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Home Treatment

«Home Treatment – Swiss achievement»

Aus der Dankeskarte einer Patientin. Stationsersetzende Akutbehandlung zu Hause – vom Kindesalter bis ins Senium.

Keypoints

Die Vorteile des Home Treatment:
  • Möglichkeit, den Alltag auch während intensiver Behandlung aufrechtzuerhalten

  • Hohe Flexibilität, Praxisbezug und Miteinbeziehung des Systems

  • Kosteneffizienz

  • Maximale Indiviualisierbarkeit der Therapie

  • Rasche und verifizierte System-erfassung und Problemidentifikation

Home Treatment gilt als effektives stationsäquivalentes Versorgungsmodell in der Akutbehandlung und wird daher für die Standardversorgung in jedem Versorgungsgebiet empfohlen.1–3

Ein Erfahrungsbericht aus Zürich

Praktisch wird unser Team beispielsweise zu einer Patientin gerufen, die ihre Wohnung – beginnend mit einer Agoraphobie – seit Jahren nicht verlässt. Sie lässt sich das Essen von Nachbarn bringen und den Restmüll durch Bekannte mitnehmen. Aufgrund der hinzugetretenen schweren Antriebsstörung im Rahmen der komorbiden depressiven Erkrankung bezahlt sie ihre Rechnungen nicht mehr und hat daher den Telefon- und Internetanschluss verloren. Nebst den kurzen Kontakten an der Türe, um sich mit dem Notwendigsten zu versorgen, ist die Person völlig isoliert und vereinsamt. Sie hat seit Jahren keine wirklichen Begegnungen mehr. Es bestehen ausgeprägte Ängste in Bezug auf alles, was ausserhalb der eigenen vier Wände stattfindet. All das wird vermieden. Der letzte Cafébesuch, die letzte Konsultation bei der Hausärztin, der letzte Friseurtermin – Jahre her. Eine stationäre Behandlung komme aufgrund früherer schlechter Erfahrungen keinesfalls infrage, also: Home Treatment.

Die Wohnung bezeugt die Anamnese stumm: Bücherkartons stehen herum, Pizzaschachteln türmen sich, Umzugskisten gefüllt mit Kleidern säumen den schmalen Weg von der Eingangstür zum Wohnzimmer. Es riecht nach abgestandenem Zigarettenrauch. Drei Personen können im Wohnzimmer stehen oder sitzen – mehr Platz ist zwischen der Unzahl an Dingen nicht mehr, die sich über die Jahre angesammelt haben. Hier beginnt unser stationsersetzendes Home Treatment. Die Patientin wird von nun an täglich von einem Teammitglied besucht. Dabei richtet sich der Inhalt der Besuche ganz nach den Bedürfnissen der zu behandelnden Person. Ärztlich erfolgt beispielsweise die Diagnostik, vom Psychologen erhält die Patientin Psychoedukation, ergotherapeutisch wird ein Wochenplan zum Ausmisten der Wohnung erstellt, der Sozialdienst klärt administrative Belange. Alles anhand des multiprofessionell erarbeiteten individuellen Therapieplans. Am Ende eines Besuches nimmt jedes Teammitglied einen Kehrichtsack mit und bringt ihn zur Abfalltonne.

Der Grossteil unserer Besuche erfolgt dabei durch das Pflegepersonal. Dieses führt Alltagstrainings durch, entsprechend einer Expositionstherapie. Dabei wird der Bewegungsradius der Patientin langsam erweitert: erst vor die Wohnungstür ins Treppenhaus, dann vor das Haus zu den Briefkästen, hinunter in die Waschküche zum Waschen, mit den Kehrichtsäcken zu den Abfalltonnen, in den nahe gelegenen Supermarkt und schliesslich bis zu den Praxisräumen der nächsten Psychiaterin, die – gemeinsam mit einer durch uns organisierten psychosozialen Spitex – die Anschlussbehandlung nach dem Home Treatment übernimmt.

Wie aus dem Beispiel ersichtlich ist, handelt es sich um ein aufsuchendes Angebot für akut psychisch erkrankte Patientinnen und Patienten durch ein multiprofessionelles Behandlungsteam. Darunter Ergotherapeutinnen, Sozialarbeiter, Pflegepersonal, Ärztinnen und Psychologen. Um der Akuität der Erkrankungen gerecht zu werden, findet mindestens ein Besuch pro Tag bei jeder Patientin und jedem Patienten durch ein Teammitglied statt. Bestehend seit 2016 konnte unser Angebot 2021 auf Personen über 65 Jahren erweitert werden. Im Bereich der Alterspsychiatrie liegt ein gewichtiger Schwerpunkt auf der Diagnostik (psychologische Testungen: kognitives Screening [MMSE, MoCa] mit Durchführung von neuropsychologischen Testungen bei Hinweisen auf eine neurokognitive Störung; Depressions- und Delir-Screening [GDS, DOS, CAM]). Die Diagnostik und die Therapie im alterspsychiatrischen HT sind somit neben allen psychiatrischen Diagnosen auf Altersdepression und beginnende Demenzen erweitert. Seit 2024 gibt es auch ein kinder- und jugendpsychiatrisches stationsersetzendes Home Treatment. So bietet unsere Klinik ein Home Treatment für Akutbehandlungen vom Kindesalter bis ins hohe Alter an.

Für unsere eigene Patientenpopulation konnten wir aufzeigen, dass Home Treatment bezüglich klinischer Behandlungsparameter wie Symptomreduktion, Funktionsniveau und Wiedereintrittsraten gleich wirksam ist wie eine stationäre Behandlung.4 Zudem ist die Zufriedenheit leicht höher als im stationären Setting.5 In einer weiteren Schweizer Studie konnten bei einer unselektierten Patientengruppe mit akutpsychiatrischer Behandlungsindikation knapp 50% direkt oder im Behandlungsverlauf ins Home Treatment übertreten und 12% der direkten Behandlungskosten eingespart werden.6 Wesentliche Wirkungsfaktoren des Home Treatment sind ein niedriger «case load», regelmässige Hausbesuche, falls erforderlich auch mehrmals am Tag, permanente und rasche Verfügbarkeit der Mitarbeitenden, hohe Flexibilität, Multiprofessionalität und konsequente Einbeziehung des sozialen Netzes.7 Gegenüber der vollstationären Akutbehandlung führt Home Treatment zu weniger Einschnitten im Alltagsleben, es wird als weniger stigmatisierend wahrgenommen und steht in direkterem Zusammenhang mit dem persönlichen Lebenskontext.8,9

Im Kalenderjahr 2023 wurden 388 Fälle im Home Treatment (HT) behandelt, davon 257 Fälle (66,2%) im HT für Erwachsene von 18 bis 64 Jahren und 131 Fälle (33,8%) im HT für Erwachsene ab 65 Jahren. Die durchschnittliche Belegung des HT lag bei 19,6 Personen bei den 18–64-Jährigen und bei 11,5 Personen bei den über 65-Jährigen. Die Einsatzorte des HT betrafen die Stadt Zürich sowie angrenzende Gebiete. Neben ärztlichen und pflegerischen Leistungen wurden zu einem Grossteil auch Dienste der Ergotherapie (59,3%), der Sozialen Arbeit (57,2%) und der psychologischen Psychotherapie (40,2%) in Anspruch genommen. Das Durchschnittsalter der Personen unter 65 Jahren betrug 40,2 Jahre, darunter war der Anteil an Frauen 65,0%. Bei den Personen über 65 Jahren lag das Durchschnittsalter bei 77,3 Jahren und der Anteil an Frauen betrug 64,1%. Affektive Störungen waren die häufigste Hauptdiagnose (50,2%). Die Symptombelastung nach HoNOS zeigte eine deutliche Verringerung bei Austritt. Die durchschnittliche Behandlungsdauer im Home Treatment für Erwachsene bis 64 Jahre lag bei 27,5 Tagen, während sie im HT für über 65-Jährige bei 31,7 Tagen lag.

Wir können also zeigen, dass unser stationsersetzendes Home Treatment eine Alternative zur Behandlung in der Klinik bietet, dass es vergleichbar wirksam ist (Abb. 1–3) bei tendenziell höherer Patientinnen- und Patientenzufriedenheit und das bei niedrigeren Kosten. Vor allem können wir mit unserem Home Treatment ein Konzept anbieten, welches Personen hilft, die nicht in eine Klinik wollen oder können. Sei es wegen Kleinkindern im eigenen Haushalt, wegen Haustieren, die es zu versorgen gilt, wegen schlechter Erfahrungen mit vorangegangenen Hospitalisationen oder einfach aus Angst vor der Klinik.

Abb. 1: Etwa 50% unserer Patientinnen und Patienten der Erwachsenen- und Alterspsychiatrie leiden primär an einer affektiven Erkrankung, gefolgt von der ICD-10-Diagnose F4, wobei hier Angst- und Zwangsstörungen klar im Vordergrund stehen. In der Erwachsenenpsychiatrie stellen die psychotischen Erkrankungen die dritthäufigste hauptsächliche Behandlungsdiagnose dar, hingegen folgen in der Alterspsychiatrie die demenziellen Erkrankungen noch vorher

Abb. 2: Verglichen mit stationären Hospitalisationen in der Erwachsenenpsychiatrie behandeln wir deutlich weniger psychotische Erkrankungen, keine Abhängigkeitserkrankungen, dafür deutlich mehr affektive Erkrankungen wie auch Angst- und Zwangserkrankungen

Abb. 3: Die Symptombelastung der Patientinnen und Patienten nach HoNOS10 im Home Treatment ist etwas geringer als diejenige in stationärer Behandlung, was sich durch den notwendigen Ausschluss von unfreiwilligen, akut intoxikierten sowie akut selbst- oder fremdgefährdenden Personen erklären lässt, die üblicherweise höhere Symptombelastungen und nach Detoxikation bzw. antipsychotischer Anbehandlung teils rasche Besserung aufweisen

Fazit

Das Home Treatment als Behandlungsform überzeugt mit seinem dem Patienten und seinem Umfeld individuell angepassten Behandlungsplan, der Kosteneffizienz und der Patientenzufriedenheit. Es ist davon auszugehen, dass bei steigenden Kosten im Gesundheitssystem Behandlungsformen wie das Home Treatment noch weiterwachsen und breitflächiger in Zukunft angeboten werden.

1 Gühne U et al.: S3 guideline on psychosocial therapies in severe mental illness: evidence and recommendations. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2015; 265: 173-88 2 Gaebel W et al.: EPA guidance on the quality of mental health services. Eur Psychiatry 2012; 27: 87-113 3 NICE: Psychosis and schizophrenia in adults: prevention and management. NICE guidelines [CG178] (National Institute for Health and Care Excellence, London, 2014) 4 Mötteli S et al.: Utilization and effectiveness of home treatment for people with acute severe mental illness: a propensity-score matching analysis of 19 months of observation. Front Psychiatry 2018; 9: 495 5 Mötteli S et al.: Patients’ experiences and satisfaction with home treatment for acute mental illness: a mixed-methods retrospective study. J Ment Health 2020; 31(6): 757-64 6 Stulz N et al.: Home treatment for acute mental healthcare: randomised controlled trial. Br J Psychiatry 2020; 216(6): 323-30 7 Catty J et al.: Home treatment for mental health problems: a systematic review. Psychol Med 2002; 32: 383-401 8 Brenner HD et al.: Gemeindeintegrierte Akutversorgung. Möglichkeiten und Grenzen. Der Nervenarzt 2000; 71: 691-9 9 Wyder L et al.: Wie gelingt Home Treatment in der Praxis? Eine qualitative Studie unter Einbezug von Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden. Psychiatrische Praxis 2018; 45: 405-11 10 Wing JK et al.: Health of the Nation Outcome Scales (HoNOS). Research and development. Br J Psychiatry 1998; 172: 11-8

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