Testosteron und Prostatakarzinom – ein Dogma wackelt
Bericht:
Reno Barth
Studiendaten legen nahe, dass Testosteron nicht immer der Treiber hinter dem Wachstum eines Prostatakarzinoms sein muss und dass bei hypogonadalen Männern mit Prostatakarzinom eine Testosteronsubstitution nicht immer kontraindiziert ist. Testosteron erhöht jedoch die Resistenz des Tumors gegenüber Strahlentherapie.
Keypoints
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Die Testosteronsubstitution bei hypogonadalen Männern mit lokalisiertem PCa mit niedrigem Rezidivrisiko ohne Zeichen von Aktivität ist nicht grundsätzlich kontraindiziert, reduziert die Symptome des Hypogonadismus und verbessert die Lebensqualität.
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Aktive Erkrankung, lokalisiertes Hochrisikokarzinom, positive Operationsränder, positive Lymphknoten sowie Metastasen stellen nach wie vor Kontraindikationen für eine Testosteronsubstitution dar.
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Unter dem Einfluss von Testosteron bilden PCa-Zellen DNA-Repair-Enzyme, die die Resistenz gegenüber Strahlung erhöhen.
Im Jahr 1945 stellten Huggins und Hodges auf Basis geringer empirischer Evidenz das Dogma der Testosteronabhängigkeit des Prostatakarzinoms (PCa) auf. Daraus folgte die Kastration und später medikamentöse Androgendeprivation als Therapie des metastasierten PCa. Damit galt eine Testosteronsubstitution bei hypogonadalen Männern mit einem PCa in der Anamnese als streng kontraindiziert. Doch dieses Dogma müsse im Lichte aktueller Evidenz angepasst werden, so Prof. Dr. Szolt Kopa von der Budapester Semmelweis-Universität im Rahmen seines Vortrags beim Central European Urology Meeting 2022. Man habe zwar gelernt, dass PCa-Zellen tatsächlich extrem sensitiv auf Testosteron reagieren, dass dies jedoch in erster Linie bei extrem niedrigen Testosteronkonzentrationen relevante Unterschiede ausmache, während höhere Testosteronkonzentrationen keine zusätzliche Stimulation mehr bewirken.
Review bringt neue Erkenntnisse
Vor einigen Jahren gelangte ein Literaturreview zu dem Ergebnis, dass die Mortalität wegen PCa stark gesunken und damit die Zahl der PCa-Langzeitüberlebenden entsprechend gestiegen ist. Damit gibt es immer mehr hypogonadale Männer, die ohne die Historie ihres PCa Kandidaten für eine Testosteronsubstitution wären. Die Autoren kamen auch zu dem Schluss, dass eine Testosteronsubstitution bei hypogonadalen Männern nach einem Niedrigrisiko-PCa sicher und nicht grundsätzlich kontraindiziert ist, die Symptome des Hypogonadismus reduziert und die Lebensqualität verbessert.1
Die infrage kommende Population ist groß. Denn der Testosteronspiegel bleibt zwar bei der Mehrheit der gesunden Männer bis ins hohe Alter im physiologischen Bereich, doch fast ein Drittel der Männer wird irgendwann zwischen 40 und 80 hypogonadal, mit deutlichen ungünstigen Folgen für Gesundheit und Lebensqualität. Folgen sind insbesondere eine erhöhte Inzidenz von metabolischem Syndrom, Typ-2-Diabetes und kardiovaskulärer Erkrankung. Gleichzeitig steigt mit zunehmendem Alter auch das Risiko, an einem PCa zu erkranken. Epidemiologische Daten zeigen, dass ein niedriger Testosteronspiegel zwar mit einem insgesamt reduzierten Risiko assoziiert ist, ein PCa zu entwickeln, dass das niedrige Testosteron jedoch insbesondere aggressive Karzinome zu begünstigen scheint.
Niedriges Testosteron zum Zeitpunkt der Diagnose eines PCa ist assoziiert mit mehr extraprostatischer Erkrankung und tumorpositiven Operationsrändern. Höhere Testosteronspiegel sind hingegen assoziiert mit Niedrigrisikokarzinomen mit niedrigerem PSA und geringerem Progressionsrisiko.
Testosterontherapie bei wem – und bei wem nicht?
Bei eugonadalen Männern führen höhere Testosteronspiegel nicht zu einem Anstieg des PSA.2 Der Schlüssel zum Verständnis dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in der Funktion der 5-Alpha-Reduktase (5AR), die Testosteron in seinen aktiven Metaboliten Dihydrotestosteron (DHT) umwandelt. Inhibition der 5AR führt zu einer selektiven Androgendeprivation, reduziertem PSA und einer Reduktion des Risikos, ein PCa zu entwickeln. DHT hat also einen größeren Einfluss auf das Risiko, ein PCa zu entwickeln, als Testosteron, so Kopa. Gleichzeitig sehe man bei Patienten, die wegen Late-Onset-Hypogonadismus Testosteron erhalten, weder höhere PSA-Werte noch ein gehäuftes Auftreten von Prostatakarzinomen. Es gäbe also keinen Grund, warum Männer mit lokalisiertem PCa nicht von einer Testosteronsubstitution profitieren sollten, sofern sie diese wegen ihres Hypogonadismus benötigen. Unter Testosterongabe kommt es zwar zu einer Volumenzunahme der Prostata, diese sei jedoch physiologisch und selbstlimitierend.
Dementsprechend kann eine Off-Label-Testosteronbehandlung von Männern mit lokalisiertem PCa mit niedrigem Rezidivrisiko ohne Zeichen von Aktivität bei Hypogonadismus indiziert sein. Kandidaten sind entsprechend dem zuvor zitierten Review Patienten unter „active surveillance“, die die entsprechenden Kriterien erfüllen, sowie Patienten mit Low-Risk-Karzinomen, wobei niedriges Risiko, so Kopa, definiert ist durch einen Gleason Score unter 8, pT1–2 und ein präoperatives PSA unter 10ng/dl. Nach einer radikalen Prostatektomie muss das PSA unter der Nachweisgrenze liegen. Die Testosteronsubstitution darf frühestens ein Jahr nach der OP begonnen werden. Im Falle einer Brachytherapie kann die Substitution begonnen werden, nachdem der PSA-Nadir erreicht wurde. Die Testosterontherapie ist individualisiert so zu gestalten, dass die erreichten Testosteronspiegel gerade hoch genug sind, um die Symptome des Hypogonadismus zu vermeiden, dabei aber immer so niedrig wie möglich sind.
Aktive Erkrankung, ein lokalisiertes Hochrisikokarzinom, positive Operationsränder, positive Lymphknoten sowie Metastasen stellen nach wie vor Kontraindikationen für eine Testosteronsubstitution dar.
Die aktuellen Leitlinien der verschiedenen Fachgesellschaften sind etwas vorsichtiger und erlauben in beinahe gleichlautenden Empfehlungen bei Patienten mit symptomatischem Hypogonadismus eine Testosteronsubstitution nach erfolgreicher Therapie eines lokalisierten Karzinoms, sofern keine klinischen oder biochemischen Anzeichen einer residuellen Erkrankung vorhanden sind.
Testosteron macht Tumor strahlenresistent
Sehr wohl gefragt sind niedrige Testosteronspiegel in einer ganz anderen Situation: beim lokal rezidivierenden PCa im Rahmen einer Salvage-Radiotherapie nach radikaler Prostatektomie. Geert de Meerleer vom Universitätskrankenhaus Leuven weist in diesem Zusammenhang auf die Studie GETUG-AFU 16 hin, die bei Patienten, die sich wegen eines PCa-Rezidivs nach einer radikalen Prostatektomie einer Strahlentherapie unterzogen, die Wirkung einer zeitlich begrenzten Androgendeprivation mit Goserelin untersuchte. Die Hormontherapie wurde am ersten Tag der Bestrahlung begonnen und über drei Monate fortgesetzt. Nach fünf Jahren Beobachtungszeit war das Risiko biochemischer und/oder klinischer Rezidive in der ADT-Gruppe signifikant und deutlich reduziert.3 Die Nebenwirkungen entsprachen den Erfahrungen mit Androgendeprivation. Die Autoren stufen die vorübergehende ADT auf Basis dieser Daten als interessante Option ein.
Gegner der ADT weisen, so de Meerleer, darauf hin, dass in GETUG-AFU 16 kein Mortalitätsvorteil gezeigt werden konnte. Dies sei jedoch irrelevant, sagt de Meerleer, der sich damit vom „Mortalitätsdogma“ verabschiedet. Das Ziel der Therapie solle nicht nur ein längeres, sondern auch ein tumorfreies Leben sein. De Meerleer: „Patienten nach Strahlentherapie plus vorübergehender ADT haben bessere Chancen auf Heilung. Auch wenn das ihre Lebenserwartung nicht verlängert, weil sie vielleicht 20 Jahre später bei einem Autounfall sterben. Sie müssen sich nicht mehr um ihren Tumor kümmern.“ Mittlerweile sind auch die mechanistischen Hintergründe der Befunde aus GETUG-AFU 16 geklärt. Unter dem Einfluss von Testosteron bilden PCa-Zellen DNA-Repair-Enzyme, die die Resistenz gegenüber Strahlung erhöhen. Die Wirkung der ADT in diesem Kontext habe also nichts mit Mikrometastasierung oder dergleichen zu tun, sondern ausschließlich mit der Empfindlichkeit der Tumorzelle gegenüber Strahlung.
Quelle:
Central European Urology Meeting 2022 (CEM22), 1.–2. April 2022, Wien
Literatur:
1 Nguyen TM, Pastuszak AW: Sex Med Rev 2016; 4(4): 376-88 2 Bhasin S et al.: Am J Physiol Endocrinol Metab 2001; 281(6): E1172-81 3 Carrie C et al.: Lancet Oncol 2016; 17(6): 747-56
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