
Lärm und mentale Gesundheit
Autor:
Dr. med. Benedikt Wicki
Swiss Tropical and Public Health Institute
Department of Epidemiology and Public Health
Allschwil
E-Mail: benedikt.wicki@swisstph.ch
Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass Verkehrslärmexposition die mentale Gesundheit negativ beeinflussen kann. Hier beleuchten wir die Faktenlage mit einem Fokus auf zwei aktuelle Studien aus der Schweiz. Zudem werden Erklärungsansätze für die beobachteten Zusammenhänge diskutiert.
Keypoints
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Immer mehr Studien zeigen, dass Lärm und insbesondere Verkehrslärm einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit hat. Patienten mit bestehenden psychiatrischen Erkrankungen scheinen diesbezüglich besonders vulnerabel zu sein.
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Lärm führt zu physiologischen Stressreaktionen und kann Schlafstörungen verursachen, was wiederum Faktoren sind, die zu verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen beitragen. Ausserdem kann Ruhe Erholung ermöglichen und so die Resilienz steigern.
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Lärmschutzmassnahmen sind wichtige Public-Health-Massnahmen. Insbesondere wenn sie den Lärm an der Quelle reduzieren, können sie einen effizienten Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten, von dem ein grosser Teil der Bevölkerung profitiert.
Lärm ist allgegenwertig. Er begleitet uns auf dem Weg zur Arbeit durch die Stadt, stört Gespräche, manchen raubt er den Schlaf. Dass dies nicht nur lästig ist, sondern auch die Gesundheit beeinträchtigen kann, wurde mittlerweile mehrfach wissenschaftlich belegt. In der Schweiz ist jede siebte Person zu Hause Strassen-, Schienen- oder Fluglärm oberhalb des Grenzwertes ausgesetzt.1 Gemäss der aktuellen Studienlage schätzt die European Environmental Agency, dass Verkehrslärm nach Luftverschmutzung den zweitgrössten Anteil an der gesamten umweltbedingten Krankheitslast ausmacht. In Europa gehen demnach jedes Jahr schätzungsweise über eine Million gesunde Lebensjahre aufgrund von durch Verkehrslärm verursachten Krankheitsfolgen verloren.2 Diese Schätzungen beruhen vor allem auf Studien zu Auswirkungen auf das kardiovaskuläre System, wo die Faktenlage am eindeutigsten und umfangreichsten ist. In den letzten Jahren mehren sich aber die Hinweise, dass sich Verkehrslärmexposition auch negativ auf die mentale Gesundheit auswirkt. So fanden zwei Metaanalysen aus dem Jahr 2020 einen Zusammenhang zwischen der Exposition zu Strassenverkehrs- oder Fluglärm und dem Risiko, an einer Depression3 oder Angststörung4 zu erkranken.
Lärmexposition ist mit einem erhöhten Suizidrisiko assoziiert
Vor diesem Hintergrund führten wir eine gross angelegte Kohortenstudie unter Einbezug der gesamten Bevölkerung der Schweiz durch, in der wir den Zusammenhang zwischen Lärmexposition am Wohnort und dem Suizidrisiko untersuchten.5 Suizide wurden hier als Surrogat für zugrundeliegende psychiatrische Erkrankungen verwendet, da in der Schweiz keine flächendeckenden Daten zu psychiatrischen Diagnosen vorhanden sind. Die gesamte Bevölkerung über 15 Jahre wurde in die Studie eingeschlossen und von 2000 bis 2015 beobachtet. Für diese ganze Population wurde die Verkehrslärmexposition am jeweiligen Wohnort modelliert. Die epidemiologische Analyse wurde für diverse sozioökonomische Faktoren sowie Co-Exposition zu Luftverschmutzung und Grünflächen um den Wohnort statistisch kontrolliert. So fanden wir ein um 4% statistisch signifikant erhöhtes Suizidrisiko pro 10dB zusätzlichem Strassenverkehrslärm. Dies kann als Hinweis interpretiert werden, dass Lärm sich negativ auf die mentale Gesundheit auswirkt. Was jedoch aus dieser Studie unklar bleibt, ist wie genau diese Risikoerhöhung zustande kommt. Einerseits könnte Lärm eine Rolle bei der Entstehung von psychiatrischen Erkrankungen spielen und damit zu einem erhöhten Suizidrisiko beitragen. Andererseits ist auch denkbar, dass Lärm den Krankheitsverlauf von Personen mit einer psychiatrischen Krankheit negativ beeinflusst, was sich ebenfalls in einem erhöhten Suizidrisiko manifestieren würde.
Akute Auswirkungen von Lärm auf psychiatrische Patienten
In einer weiteren kürzlich erschienenen Studie widmeten wir uns daher spezifisch der Frage, wie sich Lärm auf psychiatrische Patienten auswirkt.6 Hier nutzten wir die aussergewöhnliche Lage einer psychiatrischen Klinik in unmittelbarer Nähe zu einem Militärflugplatz, um ein natürliches Experiment durchzuführen. Aufgrund detaillierter Fluglisten der Jahre 2016–2021 konnten die Lautstärke und der Zeitpunkt jedes Jetüberflugs während dieser Zeitspanne rekonstruiert werden. Mittels eines modernen Zeitreihendesigns («case time series») untersuchten wir dann, ob die Flugereignisse einen kurzfristigen Effekt auf den Konsum von Bedarfsmedikation der Patienten in der Klinik hat. Unter Einbezug von Daten aus fast 6000 Aufenthalten in der Klinik konnten wir nachweisen, dass in den drei Stunden nach der Lärmexposition die Wahrscheinlichkeit für den Konsum von Sedativa und Analgetika im Vergleich zu Stunden ohne Fluglärm signifikant erhöht war. Dieser Risikoanstieg war bei multimorbiden Patienten mit mehr als zwei psychiatrischen Diagnosen um rund das Vierfache grösser als bei Patienten mit ein bis zwei Diagnosen. Dies ist ein klarer Hinweis dafür, dass Lärm stärker belastete Patienten mehr beeinträchtigt. Die grössten Effekte konnten zudem bei Patienten mit Schizophrenie oder Abhängigkeitserkrankungen beobachtet werden.
Pathophysiologische Erklärungsansätze
Es gibt mehrere biologische und pathophysiologische Erklärungsansätze dazu, wie Lärm die mentale Gesundheit beeinträchtigt. Die meisten stützen sich dabei auf das sogenannte Lärmwirkungsmodell von Babisch.7 Dieses Modell unterscheidet auditorische Auswirkungen wie Schwerhörigkeit durch sehr hohe Lärmexposition von nichtauditorischen Wirkungen. Diese nichtauditorischen Effekte treten bereits bei weniger lauten Lärmexpositionen auf und umfassen Stressreaktionen sowie emotionale Belästigungsreaktionen durch gestörte Kommunikation oder Schlafstörungen. In Labor und Tierversuchen konnte nachgewiesen werden, dass Lärmexposition zur Ausschüttung von Stresshormonen und Aktivierung des Sympathikus führen kann.8 Solch chronischer Stress und Schlafstörungen sind wiederum bekannte Risikofaktoren für diverse psychiatrische Erkrankungen.
Eine ergänzende und ebenso plausible Erklärung für die beobachteten Effekte ergibt sich durch die Einnahme einer salutogenetischen Perspektive. Hier gibt es das Konzept der erholsamen Umgebung (engl.: «restorative environments»). Solche Umgebungen erfüllen in der Regel zwei Kriterien: Ermöglichung von Erholung durch Abwesenheit von Stressoren und Förderung von Erholung durch Zugang zu sozialen Institutionen und «Erholungsinfrastruktur» (z.B. Parks, Sportanlagen, Natur).9 In Bezug auf Lärm wäre die Erklärung dann, dass Ruhe bezüglich mentaler Gesundheit ein wichtiger salutogenetischer Umweltfaktor ist. Also, dass eine ruhige Umgebung Individuen eher die Möglichkeit gibt, sich zu erholen, ihre Ressourcen zu aktivieren und mit kleineren und grösseren Stressoren des täglichen Lebens umzugehen. Anstatt Lärm macht krank würde das dann heissen, Ruhe schützt die Gesundheit. Um diesen Umkehrschluss tatsächlich ziehen zu können, bedarf es jedoch noch weiterer Forschung.
Lärmschutz – eine wichtige Public- Health-Massnahme
In Anbetracht der stetig wachsenden Prävalenz psychischer Erkrankungen bei knappen Behandlungsressourcen und weitgehendem Stillstand bezüglich neuer pharmakologischer Behandlungsansätze sollte die Prävention psychiatrischer Erkrankungen eine deutlich prominentere Rolle einnehmen. Die bauliche Umwelt kann in diesem Rahmen ein wichtiger Faktor sein. Hier gibt es besonders für die Auswirkungen von Lärm auf die mentale Gesundheit zunehmend gute Evidenz und plausible Erklärungen. Gerade Patienten, die bereits an psychiatrischen Krankheiten leiden und eine hohe Krankheitslast aufweisen, scheinen gegenüber Lärm vulnerabel zu sein beziehungsweise von ruhigen Umgebungen zu profitieren. Um auch solch vulnerable Gruppen wirksam vor Lärm schützen zu können, erweisen sich Lärmschutzmassnahmen an der Quelle als besonders effizient. Wenn man Lärm gar nicht erst entstehen lässt, schützt man die meisten Personen. Dies wäre aus einer Public-Health-Perspektive sehr wünschenswert, denn Lärmschutz ist Gesundheitsschutz, auch und gerade betreffend die mentale Gesundheit.
Literatur:
1 BAFU, B.f.U. 28.03.2024; Available from: https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/laerm/fachinformationen/laermbelastung/stand-der-laermbelastung-in-der-schweiz.html 2 EEA, Environmental Noise in Europe — 2020; EEA Reports 2020, European Environment Agency (EEA): Copenhagen, Denmark 3 Hegewald J et al.: Traffic noise and mental health: asystematic review and meta-analysis. Int J Environ Res Public Health 2020; 17(17): 6175 4 Lan Y et al.: Transportation noise exposure and anxiety: a systematic review and meta-analysis. Environmental Research 2020; 191: 110118 5 Wicki B et al.: Suicide and transportation noise: aprospective cohort study from Switzerland. Environmental Health Perspect 2023; 131(3): 037013 6 Wicki B et al.: Acute effects of military aircraft noise on sedative and analgesic drug administrations in psychiatric patients: a case-time series analysis. Environ Int 2024; 185: 108501 7 Basner M et al.: Auditory and non-auditory effects of noise on health. Lancet 2014; 383(9925): 1325-32 8 Hahad O et al.: Noise and mental health: evidence, mechanisms, and consequences. Journal of Exposure Science & Environmental Epidemiol 2024 9 von Lindern E et al.: The restorative environment and salutogenesis: complementary concepts revisited.In: The Handbook of Salutogenesis. M.B. Mittelmark et al., Editors. 2022, Springer
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