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Diabetes und Stress
Jatros
Autor:
Dr. Günther Linemayr
FA für innere Medizin, Psychotherapeut, zertifizierter Stressmediziner DINM E-Mail: guenther@dr-linemayr.at
30
Min. Lesezeit
17.04.2018
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<p class="article-intro">Stress hat einen bislang zu wenig beachteten Einfluss auf den Zuckerstoffwechsel und ist damit auch ein Faktor in der Entstehung und im Verlauf sowohl von Diabetes Typ 2 als auch von Diabetes Typ 1.</p>
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<p class="article-content"><h2>Was ist Stress?</h2> <p>Die Antworten auf diese Frage fallen oft sehr unterschiedlich aus. Das liegt daran, dass wir den Begriff „Stress“ missverständlich verwenden. Wir bezeichnen damit einerseits das, was uns Stress macht, also die Stressoren (der Autobus, der uns davonfährt; der Chef, der möchte, dass alles sofort fertig ist, etc.), andererseits das, was in der Folge in unserem Organismus abläuft, also die Stressreaktion. Tatsächlich ist die Stressreaktion eine evolutionsbiologisch sinnvolle Reaktion, welche bei allen Lebewesen angelegt ist und dem Überleben dient, indem sie den gesamten Organismus für Kampf oder Flucht programmiert. <br /><br /><strong>Grundprinzipien der Stressreaktion</strong> <br />Die Stressreaktion unterliegt grundsätzlich drei Prinzipien:</p> <ol> <li>Hauptsache überleben, Schädigungen werden in Kauf genommen</li> <li>Kurzer Kampf, kurze Flucht, dann ausruhen</li> <li>Die Stressreaktion ist grundsätzlich für Bewegung gedacht.</li> </ol> <p>Ad 1: Wenn ich um mein Leben kämpfe oder flüchte, ist es egal, ob ich mir dabei wehtue oder mein Blutdruck zu sehr steigt, es geht ums Überleben, alle anderen Überlegungen sind nicht angebracht. Das passt im gesamten Tierreich. Beim Menschen geht es im heutigen Alltag nur sehr selten ums Überleben. Im Gegensatz zu diesen akuten Stresssituationen haben heute viele Menschen chronischen Stress, der sich schädigend auf den Organismus auswirken kann.<br /> Ad 2: Dazu kommt, dass die Stressreaktion für eine kurze Zeitspanne programmiert ist und danach eine Erholungsphase nötig ist, um die hochgefahrenen Systeme wieder herunterzufahren. Auch hier folgt der Mensch in den heutigen Rahmenbedingungen nicht dem evolutionär sinnvollen Programm, denn wir haben lang dauernde Stressreaktionen und machen keine Pausen zur Erholung, wodurch der Erregungspegel hoch bleibt.<br /> Ad 3: Besonders essenziell ist die Programmierung der Stressreaktion für Bewegung (Kampf und Flucht sind immer mit Bewegung verbunden, Ausnahme: Totstellreflex). Auch diese Programmierung wird von uns oft „ignoriert“, indem wir lang dauernden Stress haben können, ohne uns zu bewegen.</p> <h2>Stressoren</h2> <p>Viele Menschen haben eine zu begrenzte Vorstellung, was Stressoren sind. Eine Zusammenstellung häufiger Stressoren findet sich in Tabelle 1.<br /><br /> <strong>Negative Konnotation</strong><br /> Manchen Menschen ist z.B. nicht bewusst, dass Angst einer der stärksten Stressoren ist. Wenig bekannt ist auch, dass jede negative Konnotation (jeder negative Gedanke, jede negative Bewertung, jede negative Emotion) eine Stressreaktion auslöst. Dies ist an sich evolutionsbiologisch sinnvoll, denn alles, was negativ ist, erfordert Handlungsbedarf (Flucht, Kampf). Mentaler Stress ist nicht nur auf die Gegenwart beschränkt, sondern entsteht auch durch Erinnerungen (an frühere negative Situationen) oder Antizipation (typisches Beispiel: Prüfungsstress).<br /><br /> <strong>Grundzüge der Stressreaktion</strong> <br />Wird eine äußere oder innere Wahrnehmung negativ bewertet (z.B. situative Überforderung, Schmerz, Fieber), wird in den Mandelkernen die Stressreaktion gestartet. Von hier aus wird zuerst das sympathikoadrenerge System mit der Produktion von Noradrenalin und Adrenalin im Locus coeruleus und im Nebennierenmark aktiviert (schnelle Stressachse). In der Folge wird die Hypothalamus-Hypophysen- Nebennieren-Achse mit den Hormonen CRH, POMC, ACTH und Cortisol in Gang gesetzt (langsamere Stressachse, die auch langsamer abklingt). Über beide Achsen kommt es zu komplexen Anpassungsreaktionen im Gesamtorganismus, welche bei längerem Bestehen zu Schädigungen führen können.<sup>1</sup><br /> Ob wir die Stressreaktion als Eustress (positiver Stress) oder Disstress (negativer Stress) erleben, ist abhängig von ihrer Intensität. Ein gewisses Erregungsniveau ist für Vigilanz, Konzentration, Kreativität und Leistungsfähigkeit notwendig (Eustress).<br /> Die Abhängigkeit von Eustress und Disstress vom Stress-Level<sup>2</sup> ist in der Yerkes- Dodson-Kurve (Abb. 1) dargestellt. Diese ist individuell allerdings sehr unterschiedlich: Manche Menschen haben eine flachere Kurve mit breitem Plateau (sie sind leistungsfähig, haben viel Eustress), andere haben schmale, spitze Kurven (bei ihnen ist das optimale Leistungsniveau bald überschritten, sie neigen zu mehr Disstress.) Die unterschiedliche Stressanfälligkeit ist besonders abhängig von frühen Beziehungserfahrungen, die sichere Bindung in den ersten Lebensjahren ist der wichtigste Faktor für eine gute Stressresistenz.<img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Diabetes_1802_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="686" height="641" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Diabetes_1802_Weblinks_s32_abb1.jpg" alt="" width="1455" height="946" /></p> <h2>Stresshormone und Stoffwechsel</h2> <p>Eine Reihe von Stresshormonen spielt eine wichtige Rolle im Stoffwechsel. Die wichtigsten sind: <br /><br /><strong>Adrenalin und Noradrenalin:</strong></p> <ul> <li>erhöhen im Zuge der Sympathikusaktivierung Blutzucker und Blutfette</li> </ul> <p><strong>ß-adrenerge Effekte bewirken im Einzelnen:</strong></p> <ul> <li>Steigerung der Glykogenolyse in Leber und Muskel</li> <li>Stimulation der Glukagonfreisetzung, dies führt ebenfalls zu Glykogenolyse, Lipolyse und Glukoneogenese in der Leber</li> <li>Steigerung der Lipolyse</li> <li>Zunahme der Glukoseaufnahme im Muskelgewebe</li> <li>Hemmung des insulinvermittelten Glukoseverbrauchs</li> </ul> <p><strong>Glukokortikoide:</strong></p> <ul> <li>Der durch Kortikoide induzierte Steroiddiabetes ist schon lange bekannt.</li> </ul> <p><strong>Cortisol führt zu:</strong></p> <ul> <li>Stimulation der Glukoneogenese in der Leber</li> <li>Hemmung des insulinvermittelten Glukoseverbrauchs</li> <li>Steigerung der Lipolyse</li> </ul> <p>Für Kampf oder Flucht wird Energie in Form von Glukose und Blutfetten bereitgestellt. Allerdings erhöhen Katecholamine und Cortisol die Insulinresistenz (Hemmung des insulinvermittelten Glukoseverbrauchs). Dies erscheint auf den ersten Blick nicht sinnvoll. Tatsächlich wird aber bei akuter Belastung der Glukosetransport in den Muskel verbessert, indem der Glukosetransporter (GLUT4) unter Umgehung des Insulinsignals in der Zellmembran bereitgestellt wird. Der genaue Mechanismus für die akute, insulinunabhängige Anpassung ist nicht völlig geklärt. Einflüsse von Kalzium und NO werden vermutet. Dieser Mechanismus kommt natürlich nicht zum Tragen, wenn wir uns im Stress nicht bewegen und die Muskelzellen keinen Energiebedarf haben. Die Steigerung der Stresshormon-induzierten Insulinresistenz bleibt jedoch bestehen, die chronische Stressreaktion hat dadurch einen fördernden Einfluss auf die Entwicklung des metabolischen Syndroms. Andererseits erklärt die insulinunabhängige Glukoseaufnahme in den Muskel, warum Sport die wichtigste therapeutische Maßnahme bei Diabetes ist.<br /><br /> <strong>Lipolyse:</strong><br /> Durch Adrenalin, Noradrenalin, Glukagon, Cortisol, und ACTH wird Fett aus den Adipozyten mobilisiert, dadurch steigt das LDL-Cholesterin, es kommt zu einer Steigerung der Entzündungsreaktion und zu Gefäßschäden.<br /><br /> <strong>Hyperglykämie und Entzündung:</strong><br /> Die stressinduzierte Hyperglykämie, die Insulinresistenz und die erhöhten freien Fettsäuren fördern die entzündliche Aktivität („silent inflammation“), diese verstärkt wiederum die Insulinresistenz, womit ein Circulus vitiosus entsteht.<br /><br /> <strong>Stress und Adipositas:</strong><br /> Die Hyperglykämie führt zu vermehrter Insulinausschüttung, dies fördert die Insulinmast. Während der akuten Stressreaktion (Sympathikus?, Parasympathikus?) ist der Appetit vermindert, in der darauf folgenden Cortisolphase kommt es zu Heißhunger, Cortisol führt zur Zunahme des Bauchfettes (s. M. Cushing). Das Kortikoid-abhängige Gen LMO3 und das Enzym 11(Beta)HSD1 fördern die Bildung von Fettzellen und sind verantwortlich für die Umverteilung des Fettgewebes in Richtung Bauchfett.<sup>3</sup> Die Vermehrung des Bauchfetts fördert wiederum die entzündliche Aktivität (Adipozyten bilden selbst IL-6 und TNF-a), es entsteht ein weiterer Circulus vitiosus, welcher die Insulinresistenz verstärkt. Bekannt ist, dass viszerales Fettgewebe und Insulinresistenz das Risiko für Prädiabetes und Diabetes erhöhen.<sup>4</sup><br /> An sich ist während der akuten Stressreaktion der Appetit vermindert (s.o.), allerdings haben viele Menschen soziokulturell bedingt gelernt, auch appetitlos zu essen (Stressessen, Frustessen, Trostessen, Belohnungsessen etc.). Eine in der Schweiz durchgeführte Studie<sup>5</sup> zeigte, dass die Selbstkontrolle unter Stress abnimmt. Probanden (die behaupteten, gerne gesund zu essen) wurden gestresst, dann wurden ihnen unter MR-Kontrolle Fotos von Speisen vorgelegt. Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe wählten die Gestressten vermehrt die ungesunden (= kalorienreicheren) Speisen. Gleichzeitig zeigten sich im MR veränderte Muster im Striatum und den Amygdalae (zuständig für Selbstkontrolle).</p> <h2>Stress und Diabetes Typ 2</h2> <p>Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen Typ-2-Diabetes und Stress sowohl in der Entstehung als auch im Verlauf. Es können hier nur wenige exemplarisch vorgestellt werden:<br /> Eine große Augsburger Studie<sup>6</sup> mit über 5300 Teilnehmern und einer Laufzeit von 13 Jahren zeigte, dass Menschen, die am Arbeitsplatz ständig überfordert wurden, gleichzeitig aber keine Kontrolle über ihre Tätigkeiten hatten, zu 45 Prozent häufiger an einem Typ-2-Diabetes erkrankten als Personen mit geringer Belastung.<br /> Eine Metaanalyse von Studien mit Diabetikern mit Angststörungen<sup>7</sup> ergab, dass Angst hochsignifikant (p=0,003) mit Hyperglykämie assoziiert war.<br /> Eine Studie verglich neu diagnostizierte Typ-2-Diabetiker mit Personen mit normaler Glukosetoleranz, wobei Erstere signifikant mehr über chronischen Stress berichteten als Letztere.<sup>8</sup> Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass chronischer Stress signifikant mit Glukoseintoleranz, Insulinresistenz und Diabetes assoziiert war.<br /> Erwähnt werden muss, dass nicht alle Studien einen Zusammenhang zwischen Stress und Hyperglykämie bzw. Diabetes finden. Dies dürfte daran liegen, dass die Stressreaktion sich individuell sehr unterschiedlich auf verschiedene Teilbereiche des Organismus auswirkt (z.B. gibt es viele Menschen, die trotz Stress einen niedrigen Blutdruck haben).</p> <h2>Stress und Diabetes Typ 1</h2> <p>Die ABIS-Studie<sup>9, 10</sup> untersuchte über 17 000 Familien zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes und ein Jahr danach Autoantikörper beim Kind. Bei 4400 Familien mit erhöhter Stressbelastung rund um die Geburt fanden sich 1 Jahr danach erhöhte ß-Zell-Antikörper beim Kind. Bei fast 6000 Familien mit schwerer psychischer Belastung der Mutter in den ersten 2,5 Jahren fanden sich ebenfalls erhöhte ß-Zell-Antikörper beim Kind. Die Ergebnisse waren unabhängig vom familiären Risiko für Typ-1-Diabetes.<br /> Die DiPiS-Studie<sup>11</sup> untersuchte fast 32 000 Mütter und ihre Neugeborenen und ergab, dass psychische Belastungen der Mutter während der Schwangerschaft mit höheren Konzentrationen von Auto-AK gegen Insulin im Nabelschnurblut korrelieren.<br /> Eine Metaanalyse<sup>12</sup> zum Thema zeigte in 9 von 10 Studien eine Korrelation zwischen frühem elterlichem Stress und einem erhöhten Risiko des Kindes für Typ- 1-Diabetes, sowohl für die Induktion als auch die Progression.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Schubert C (Hrsg.): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. 2. Aufl., Schattauer 2015 <strong>2</strong> Yerkes RM, Dodson JD: The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology 1908; 18: 459-82 <strong>3</strong> Lindroos J: Human but not mouse adipogenesis is critically dependent on LMO3. Cell Metab 2013; 18(1): 62-74 <strong>4</strong> Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (DGK): Inflammation und metabolisches Syndrom – die Rolle des Fettgewebes. Pressemitteilung 4/2006 <strong>5</strong> Maier SU et al.: Acute stress impairs self-control in goal-directed choice by altering multiple functional connections within the brain’s decision. Neuron 2015; 87(3): 621-31 <strong>6</strong> Huth C et al.: Job strain as a risk factor for the onset of type 2 diabetes mellitus: findings from the MONICA/KORA Augsburg cohort study. Psychosom Med 2014; 76(7): 562-8 <strong>7</strong> Anderson RJ et al.: Anxiety and poor glycemic control: a metaanalytic review of the literature. Int J Psychiatry Med 2002; 32(3): 235-47 <strong>8</strong> Siddiqui A et al.: Endocrine stress responses and risk of type 2 diabetes mellitus. Stress 2015; 18(5): 498-506 <strong>9</strong> Sepa A et al.: Psychological stress may induce diabetes-related autoimmunity in infancy. Diabetes Care 2005; 28: 290-5 <strong>10</strong> Sepa A et al.: Mothers’ experiences of serious life events increase the risk of diabetes- related autoimmunity in their children. Diabetes Care 2005; 28: 2394-9 <strong>11</strong> Lernmark B et al.: Cord blood islet autoantibodies are related to stress in the mother during pregnancy. Ann N Y Acad Sci 2006; 1079: 345-9 <strong>12</strong> Sepa A, Ludvigson J: Psychological stress and the risk of diabetes-related autoimmunity: a review article. Neuroimmunomodulation 2006; 13: 301-8</p>
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