Mensch oder Maschine beim Diabetesmanagement?
Bericht:
Regina Scharf, MPH
Redaktorin
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Sind für das Diabetesmanagement in Zukunft noch medizinische Fachpersonen notwendig oder kann man diese Aufgabe getrost Computern überlassen? Im Rahmen der Keynote Lecture am SGAIM-Kongress zeigte Professor Dr. med. et phil. Lia Bally, Leitende Ärztin an der Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungs-medizin und Metabolismus in Bern, auf, welche Rolle digitale Technologien heute schon beim Diabetesmanagement spielen und was wir in Zukunft erwarten dürfen.
Mit Artificial Intelligence (AI), wie die computer- oder maschinengestützte menschenähnliche Entscheidungsfindung genannt wird, lassen sich komplexe Problemstellungen lösen, bei denen uns klare Vorstellungen von den Zusammenhängen fehlen. AI-Modelle basieren auf grossen Datenmengen, aus denen Strukturen gebildet werden, die sich – solange das Modell lernt – verändern können. Menschliches Wissen dagegen führt zunächst zu einem mechanistischen oder physiologischen Modell, das anschliessend mit Daten unterlegt wird. Dadurch erfährt das Modell ein Update, seine eigentliche Struktur verändert sich aber nicht.
Die Beschreibung des physiologischen Glukose-Insulin-Feedback-Loop und die fehlende Rückkopplung bei Patienten mit Typ-1-Diabetes (DM1) führte in den 1970er-Jahren zur Entwicklung des künstlichen Pankreas. Der Minicomputer war in der Lage, kontinuierlich die i.v. Glukosekonzentration zu messen und den Patienten Insulin oder Glukose zu verabreichen, mit dem Ziel, den Blutzucker im Normalbereich zu halten.1 Nur kurze Zeit später wurden die ersten s.c. Infusionspumpen entwickelt und in den 1990er-Jahren wurden die ersten tragbaren Glukosemessgeräte auf dem Markt eingeführt. Mit der Entwicklung des nichtinvasiven kontinuierlichen Glukosemonitorings (CGM) zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelang ein weiterer wichtiger Schritt im DM-Management. Kombiniert man das CGM mit einer subkutanen Insulinpumpe und einem Kontrollmechanismus, der die Insulinzufuhr kontinuierlich moduliert, handelt es sich um ein künstliches Pankreassystem, auch «Closed Loop»- oder «Automated Insulin Delivery»(AID)-Systeme genannt.
In der Zwischenzeit wurden verschiedene hybride AID-Systeme zur Behandlung bei DM1 zugelassen, bei denen die Patienten vor den Mahlzeiten zusätzlich einen Insulinbolus verabreichen müssen.2 «Die hybriden AID-Systeme sind den voll automatisierten Systemen bei der Behandlung des Typ-1-Diabetes nach wie vor überlegen», erklärte die Expertin. Studien zeigen, dass die Verwendung von AID-Systemen zu einer substanziellen Verbesserung der Glukosekontrolle und der Quality of Life führen.3,4 Der Benefit ist in der Nacht höher als am Tag, wo der Blutzucker durch Mahlzeiten beeinflusst wird, und ist stark abhängig von der glykämischen Kontrolle zu Behandlungsbeginn (Baseline). Anders ausgedrückt: Je höher die HbA1c-Werte, desto mehr profitieren die Personen. «Mit der zunehmenden Anwendung zeigt sich jedoch auch, wo es Verbesserungspotenzial gibt», sagte die Spezialistin. Neben der Belastung durch das ständige Tragen der Geräte, Lieferunterbrüchen bei den Materialien und Hautproblemen auf der Patientenseite stellen die Inkompatibilitäten der Devices untereinander oder der Devices mit der Software für die Ärzte ein grosses Problem dar.
Diabetesmanagement im Spital
Voll automatisierte AID-Systeme werden vor allem für das Diabetesmanagement im Spitalsetting eingesetzt. Schätzungsweise 20–30% der hospitalisierten Patienten haben einen DM. Das Management mit regelmässigen Blutzuckerkontrollen und Anpassungen der Insulintherapie ist aufwendig und angesichts des Fachkräftemangels eine zunehmende Herausforderung. Wie die Referentin anhand von verschiedenen Studien mit hospitalisierten, nicht kritisch kranken Patienten, Patienten mit enteraler und/oder parenteraler Ernährungssubstitution, an der Hämodialyse und nach operativen Eingriffen zeigen konnte, lässt sich die normoglykämische Zeit, «Time in Range», mit den voll automatisierten AID-Systemen um etwa 20% verbessern, verglichen mit einer Standard-Insulintherapie.5–8 «Abgesehen davon konnten wir zeigen, dass die neuen Technologien das Potenzial haben, die Zeit für das Diabetesmanagement deutlich zu reduzieren.»
Smart Pens
Grosse Fortschritte wurden auch bei den Insulinpens erzielt. Sogenannte Smart Pens, die mit einer App und CGM kombiniert werden, übertragen den Blutzucker in Echtzeit, erfassen automatisch die verabreichte Insulindosis und unterstützen die Anwender bei der Kalkulierung der Insulindosis. Die Entwicklungen werden auch in Zukunft weitergehen: Erst kürzlich hat die FDA das erste AI-basierte System zur Unterstützung eines optimalen Diabetesmanagements zugelassen. «Trotz dieser Fortschritte sollte man nicht vergessen, dass Diabetesmanagement viel mehr ist als die Blutzuckerkontrolle», sagte Bally. Bei den meisten Patienten mit DM2 sind zusätzliche Massnahmen zur Reduktion des kardiometabolischen Risikos erforderlich.
Ein Beispiel, bei dem sich AI als sehr nützlich erwiesen hat, ist das Screening auf diabetische Retinopathie. Die auf Bilddaten basierenden und mittels «deep learning» entwickelten Algorithmen sind der Beurteilung durch den Spezialisten überlegen und hatten die Zulassung eines voll automatisierten Screeningtools zur Diagnose der Retinopathie durch die FDA zur Folge. Viel komplexer wird es, wenn man versucht, ein Komposit aus kardiometabolischen Risikofaktoren zu beeinflussen, wie ein von der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung «Innosuisse» unterstütztes Projekt zeigt. Ein zunächst dafür entwickeltes klinisches Modell wurde in ein neuronales Netzwerk umgewandelt, das nun mit den gewonnenen Daten aus Wearables und medizinischen Berichten trainiert wird. Dabei wurde festgestellt, dass spezifische Patientenkohorten adhärenter sind, wenn sie ein Behandlungsregime verfolgen, das sich von den Guidelines unterscheidet. Ob der AI-generierte Behandlungsvorschlag tatsächlich funktioniert, muss anhand von klassischen statistischen Tests überprüft werden. Das sei von entscheidender Bedeutung, da alle AI-Techniken anfällig seien für Halluzinationen, das heisst für Täuschungen, die als Fakten präsentiert werden.
Ernährung und Bewegung
Die DIRECT-Studie aus Grossbritannien hatte vor einigen Jahren demonstriert, dass durch eine hypokalorische Ernährung bei vielen Patienten mit einem DM2 eine Diabetesremission erzielt werden kann.9 Dennoch gibt es bei der Adhärenz zu gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung viel ungenutztes Potenzial. Zukünftig könnten AI-Technologien wie bildbasierte Mahlzeitenanalysen, kombiniert mit CGM, Smart Watches zur Ermittlung der physischen Aktivität und Smart-Waagen die Patienten unterstützen, ihre Gewichtsziele zu erreichen. Ein Beispiel für ein solches Tool ist der «Personalised Nutrition Advisor» (PNA) von Oviva, der Vorschläge für eine bevorzugte Ernährung macht, um die vordefinierte Gewichtsreduktion zu erreichen. Zusätzlich erlaubt der PNA die Simulation des individuellen kardiometabolischen Risikos. «Dies ist der erste Schritt in Richtung eines «digital twin», das heisst einer datengenerierten virtuellen Replikation eines Patienten, die dazu eingesetzt werden könne, individuelle Gesundheitsrisiken darzustellen und aufzuzeigen, wie sich diese durch spezifische Interventionen verändern liessen», erklärte die Expertin. Noch im Frühstadium befindlich ist der AI-Zweig, der sich mit der Spracherkennung in Ernährungs- und Rezeptdatenbanken beschäftigt und anhand von eingegebenen Zutaten personalisierte Rezepte generiert.
Ein weiteres AI-Tool, das im Hinblick auf den Einsatz in der Diabetesversorgung untersucht wurde, ist das offene, textbasierte Dialogsystem «ChatGPT». «Dem ‹Chatbot› wurden einfache Fragen zum Diabetes-Selbstmanagement gestellt, die er abgesehen von einigen Ungenauigkeiten überraschend gut beantwortete», sagte Bally.10 Vor dem Einsatz in der Diabetes-Edukation riet die Expertin aus Sicherheitsgründen aber ab. So wurde das Sprachmodell im Zeitraum vor 2021 trainiert und Publikationen, die zu einem späteren Zeitpunkt erfolgten, nicht berücksichtigt, für das Training wurden nicht nur vollständige biomedizinische Daten benutzt und die Informationsquellen nicht hinterlegt, zudem wurde der Chatbot weder von medizinischen Fachpersonen getestet noch validiert.
Kein Stand-alone-Tool
Die Anwendung von AI-basierten Technologien wird durch regulatorische Auflagen erschwert. Die Hauptsorge ist, dass die Modelle nicht generalisierbar sind oder Bias beinhalten, weil manche Populationen nicht oder unterrepräsentiert sind. Dazu komme die fehlende Transparenz, auf welcher Basis die Modelle ihre Entscheidungen träfen, ausserdem verunmöglichten die regelmässigen Updates deren Zulassung nahezu. «Davon abgesehen existiert zum jetzigen Zeitpunkt in der EU keine Verordnung über den Einsatz von AI unterstützten Medizingeräten», sagte die Expertin. Die FDA sei in dieser Hinsicht fortschrittlicher.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Einsatz von digitalen Technologien in der Diabetesbehandlung zugenommen hat. Die AID-Systeme sind heute Standard of Care bei der Behandlung des DM1. Anspruchsvollere AI-Technologien für eine personalisierte Behandlung, inkl. Lifestylecoaching bei DM1 und DM2, sind in der Entwicklung. Die Anwendung von AI ohne menschliche Supervision birgt grosse Risiken. Grosse Herausforderungen sind die Sicherheit, der Zugang, die Verlässlichkeit der Daten und die Compliance der AI-Technologien mit ethischen Standards. Für weitere Fortschritte ist eine enge Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen und Datenspezialisten nötig. «Die Zukunft ist eine Synergie von Mensch und AI und nicht die Anwendung der AI als ‹Stand-alone-Tool›», lautete die Antwort der Expertin auf die eingangs gestellte Frage, ob der Computer den Menschen im Diabetesmanagement zukünftig ablösen könnte.
Quelle:
Frühjahrskongress der SGAIM, 10. bis 12. Mai 2023, Basel
Literatur:
1 Albisser AM et al.: An artificial endocrine pancreas. Diabetes 1974; 23: 389-96 2 Philip M et al.: Consensus recommendations for the use of automated insulin delivery technologies in clinical practice. Endocr Rev 2023; 44: 254-80 3 Bekiari E et al.: Artificial pancreas treatment for outpatients with type 1 diabetes: systematic review and meta-analysis. BMI 2018; 361: k1310 4 Weisman A et al.: Effect of artificial pancreas systems on glycaemic control in patients with type 1 diabetes: a systematic review and meta-analysis of outpatient randomised controlled trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2017; 5: 501-12 5 Bally L et al.: Closed-loop insulin delivery for glycemic control in noncritical care. N Engl J Med 2018; 379: 547-56 6 Boughton CK et al.: Fully closed-loop insulin delivery in inpatients receiving nutritional support: a two-centre, open-label, randomised controlled trial. Lancet Diabetes Endocrinol 2019; 7: 368-77 7 Bally L et al.: Fully closed-loop insulin delivery improves glucose control of inpatients with type 2 diabetes receiving hemodialysis. Kidney 2019; 96: 593-96 8 Herzig D et al.: Perioperative fully closed-loop insulin delivery in patients undergoing elective surgery: an open-label, randomized controlled trial. Diabetes Care 2022; 45: 2076-83 9 Lean ME et al.: Primary care-led weight management for remission of type 2 diabetes (DiRECT): an open-label, cluster-randomised trial. Lancet 2018; 391: 541-51 10 Sng GGR et al.: Potential and pitfalls of ChatGPT and natural-language artificial intelligence models for diabetes education. Diabetes Care 2023; 46: e103-5
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