Das Delir im Alter – Neuigkeiten?
Autorin:
Dr. med. Martina Heim Classen , MSc
Akutgeriatrie
Kantonsspital Graubünden
Chur
E-Mail: martina.heim@ksgr.ch
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Ältere Patientinnen und Patienten mit Delir fordern Behandlungsteams sowie Angehörige in hohem Masse. Delirien sind gefährlich: längere Spitalaufenthaltsdauer, erhöhte Komplikationsraten, erhöhtes Demenzrisiko und Letalität bis 30%. Dieser Artikel soll aufzeigen, welche Massnahmen präventiv und therapeutisch wirksam sind, denn ein «Wundermittel gegen Delir» existiert nicht.
Keypoints
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Ein Screening zur Verbesserung der Diagnoserate von Delirien in stationären Institutionen ist sinnvoll.
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Multimodale pflegerische Massnahmen sind evidenzbasierte Therapieansätze, die zur Verhinderung, Verkürzung und Linderung des Delirs beitragen.
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Die medikamentöse Therapie sollte der Ursachenbehebung dienen (Analgetika, Laxanzien, Antibiotika etc.).
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Neuroleptika sollten nicht standardmässig eingesetzt werden. Bei schwer führbaren, agitierten Patientinnen und Patienten soll die niedrigste wirksame Dosis mit möglichst kurzer Therapiedauer und täglicher Reevaluation eingesetzt werden.
Hintergrund
Das Delir, ein Syndrom basierend auf akuter Hirninsuffizienz, ist potenziell lebensbedrohlich mit einer Letalität von bis zu 30%.1 Alter, vorbestehende kognitive Störungen und Sensorikeinschränkungen sind Risikofaktoren für die Entwicklung eines Delirs bei Hospitalisation. So ist es wenig verwunderlich, dass bis zu 23% der auf einer allgemeinen Medizin hospitalisierten älteren Patientinnen und Patienten ein Delir entwickeln.1 Abhängig vom Hospitalisationsgrund sind die Prävalenzzahlen gar noch höher. Im ambulanten Setting stehen weniger gute Zahlen zur Verfügung. Jedoch wird postuliert, dass in Pflegeinstitutionen bis zu 38% der Bewohner:innen ein Delir entwickeln. Ein Delir bedarf umgehender Diagnostik und Therapie zur Vermeidung sekundär verbleibender kognitiver Einschränkungen und zur Reduktion von Komplikationen.2
Diese Übersicht klammert Alkoholentzugsdelirien oder Delirien aufgrund anderer Substanzabhängigkeiten und Delirien auf Intensivstationen aus. Es sollen die Entstehung sowie Prävention und Therapieoptionen des akuten Delirs beim älteren Menschen aufgezeigt werden.
Definition
Abhängig von der angewendeten Klassifikation werden etwas unterschiedliche Kriterien zur Definition eines Delirs angewendet: Nach ICD-10 handelt es sich um «ein ätiologisch unspezifisches, polymorphes, hirnorganisches Syndrom, welches nicht allein durch Intoxikation mit Alkohol oder psychotropen Substanzen verursacht wird. Es ist charakterisiert durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und mindestens zwei der nachfolgend genannten Störungen: Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität oder des Schlaf-wach-Rhythmus. Die Dauer ist sehr unterschiedlich und der Schweregrad reicht von leicht bis zu sehr schwer.»2
Gemäss revidiertem DSM-5-TR müssen Regulationsstörungen der Aufmerksamkeit vorhanden sein, die gemeinsam mit Bewusstseinsstörungen quantitativer Art (Vigilanz) oder qualitativer Art (betreffend Denken, Wahrnehmung, andere kognitive und emotionale Leistungen) auftreten. Die akute Symptomatik darf nicht allein durch eine vorbestehende Erkrankung erklärt sein und sollte nicht im Zusammenhang mit einem Koma oder Erwachen aus dem Koma beobachtet werden.3 Die tabellarische Auflistung der Kriterien nach DSM-5-TR ist in Tabelle 1 dargestellt.
Tab. 1: Diagnosekriterien für ein Delir nach DSM-5-TR
Delirien werden in 3 Subtypen unterteilt, welche sich im psychomotorischen Verhalten der Betroffenen unterscheiden: Das hyperaktive Delir zeichnet sich durch psychomotorische Unruhe, Herumwandern, vegetative Symptomatik sowie unruhiges, teils aggressives Verhalten aus. Das hypoaktive Delir ist deutlich schwerer zu erkennen. Es kommt zu reduzierter Aktivität, Apathie, Verlangsamung und Teilnahmslosigkeit. Das gemischte Delir besteht aus sich abwechselnden Symptomen des hyper- und hypoaktiven Delirs. Sind nicht alle Delirkriterien vollständig erfüllt, spricht man von einem subsyndromalen oder abgeschwächten Delir.3
Um Delirien im stationären Setting frühzeitig zu erkennen und eine adäquate Behandlung einleiten zu können, wird empfohlen, ältere Patientinnen und Patienten systematisch zu screenen.
Screeningmethoden
Es existieren mannigfaltige, validierte Screeningtools zur Detektion von Delirien. Im Folgenden werden zwei in der Schweiz gängige und ins Deutsche übersetzte Methoden sowie ein im englischsprachigen Raum weit verbreiteter Test erläutert.
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DOS (Delirium Observation Screening Scale)Die DOS ist eine für Pfegefachpersonen mit 13 Items (2. Version) entwickelte Skala. Sie beschreibt die im Pfegealltag beobachtbaren Verhaltensweisen. Leider ist die Abgrenzung zur Demenz nicht gut und sie hat eine geringe Sensitivität bei hypoaktivem Delir. Je nach Auffälligkeiten ergibt sich ein Zahlenwert und es wird entsprechend weitere Diagnostik empfohlen.4
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CAM (Confusion Assessment Method)Die CAM ist eine weit verbreitete Methode. Die Kurzversion enthält 5 Kriterien und die Langversion 10. Es werden die Diagnosekriterien des Delirs (Aufmerksamkeit, Bewusstseinsstörung, Denkstörung, Fluktuation) geprüft. Die CAM ist in verschiedenen Settings validiert worden (zum Beispiel für Notfall-, Betten- und Intensivstationen). Das Ergebnis ist: Delirverdacht Ja/Nein.5
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4-A-Test (Alertness, AMT4: Abbreviated Mental Test 4, Attention, Acute change or fluctuating course)Der 4-A-Test ist ein sehr kurzes (<2min), einfach auszuführendes Screeningtool. Die getesteten Punkte zu Wachheit, Orientierung (4 Fragen), Aufmerksamkeit und fluktuierender Symptomatik ergeben maximal 12 Punkte, minimal 0 (ab 4 Punkten besteht Delirverdacht).6
Allen Screenintools gemeinsam ist, dass eine weiterführende Diagnostik und interprofessionelle Einschätzung stattfinden muss, um die Diagnose eines Delirs zu stellen.
Folgende Differenzialdiagnosen des Delirs sind zu beachten und je nach Klinik zu suchen: ein vorbestehendes demenzielles Syndrom, eine Enzephalitis, ein nichtkonvulsiver Status epilepticus, eine akute Psychose oder Intoxikation, um nur einige zu nennen.
Entstehung des Delirs
Die Entstehung eines Delirs ist meistens multifaktoriell. Bekannt sind prädisponierende Faktoren wie zum Beispiel hohes Alter (ab 70 Jahren), vorbestehende Kognitionsstörung (Demenz), Seh- oder Höreinschränkungen, Frailty (Gebrechlichkeit), Multimorbidität, Polypharmazie, Depression, bereits stattgehabtes Delir oder schlechter Ernährungszustand. Kommen darauf auslösende Faktoren (Risikofaktoren) hinzu, kann dies zur Entwicklung eines Delirs führen. Diese Auslöser können ein akutes Trauma, Schmerzen, ein Infekt, Dehydratation, Hypoglykämie, Hypo- oder Hypernatriämie, Herzinsuffizienz oder psychischer Stress, Ortswechsel und Ähnliches sein.2,7
Pathophysiologisch werden verschiedene neurobiologische Prozesse als Ursachen des Delirs postuliert. Wilson et al. haben die erforschten Vorgänge im Detail beschrieben:1 Zum einen entsteht eine Neuroinflammation durch Sekretion der entzündungsmodulierenden Faktoren Interleukin(IL)-1, IL-1β, IL-6, Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) im hirneigenen Epithel durch Makrophagen oder teilweise durch Einwanderung dieser Moleküle über die Blut-Hirn-Schranke. Dies führt zur lokalen Einwanderung von Monozyten oder direkt zum neuronalen Zelltod. Zusätzlich kann es zu einer vaskulären Dysfunktion der Hirngefässe kommen, welche die Sauerstoffversorgung und die Zufuhr von Glukose beeinträchtigen. Ein veränderter Hirnmetabolismus (z.B. reduzierter Glukosemetabolismus) kann auf Zellebene hinzukommen. Ebenso kommt es zu einem Ungleichgewicht der Neurotransmitter (sei es durch eingenommene Medikamente, bereits atrophierte Hirnareale oder Stress), sodass im Acetylcholin-, Dopamin- und GABA-Stoffwechsel Störungen entstehen. Auch wird postuliert, dass Veränderungen im Gleichgewicht von Histamin und Noradrenalin (erhöhte Spiegel) involviert sind. Schliesslich gibt es Hinweise, dass im Rahmen der oben beschriebenen Vorgänge neuronale Netzwerkverbindungen nicht mehr einwandfrei funktionieren.1 Aufgrund dieser pathophysiologischen Vorgänge scheint es nicht verwunderlich, dass kein einzelner pharmakologischer Wirkstoff alleine wirksam ist in der Delirtherapie.
Evidenzbasierte Präventions- und Therapieansätze
Es gibt Evidenz für die Prävention des Delirs vorwiegend mit nichtmedikamentösen Massnahmen. Bereits die schweizerischen Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter von 2016 zeigten dies auf: Es gilt, die Ursachen zu identifizieren und zu behandeln. Eine kardiale Dekompensation oder ein Infekt sollen behandelt werden. Kommunikation und Orientierung sollen effizient gestaltet werden (z.B. mit Orientierungstafeln und Uhren im Zimmer). Seh- und Hörhilfen sollten wann immer möglich benützt werden. Störungen und Lärm gilt es zu minimieren und den Schlaf-wach-Rhythmus zu erhalten. Es ist wichtig, die Harn- und Stuhlausscheidung zu regulieren, ebenso wie die Ernährung sicherzustellen und den Elektrolyt- und Wasserhaushalt auszugleichen. Eine gute analgetische Therapie (wenn möglich ohne Opioide) und die frühe postoperative Mobilisation sind wichtig. Wann immer möglich sind Katheter zu entfernen. Angehörige sollen, sofern das gewünscht ist, aktiv in die Betreuung einbezogen und den Deliranten ein vertrautes Umfeld geschaffen werden.2,7
Medikamentöse (symptomatische) Therapie
Medikamentöse Strategien zur Delirvermeidung beschränken sich auf das Absetzen von Risikomedikationen und die Vermeidung von Psychopharmaka und Substanzen mit anticholinerger Wirkung.
Der Einsatz von Neuroleptika, Cholinesterasehemmern und Melatoninderivaten zeigte bislang keinen überzeugenden Nutzen.2 Die Datenlage ist sehr kontrovers. Typische Neuroleptika wie Haloperidol oder atypische Neuroleptika wie Quetiapin oder Risperidon sollten nicht standardmässig und nur mit Zurückhaltung eingesetzt werden. Die Delirinzidenz sowie die Delirdauer oder die delirbedingte Aufenthaltsdauer auf Intensivstationen wird durch diese Medikamente nicht verkürzt.1 Bei aggressiven Patientinnen und Patienten sowie schwerer psychomotorischer Unruhe oder bestehender Selbst- sowie Fremdgefährdung kann der Einsatz von Neuroleptika notwendig sein. Die Substanz wird abhängig vom Ziel – eher antipsychotisch oder sedierend – ausgewählt. Pipamperon zum Beispiel sediert stark, wirkt aber wenig antipsychotisch. Wohingegen Risperidon besser antipsychotisch wirksam ist, aber wenig sediert. In der Schweiz ist nur Haloperidol für die Delirbehandlung zugelassen. Die übrigen Neuroleptika werden ausserhalb ihrer Zulassung eingesetzt.2,7
Auf Intensivstationen kann Dexmedetomidin die Delirdauer sowie den Schweregrad reduzieren. Speziell beim Alkoholentzugsdelir sind Clonidin und Dexmedetomidin als sedierende Alpha-2-Rezeptor-Agonisten auch zur Kontrolle von Hypertension und Tachykardie geeignet und beeinflussen die Atmung nur wenig.
Schlafanstossende Antidepressiva wie niedrig dosiertes Mirtazapin (7,5–15mg) oder Trazodon (25–50mg) können bei abendlicher Unruhe oder zusätzlicher Angstsymptomatik wirksam sein. Beide Therapien sind jedoch in dieser Indikation «off-label».
Tabelle 2 zeigt eine nicht abschliessende Übersicht zur symptomatischen medikamentösen Therapie beim hyperaktiven oder gemischten Delir. Beim hypoaktiven Delir sind Sedativa und Neuroleptika nicht indiziert.
Tab. 2: Symptomatische medikamentöse Therapie des Delirs (adaptiert nach Maschke M 2020; Savaskan E et al. 2016; Thom RP et al. 2019)2,7,8
Fazit
Es muss derzeit konstatiert werden, dass alles beim Alten bleibt in der Delirtherapie: Nichtmedikamentöse Massnahmen im Sinne der Prävention und pflegerische, multimodale Interventionen können Delirien verhindern oder deren Verlauf positiv beeinflussen. Ein pharmakologisches Wundermittel existiert nicht. Neuroleptika sollten zurückhaltend, in kleinstmöglicher Dosierung und so kurz als möglich bei schwer führbaren, sich gefährdenden Patientinnen und Patienten eingesetzt werden.
Literatur:
1 Willson JE et al.: Delirium. Nature Reviews Disease Primers 2020; 6(90): 1-26 2 Maschke M: Delir und Verwirrtheitszustände. S1-Leitlinie. Trier: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, 2020 3 American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5-TR). 5. Washington: American Psychiatric Association Publishing, 2022 4 Schuurmans MJ et al.: The Delirium Observation Screening Scale: a screening instrument for delirium. Res Theor Nurs Pract 2003; 17(1): 31-50 5 Wei LA et al.: The Confusion Assessment Method: a systematic review of current usage. J Am Geriat Soc 2008; 56(5): 823-30 6 De J et al.: Validating the 4A’s test in screening for delirium in a culturally diverse geriatric inpatient population. Int J Geriatr Psych 2017; 32(17): 1322-9 7 Savaskan E et al.: Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter. Praxis 2016; 105(16): 941-52 8 Thom RP et al.: Treatment in Psychiatry: Delirium. Am J Psychiatry 2019; 176(10): 785-93
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