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Mangelnde Therapieadhärenz – Ursachen und Lösungsansätze
Jatros
Autor:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Heidemarie Abrahamian
Abteilungsleitung des Internistischen Zentrums Otto-Wagner-Spital, Wien<br> Gastprofessorin an der MedUni Wien<br> E-Mail: heidemarie.abrahamian@wienkav.at
30
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11.07.2019
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<p class="article-intro">Therapieadhärenz kann als Spiegel der psychischen bzw. der emotionalen Verfassung des Patienten betrachtet werden. Mangelnde Therapieadhärenz ist in der Regel nicht ein Versagen oder ein Nicht- Wollen des Patienten, sondern eine Koinzidenz von ungünstigen Faktoren, die von uns Ärzten erkannt werden muss.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Bei Patienten mit dauerhafter mangelhafter Erreichung der Therapieziele sollten wir an eine emotionale bzw. kognitive Überforderung denken.</li> <li>Die psychologische und emotionale Belastung – der Diabetes Distress – ist behandelnden Ärzten oft nicht bekannt und in Studien „underreported“.</li> <li>Eine gelungene Bewältigung zeigt sich in der Akzeptanz der Diagnose und der Integration der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Diabetes in das tägliche Leben.</li> <li>Der begleitende Arzt muss bereit sein, Kontrolle aufzugeben und diese an den Patienten zu delegieren.</li> <li>Empowerment bedeutet auch, dass der Patient selbst entscheidet, wann er den nächsten Schritt macht.</li> </ul> </div> <p>Für viele Betroffene bedeutet die Diagnose Diabetes mellitus einen schwerwiegenden Einschnitt in die Lebensführung und eine große Belastung, vor allem in Hinblick auf die möglichen Komplikationen und die erforderlichen Therapie- und Kontrollmaßnahmen bei dieser chronischen Erkrankung. Für die Vermeidung des Auftretens von akuten und chronischen Komplikationen des Diabetes mellitus ist die Einhaltung von bestimmten Regeln dauerhaft notwendig. Kommt es zur Vernachlässigung dieser Regeln und damit zu einer reduzierten Therapieadhärenz über einen längeren Zeitraum, sind nachhaltige Auswirkungen auf die Gesundheit zu erwarten. Mangelnde Therapieadhärenz kann viele unterschiedliche Ursachen haben und in jedem Stadium des Diabetes auftreten (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1903_Weblinks_jatros_dia_1903_s39_tab1.jpg" alt="" width="550" height="366" /></p> <h2>Belastende Lebensereignisse</h2> <p>Schwerwiegende belastende Lebensereignisse bedürfen einer tiefgehenden Auseinandersetzung, damit sie früher oder später bewältigt werden können. Je intensiver solche negativen Ereignisse erlebt werden und je häufiger sie auftreten, desto schwieriger wird die Bewältigung. Das ist auch nachvollziehbar. Man braucht sich nur die Koinzidenz des Todes eines nahen Angehörigen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Auftreten einer Erkrankung vorzustellen. Wenn das Maß voll ist, geht nichts mehr oder nur in kleinen Schritten und unter Aktivierung aller vorhandenen Ressourcen. Dass dann einmal der Diabetes auf der Strecke bleibt, ist nachvollziehbar. Für uns Ärzte geht es darum, dass wir davon erfahren und die betroffenen Menschen bestmöglich unterstützen und begleiten können. Wir wissen aus Studien, dass die Anzahl gleichzeitig auftretender belastender Lebensereignisse entscheidenden Einfluss auf die Therapieadhärenz hat.</p> <h2>Diabetes Distress</h2> <p>Emotionale und kognitive Überforderung durch die chronische Erkrankung Diabetes, die letztendlich zu verminderter Therapieadhärenz führt, ist eine ernsthafte und schwerwiegende Komplikation des Diabetes, die in jedem Stadium der Erkrankung auftreten kann. Der Begriff „Diabetes Distress“ (DD) umschreibt solche Zustandsbilder, lässt sich jedoch nicht so einfach ins Deutsche übertragen. Er bedeutet so viel wie „psychische bzw. emotionale Belastung durch die Anforderungen des Diabetes mellitus, die je nach Ausprägung der emotionalen und kognitiven Bewältigung der Erkrankung durch die betroffene Persönlichkeit individuell bewertet wird“. DD umfasst Sorgen, Bedenken und Ängste, die mit einer chronischen, fordernden und progredienten Erkrankung wie Diabetes mellitus assoziiert sind.<sup>1</sup> Die Prävalenz liegt bei bis zu 40 %. Das Erkennen von DD gestaltet sich in der klinischen Praxis nicht immer einfach, da sich Diabetes Distress vordergründig für den Behandler oft als mangelnde Therapieadhärenz darstellt. Das bedeutet für die Praxis, dass bei Patienten mit dauerhafter mangelhafter Erreichung der Therapieziele in Richtung emotionale bzw. kognitive Überforderung exploriert werden sollte. Ein empathischer Zugang ist wesentliche Voraussetzung, um mit den Betroffenen auf eine Beziehungsebene zu gelangen, die Emotionalität zulässt.<br /> Obwohl Diabetes Distress mit schlechter metabolischer Kontrolle assoziiert ist, ist die individuelle psychologische und emotionale Belastung durch Diabetes den behandelnden Ärzten häufig nicht bekannt und in Studien „underreported“.<sup>2</sup></p> <h2>Nebenwirkungen von Medikamenten</h2> <p>Gewichtszunahme und Hypoglykämien als Nebenwirkung von Medikamenten sind ebenfalls wichtige Gründe für mangelhafte Therapieadhärenz. Sulfonylharnstoffe, Glinide und Insulin können für das Auftreten von Hypoglykämien verantwortlich sein. Die Reduktion oder das Auslassen von Insulin durch den Patienten können im Alltag Folgeeffekte von Hypoglykämien sein.<sup>3</sup> Auch „Fehlmeinungen“ zu bestimmten Medikamenten beeinflussen die Therapieadhärenz. „Ich habe versagt, daher muss ich jetzt Insulin spritzen“ oder „Insulin ist für das Endstadium des Diabetes“ sind Beispiele dafür, sie sind für die Therapieadhärenz nicht nützlich. Hier ist die weitere Aufklärung des Patienten über die Medikamente und ihre Funktion in der Diabetestherapie durch den Arzt wichtig.</p> <h2>Psychische Erkrankungen</h2> <p>Psychische Erkrankungen führen bei Menschen mit Diabetes zu einer signifikanten Verschlechterung der Therapieadhärenz, zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von diabetischen Akut- und Spätkomplikationen sowie zu einer gesteigerten Mortalität. Insbesondere sind Depression, Angststörungen, Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises und kognitive Störungen häufig komorbid mit Diabetes mellitus assoziiert.<sup>4</sup> Das Risiko für das Auftreten einer Depression ist bei Diabetes mellitus um das 2-Fache erhöht im Vergleich zu einem nicht diabetischen Kollektiv. Als Ausdruck der bidirektionalen Beziehung stellt die Depression zudem einen Risikofaktor für die Entstehung eines Diabetes Typ 2 dar. Als Hypothese für die Entstehung gilt eine Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse, eine Überaktivierung des sympathischen Nervensystems sowie des Immunsystems mit verstärkter Bildung proinflammatorischer Substanzen, wodurch eine Insulinresistenz, eine endotheliale Dysfunktion und die Entwicklung der Arteriosklerose begünstigt werden.</p> <h2>Schulungsinhalte adäquat transportieren</h2> <p>Transfer von medizinischem Wissen allein, wenn auch in vereinfachter Form, ist kein guter Motivator für Selbstmanagement. Vielmehr geht es um die Übertragung von Verantwortung an den Patienten und das Überlassen von Therapieentscheidungen. Dafür sollte der Patient fit gemacht werden. Natürlich sind diese Prozesse davon abhängig, ob wir Ärzte dem Patienten die aus unserer Sicht „richtigen“ Therapieentscheidungen zutrauen. Empowerment ist dabei ein wichtiges Thema, sollte aber vor Anwendung von den Nutzern ausreichend verstanden werden (s. u.).<br /> Nach der Diagnosestellung eines Diabetes mellitus sind Angehörige, obwohl sie durch die „Mitbetroffenheit“ einem hohen psychosozialen Stress ausgesetzt sind, häufig nicht systematisch in die Therapie integriert und haben somit zu wenig bis kein Wissen über die Erkrankung und deren Auswirkungen. Der erforderliche Wissenstransfer erfolgt fast ausschließlich von den Erkrankten selbst zu den Angehörigen oder über das Internet. Angehörige spielen jedoch eine Schlüsselrolle, wenn sie das Handeln der erkrankten Personen im Blick haben.<sup>5</sup></p> <h2>Arzt-Patienten-Beziehung – ein Lösungsansatz</h2> <p>Eine funktionierende Arzt-Patienten- Beziehung ist eine wichtige Basis für gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz des jeweils anderen. Kritische Aspekte dieser Beziehung sind:</p> <ul> <li>Zumindest beim Erstkontakt ist der Partner nicht freiwillig ausgesucht.</li> <li>Es besteht eine Asymmetrie bezüglich des Wissens über Diabetes.</li> <li>Häufig gibt es eine Perspektivendivergenz bei den Behandlungszielen.</li> </ul> <p>Beziehungen mit den genannten Eigenschaften würden von einem Soziologen als konfliktbeladen klassifiziert werden. Daher ist es für uns Ärzte ganz wesentlich, die „Patientenwelt“ genauer kennenzulernen und sich auf der Beziehungsebene auch auf die Emotionen des Patienten einzulassen. Emotionales Wohlbefinden wird auch im aktuellen Konsensuspapier der EASD und ADA als wichtiger Baustein für Therapieadhärenz gesehen.<sup>6</sup><br /> Voraussetzungen für eine gute Therapieadhärenz sind unter anderem Selbstwirksamkeit, ein stabiler positiver Selbstwert, eigene gute Bewältigungsstrategien und soziale Unterstützung durch andere. Eine gelungene Bewältigung spiegelt sich in der Akzeptanz der Diagnose, der Integration der Anforderungen des Diabetes in das tägliche Leben, wobei der Arbeitsplatz eine wesentliche Rolle einnimmt, und im Umgang mit der Progression der Erkrankung.</p> <h2>Empowerment – ein Lösungsansatz</h2> <p>Empowerment bedeutet, dass ein Schulungsprozess darauf abzielt, die Fähigkeit des kritischen Denkens und des autonomen Handelns in einer Person zu stärken, es handelt sich also um einen Prozess und sein Ergebnis. Empowerment bedeutet für den Patienten somit auch, Verantwortung zu übernehmen und verantwortlich zu sein – für diesen Prozess braucht es eine Bereitschaft. Aber auch der begleitende Arzt muss bereit sein, Kontrolle aufzugeben und diese an den Patienten zu delegieren.<sup>7</sup><br /> Folgende Frage bewertet, inwieweit Empowerment vom Arzt tatsächlich umgesetzt wird: „Vermittle ich Informationen darüber, was die betroffenen Patienten wissen wollen, oder darüber, was sie meiner Meinung nach brauchen?“ Wenn der Patient ermutigt wird, über seine Bedürfnisse zu sprechen und diese auch zu definieren, und wenn diese in das Behandlungskonzept eingebaut werden, ist das der richtige Weg. Die intrinsische Motivation, die im Patienten selbst entsteht (z. B: „Gewicht reduzieren tut meinem Körper gut und entlastet meine Gelenke spürbar“) ist beständig und der extrinsischen Motivation (z. B.: „Mein Arzt sagt, dass Gewicht abnehmen für meinen Diabetes wichtig ist“) signifikant überlegen.<br /> Der Aufwand, eine chronische Erkrankung wie Diabetes mellitus zu managen, ist für den betroffenen Patienten enorm hoch und es ist schwierig, allen Ansprüchen gleichzeitig gerecht zu werden. Gewichtsmanagement, Essenskalkulationen, Insulin berechnen, Bewegungsprogramm umsetzen etc. – es sind viele Bälle, die im Spiel sind. Empowerment bedeutet auch, dass der „Jongleur“ selbst entscheidet, wann er den nächsten Ball dazunimmt. Dann ist er auch bereit dafür. Wir Ärzte „schupfen“ allzu gerne ungefragt Bälle dazu, weil wir überzeugt sind, das ist jetzt das Beste für den Patienten.</p> <h2>Schlussbemerkungen</h2> <p>Therapieadhärenz ist ein wichtiger Faktor für ein gutes Leben mit Diabetes mellitus. Reduzierte Therapieadhärenz ist ein Signal und sollte in jedem Fall als solches wahrgenommen werden. Die Frage „Ein Signal wofür?“ wird uns Ärzte in der Folge beschäftigen und zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Patienten und seiner Welt führen.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Fisher L et al.: When is diabetes distress clinically meaningful? Establishing cut points for the Diabetes distress scale. Diabetes Care 2012; 35: 259-64 <strong>2</strong> Haugstvedt A et al.: Use of patient-reported outcome measures (PROMs) in clinical diabetes consultations: study protocol for the DiaPROM randomized controlled trial pilot study. BMJ Open 2019; 9(1): e024008 <strong>3</strong> Fisher L et al.: A practical framework for encouraging and supporting positive behaviour change in diabetes. Diabetic Med 2017; 34(12): 1658-66 <strong>4</strong> Abrahamian H et al.: Psychische Erkrankungen und Diabetes mellitus (Update 2019). Wien Klin Wochenschr 2019; 131(1): 186-95 <strong>5</strong> Richter R et al: Diabetes mellitus Typ-I: Bedürfnisse und Auswirkungen auf das Alltagsleben aus der Sicht der Angehörigen. Heilberufe Science 2017; 8: 15-22 <strong>6</strong> Davies MJ et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018; 61(12): 2461-98 <strong>7</strong> Anderson M, Funnell M; Patient empowerment: myths and misconceptions. Patient Educ Couns 2017; 79(3): 277-82</p>
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