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Interstitielle Zystitis/Blasenschmerzsyndrom (IC/BPS) – ein leidvolles Beschwerdebild
Urologik
Autor:
Prof. Dr. Dr. phil. Thomas Bschleipfer, F.E.B.U.
Klinik für Urologie, Andrologie<br> und Kinderurologie<br> Klinikum Weiden/Kliniken Nordoberpfalz AG,<br> Weiden<br> E-Mail:<br> thomas.bschleipfer@kliniken-nordoberpfalz.ag
30
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13.09.2018
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<p class="article-intro">Unterschiedliche Definitionen, eine Vielfalt an ätiopathologischen Faktoren und das Vorhandensein von zahlreichen Differenzialdiagnosen erschwerten die Diagnosefindung „IC/BPS“ erheblich. Viel zu lange Zeit vergeht daher, bis Patienten einer adäquaten Therapie zugeführt werden können. Diese sollte multidisziplinär und multimodal in Zentren mit großer Erfahrung erfolgen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die interstitielle Zystitis/das Blasenschmerzsyndrom (IC/BPS) zählt zum chronischen Beckenschmerzsyndrom, welches für den Arzt wie den Patienten eine große Herausforderung darstellt.<br /> Beim Beckenschmerzsyndrom unterscheidet man prinzipiell gynäkologische Ursachen und nicht-gynäkologische Ursachen.<sup>1</sup> Eine der häufigsten gynäkologischen Ursachen ist die Endometriose, welche in jedem Fall ausgeschlossen werden sollte.<sup>2</sup> Zu den nicht-gynäkologischen Ursachen zählen chirurgische, gastrointestinale, ortho- neuro-muskuläre, psychische/ psychosomatische, neurologische und nicht zuletzt urologische Faktoren. Aus der praktischen Erfahrung heraus scheinen orthopädische Ursachen, insbesondere vertebrogene Faktoren, sehr häufig Beckenschmerzen im Sinne einer Schmerzausstrahlung zu verursachen. Nicht selten werden die Beschwerden auch als Blasenschmerzen empfunden.</p> <h2>Definition</h2> <p>Definitionsgemäß liegt bei der IC/BPS ein zumindest sechs Monate anhaltender chronischer Beckenschmerz mit Druck bzw. Missempfinden in Bezug auf die Harnblase vor. Dieser Schmerz steigert sich charakteristischerweise bei zunehmender Blasenfüllung, d.h., er variiert mit dem Füllungszustand der Harnblase. <sup>3</sup> Ein weiteres Symptom des (unteren) Harntraktes wie beispielsweise persistierender Harndrang oder erhöhte Miktionsfrequenz muss ebenfalls gegeben sein. Dies führt jedoch zur großen Schwierigkeit der sogenannten „verwechselbaren Erkrankungen“ („confusable diseases“) (Tab. 1). Die IC/ BPS muss damit als Ausschlussdiagnose gesehen werden.<br /> Gerade diese Schwierigkeit sowie die unterschiedlich ausgeprägte Symptomatik mit sehr differenter Ätiopathogenese bedingt eine lange Odyssee der Patienten, welche zum Teil Jahrzehnte benötigen, bis die entsprechende Diagnose gestellt wird.<sup>4</sup> Durch vermehrte Aufklärungsarbeit scheint jedoch das Krankheitsbild IC/ BPS mehr und mehr ins Bewusstsein der ärztlichen Kollegen zu rücken, was den Leidensweg betroffener Patienten deutlich verkürzen dürfte.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1803_Weblinks_s11_tab1.jpg" alt="" width="500" height="743" /></p> <h2>Epidemiologie</h2> <p>Epidemiologisch können Patienten jeder Altersklasse betroffen sein – so auch Kinder, welche in früheren Definitionen strikt ausgeschlossen waren. Die höchste Prävalenz findet sich im mittleren Lebensalter. Frauen sind neunmal häufiger betroffen als Männer. Die Prävalenz der IC/ BPS wird bei Frauen mit 52– 500 pro 100 000 und bei Männern mit 8–41 pro 100 000 angegeben.<sup>4</sup> Eine Studie von Berry et al. untersuchte die Prävalenz der IC/BPS bei erwachsenen Frauen mittels Telefoninterview. <sup>5</sup> Bei 32 474 von 131 691 Haushalten fand sich eine erwachsene weibliche Person, welche Blasensymptome angab. Die Autoren errechneten eine Prävalenz der IC/ BPS bei 6,53 % mit hoher Sensitivität und bei 2,70 % mit hoher Spezifität (81 % Sensitivität vs. 83 % Spezifität für IC/BPS vs. Endometriose, Vulvodynie und/oder überaktive Blase). Die IC/BPS könnte damit häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. Dennoch gilt die interstitielle Zystitis mit nachgewiesenen Blasenschleimhautläsionen (Glomerulationen, Rhagaden und/oder Hunner-Läsionen) immer noch als seltene Erkrankung („orphan disease“), welche in Europa mit einer Prävalenz von <5/10 000 Einwohner definiert ist.</p> <h2>Pathogenese</h2> <p>Ätiopathogenetisch werden für die IC/ BPS genetische Disposition, Voroperationen, Infektionen, Defekte der Glycosaminoglycan- Schicht, Urothelläsionen, Veränderungen durch urotheliale Mediatoren, Mastzellaktivierung, Entzündung und Autoimmunerkrankungen sowie ein Mangel an Tamm-Horsfall-Protein diskutiert. Auch psychosoziale Aspekte spielen eine wesentliche Rolle. Die IC/BPS tritt häufig gemeinsam mit funktionellen somatischen Syndromen (FSS) wie beispielsweise Fibromyalgie, Fatique, Reizdarmsyndrom etc. auf. Sie ist häufig auch assoziiert mit Depressionen und Panikstörungen.</p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Für Diagnose und Therapie ist die Zeit der wichtigste Faktor. Patient und Arzt benötigen außerordentlich viel Geduld, was bereits zu Beginn der Arzt-Patienten- Interaktion thematisiert werden sollte. Für die Diagnosefindung ist eine ausführliche Anamnese grundlegend, welche allumfänglich im Sprechstundenalltag einer niedergelassenen Praxis zumeist nur sehr schwierig durchgeführt werden kann. Fragebögen und Miktions-Trink- Tagebücher können hilfreich sein. Dem schließt sich die körperliche Untersuchung mit Schmerzmapping, vaginaler Untersuchung bzw. beim Mann digitorektaler Untersuchung an. Urosonografie und Urinuntersuchung sind als selbstverständlich vorauszusetzen. Eine funktionelle Beurteilung des unteren Harntrakts sollte mittels Zystomanometrie erfolgen. Hierbei wurde früher der Kaliumchloridtest als Provokationstest genutzt. Dieser birgt jedoch das Risiko, alle Erkrankungen mit LUDE („lower urinary dysfunctional epithelium“) zu detektieren. Er ist somit für die Diagnose IC/BPS zu unspezifisch. Alternativ steht der Lidocaintest zur Verfügung, bei welchem eine zweite Zystomanometrie nach Instillation von Lidocain und Natriumbicarbonat erfolgt. Der Lidocaintest gibt zumindest einen guten Hinweis darauf, ob die Schmerzproblematik vesikogen ist.<br /> Ein Hydrodistensionstest in Narkose (80cm H<sub>2</sub>O) soll die morphologische Kapazität der Blase ermitteln. Ferner lassen sich unter/nach Hydrodistension Veränderungen der Blasenschleimhaut aufzeigen. Hierzu zählen die oben erwähnten Glomerulationen (petechiale Einblutungen der Blasenschleimhaut), wasserfallartige Blutungen, Urothelabschilferungen und Unterblutungen, Rhagaden und Hunner-Läsionen. Der Hydrodistensionstest sollte mit einem Blasenmapping komplettiert werden. Hierbei werden aus unterschiedlichen Blasenquadranten tiefe Biopsien entnommen, sodass Detrusormuskulatur sicher miterfasst ist. Die pathologische Begutachtung sollte sich nach der Publikation von Nordling (2004)<sup>6</sup> richten. Somit ist eine standardisierte Auszählung von Mastzellen gewährleistet. In der Zusammenschau der insbesondere endoskopischen Befunde kann die IC/BPS entsprechend Tabelle 2 klassifiziert werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1803_Weblinks_s11_tab2.jpg" alt="" width="600" height="296" /></p> <h2>Therapie</h2> <p>Therapeutisch finden sich die Möglichkeiten der oralen, intravesikalen, (semi-) interventionellen und operativen Therapie. Als orale Medikation steht das im europäischen Raum neuerdings zugelassene Medikament Pentosanpolysulfat zur Verfügung, dessen Kosten nun auch von den Krankenkassen übernommen werden. Des Weiteren ist ein modernes Schmerzregime gemeinsam mit den Schmerztherapeuten zu erarbeiten. Hierbei werden häufig auch Antidepressiva wie Amitriptylin angewendet. Amitriptylin weist neben seiner analgetischen Wirkung auch einen Mastzellen- stabilisierenden Effekt auf und gilt als H1-Blocker. Antihistaminika wie Cimetidin (H2-Blocker) und Hydroxyzin (H1-Blocker) sowie Immunsuppressiva (Cyclosporin A, Azathioprin, Methotrexat) zählen ebenfalls zu den oralen Therapeutika bei IC/BPS. Jocham et al. konnten in ihrer Versorgungsstudie jedoch nachweisen, dass die orale Medikation in nur ca. 50 % der Fälle zu einer Verbesserung führt.<sup>4</sup> Hierüber sollten die Patienten bereits bei Therapiebeginn aufgeklärt werden.<br /> An intravesikalen Therapeutika stehen Dimethylsulfoxid (DMSO), Heparin, Lidocain, Hyaluronsäure, Chondroitinsulfat und Pentosanpolysulphat zur Verfügung. Gute Erfolge scheinen sich unter der Kombination von Heparin, Lidocain und Natriumbicarbonat einzustellen, wobei der Patient in den intermittierenden Selbstkatheterismus eingewiesen sein sollte, um die Therapie selbst dreimal pro Woche durchführen zu können. Die Therapie kann und sollte bis zu 12 Monate fortgeführt werden. Sie hat im Vergleich zur Instillationstherapie mit Hyaluronsäure und/oder Chondroitinsulfat den Vorteil, deutlich kostengünstiger zu sein. Letztere Therapien werden meist von den Krankenkassen nicht bezahlt, sodass die Patienten die Kosten selbst zu tragen haben (ca. 60€ pro Instillation). Jocham et al. konnten zeigen, dass die Instillationstherapie bei nur 46–63 % der Patienten zu einer Verbesserung führt. Die besten Erfolge werden bei Verwendung der EMDA-Therapie („electromotive drug administration“) mit 61,34 % erzielt.<br /> Als semiinvasive Maßnahmen gelten der Hydrodistensionstest und die intravesikale Injektionstherapie mit Botulinumtoxin. Der Hydrodistensionstest, welcher auch als Diagnostikum eingesetzt werden sollte (siehe oben), führt zu einer Schädigung submuköser Nervenfasern und damit zu einer Abnahme der afferenten Aktivität. Der Erfolg ist jedoch mit wenigen Monaten von nur kurzer Dauer. Dennoch empfinden viele Patienten diese Therapieoption aufgrund ihres raschen Wirkungseintritts als sehr hilfreich. Einen guten Effekt zeigt auch die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin. Die Beschwerdelinderung hält jedoch ebenfalls nur wenige Monate an. Beide Eingriffe lassen sich aber durchaus kombinieren. Hervorragende Ergebnisse mit mehrjährigem Erfolg zeigt die transurethrale Resektion oder Fulguration von Schleimhautrhagaden und/oder Hunner- Läsionen. Des Weiteren stehen die sakrale (S3) sowie die pudendale Neuromodulation zur Verfügung. Als Ultima Ratio muss die (radikale) Zystektomie in Betracht gezogen werden. Die Literatur zeigt hier eine bis zu 100 % ige Erfolgsrate auf. Sicherzustellen ist jedoch im Vorfeld, dass es sich auch eindeutig um eine vesikogene Schmerzsymptomatik handelt.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Wozniak S: Chronic pelvic pain. Ann Agric Environ Med 2016; 23: 223-6 <strong>2</strong> Neis K J, Neis F: Chronic pelvic pain: cause, diagnosis and therapy from a gynaecologist‘s and an endoscopist‘s point of view. Gynecol Endocrinol 2009; 25: 757-61 <strong>3</strong> van de Merwe JP et al.: Diagnostic criteria, classification, and nomenclature for painful bladder syndrome/interstitial cystitis: an ESSIC proposal. Eur Urol 2008; 53: 60-7 <strong>4</strong> Jocham D et al.: The care situation of patients with interstitial cystitis in Germany: results of a survey of 270 patients. Urologe A 2013; 52: 691-702 <strong>5</strong> Berry SH et al.: Prevalence of symptoms of bladder pain syndrome/interstitial cystitis among adult females in the United States. J Urol 2011; 186: 540-4 <strong>6</strong> Nordling J et al.: Primary evaluation of patients suspected of having interstitial cystitis (IC). Eur Urol 2004; 45: 662-9 <strong>7</strong> Vij M et al.: Interstitial cystitis: diagnosis and management. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 2012; 161: 1-7</p>
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