Zu beachten ist, dass es bei einer intraoperativen Überkorrektur zu einer persistierenden Restharnbildung kommen kann. Davon abgesehen sind Komplikationen selten und schwerwiegende Komplikationen (z.B. Infektionen und persistierende Schmerzen) sind eine absolute Seltenheit. Bei Patienten mit zusätzlicher Radiotherapie zeigt AdVance XP allerdings deutlich reduzierte Erfolgsraten und sollte nur sehr restriktiv zum Einsatz kommen. <br /><br /><strong>Adjustierbare Schlingensysteme</strong><br /> In Europa sind drei verschiedene adjustierbare Schlingensysteme erhältlich:</p> <ul> <li>Argus classic und Argus T (Promedon, Argentinien)</li> <li>ATOMS (A.M.I., Österreich)</li> <li>Remeex (Neomedic, Spanien)</li> </ul> <p>Das Wirkprinzip der adjustierbaren Schlingensysteme basiert auf einer permanenten Erhöhung des urethralen Widerstands zur Unterstützung der Basiskontinenz. Allen diesen Systemen ist gemein, dass sie im Bereich der bulbären Urethra auf dem Musculus bulbospongiosus platziert werden und postoperativ adjustiert werden können. Sie werden entweder retropubisch (Argus classic und Remeex) oder transobturatorisch (Argus T und ATOMS) implantiert. Die Invasivität der Adjustierung unterscheidet sich dabei von System zu System.<br /> Die Kontinenzraten aller adjustierbaren Schlingensysteme scheinen vergleichbar zu sein und liegen bei etwa 65 % . In Studien zu Argus und ATOMS konnte außerdem gezeigt werden, dass die Kontinenzergebnisse von bestrahlten und nicht bestrahlten Patienten ähnlich sind. Allerdings existieren keine vergleichenden Studien, die die Systeme untereinander oder mit anderen Therapieverfahren vergleichen. Vorteile dieser Systeme sind der relativ einfache operative Zugang und die Möglichkeit, auch noch nach Jahren bei wiederauftretender Inkontinenz jederzeit eine Adjustierung vorzunehmen. Typische Komplikationen dieser Systeme sind Infektionen, ggf. mit nachfolgender Explantation, sowie postoperative Schmerzen (persistierend bei bis zu 5 % ).<br /> Im Vergleich zur AdVance-XP-Schlinge können mit adjustierbaren Schlingen auch bei Patienten mit nächtlichem Urinverlust, bei Zustand nach Radiatio, mit Sphinkterdefekt und funktioneller Harnröhrenlänge</p> <h2>Fazit</h2> <ul> <li>Primäre Therapie der Post-Prostatektomie- Inkontinenz (PPI) ist die konservative Therapie mit Beckenbodentraining.</li> <li>Die Diagnostik sollte der präoperativen Patientenselektion und der Identifikation von Kontraindikationen für einzelne OP-Techniken dienen.</li> <li>Bei den heute bestehenden vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten sollte jeder Mann mit persistierender postoperativer Belastungsinkontinenz über die operativen Therapiemöglichkeiten aufgeklärt und in einer spezialisierten Sprechstunde bei Therapiewunsch vorgestellt werden.</li> </ul></p>
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<p>bei der Verfasserin</p>
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