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„Leaky gut“ – eine häufig verkannte Diagnose
Jatros
Autor:
Prof. Dr. med. Dr. habil. Claus Muss
Augsburg<br> E-Mail: claus.muss@aol.com
30
Min. Lesezeit
05.06.2019
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<p class="article-intro">Entbehrt die Diskussion um das sogenannte Leaky-Gut-Syndrom jeglicher wissenschaftlichen Grundlage oder handelt es sich dabei um eine wichtige Diagnose in der Prävention chronisch degenerativer Erkrankungen?</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Ohne Zweifel sind die chronisch degenerativen Erkrankungen in Mitteleuropa auf dem Vormarsch und stellen mit ihrer zunehmenden Prävalenz in der Zukunft eine besondere Herausforderung für unser Gesundheitssystem dar. Es häufen sich die Daten aus verschiedenen Studien, die auf eine gemeinsame Ursache chronisch degenerativer Zivilisationserkrankungen (NCD: „non communicable diseases“ laut WHO), möglicherweise bedingt durch das Immunsystem, hinweisen.<br />In den besonderen Fokus ist hierbei auch die Darm-Hirn-Achse oder das Wechselspiel zwischen dem Darmimmunsystem und dem Zentralnervensystem gerückt. Eine aktuelle Datenbankrecherche ergibt beispielsweise mehr als 360 Einträge zum Thema „Leaky-Gut-Syndrom“ und über 1460 Publikationen zum Thema intestinale Permeabilität.</p> <h2>Die Diagnose „Leaky-Gut-Syndrom“</h2> <p>Worum handelt es sich bei der Diagnose des Leaky-Gut-Syndroms? Wie kann es einen Zusammenhang zwischen „leaky gut“ und entzündlichen Prozessen im Darm und im gesamten Körper geben?<br />Im Zentrum der Forschung zum Leaky- Gut-Syndrom stehen die leistenförmigen Kontaktzonen in der Zonula occludens, die eine Diffusionsbarriere in der Darmschleimhaut bilden, die den parazellulären Transport von Molekülen über das Epithel kontrolliert. Beim Leaky-Gut-Syndrom sind diese Schutzsysteme der Darmschleimhaut in unterschiedlichem Ausmaß beschädigt. Gewährleistet wird die intestinale (darmeigene) Barrierefunktion durch eine zusammenhängende Zellschicht, die den Raum zwischen den Epithelzellen mit ihren engen Verbindungen regelrecht versiegelt. Im Englischen wird diese dichte Verbindung als „tight junction“ bezeichnet. Man kann sie sich wie schmale Bänder vorstellen, welche die Zellen umgürten und so den Zellzwischenraum abdichten. Trotz dieser Abdichtung ist jedoch ein kontrollierter Stoffaustausch möglich, der den Transport gewünschter Moleküle erlaubt, unerwünschter hingegen zu verhindern vermag. „Leaky gut“ kann daher auch als durchlässiger oder permeabler Darm verstanden werden.<br />Verschiedene Mechanismen können zum Auflösen dieser Kontaktzonen im Darm beitragen. Dazu gehören unter anderem Umweltfaktoren, Lebensmittelzusätze, allerdings auch verschiedene Arzneimittel (zum Beispiel NSAR, Antibiotika und PPI) sowie anhaltende, neurogene oder psychovegetative Stressfaktoren.<br />Die erhöhte intestinale Permeabilität fördert den Austausch zwischen dem gastrointestinalen Immunsystem und der Mikrobiota sowie Endo- bzw. Enterotoxinen aus dem Darmlumen. Dies führt an der Darmschleimhaut zu lokalen sowie im Körper auch zu generellen Entzündungsreaktionen. Endotoxin-Moleküle werden an ein spezielles Protein im Blutplasma gebunden, das LBP (Lipopolysaccharid-bindendes Protein). Das LBP transportiert das Endotoxin in die Leber, wo es durch spezielle Enzyme, die Leberphosphatasen, inaktiviert wird. Aber auch die Blutplättchen können Endotoxine binden und in Form von Blutplättchen-Aggregaten („micro white clots“) in der Mikrozirkulation des gesamten Körpers, auch im Zentralnervensystem, verteilen. Nachfolgend können sich im gesamten Versorgungsgebiet des Körpers dadurch Immunaktivierungen einstellen, die über eine „Silent inflammation“- Reaktion lange symptomlos verbleiben können. Infolge der ständigen und chronischen symptomarmen Entzündungsreaktionen stellen sich letztendlich gewebespezifische Degenerationsprozesse ein. <br />Dieser anfänglich in der Darmschleimhaut stattfindende vermehrte Endotoxin-Transfer zündet also möglicherweise eine Vielzahl von Symptomen und löst damit klinische Symptome aus, die in die Fachgebiete der Neurologie, der Stoffwechselmedizin (Endokrinologie) und der Immunologie reichen.</p> <h2>Häufige unspezifische Symptome des Leaky-Gut-Syndroms</h2> <p>Die vielschichtige Symptomliste (Tab. 1) verdeutlicht die enorme Wichtigkeit der korrekten Einschätzung des Leaky-Gut-Syndroms in der Medizin. Fast alle Bereiche der Medizin können damit in Zusammenhang gebracht werden. Der Pathomechanismus dafür konnte noch nicht in allen Bereichen aufgeklärt werden. Dennoch lässt sich bereits heute mit Bestimmtheit festhalten, dass ein Negieren dieser Zusammenhänge dazu beitragen kann, dass frühzeitige Behandlungsansätze für verschiedene Erkrankungen unterbleiben und ursächliche Therapieansätze nicht zum Repertoire der Schulmedizin gehören.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Infekt_1902_Weblinks_s36_tab1.jpg" alt="" width="550" height="384" /></p> <h2>Diagnosemöglichkeiten beim Leaky-Gut-Syndrom</h2> <p>Die moderne Labormedizin hat in den letzten Jahren zur Vereinfachung der Diagnose des Leaky-Gut-Syndroms beigetragen. Die Diagnose ist prinzipiell einfach über Stuhlproben und die Auswertung sogenannter Surrogatparameter im Blut möglich. Dabei handelt es sich um den Nachweis besonderer Proteinbausteine, die beim Leaky-Gut-Syndrom vermehrt enteral ausgeschieden werden. Hierzu gehören Bestandteile der „Tight junctions“-Zonen (z. B. Zonulin) bzw. Serumeiweiße wie Alpha-1-Antitrypsin, die aufgrund ihrer Größe normalerweise die Darmschranke nicht passieren können. Aufgrund der Konsistenz dieser Proteine ist der Nachweis in den Stuhlproben auch nach mehreren Tagen noch möglich. Besonders eignet sich diese Methode des Nachweises des Leaky- Gut-Syndroms bei Kindern oder Personen, die einer Blutabnahme nur mit erhöhtem Aufwand zugeführt werden können. Bestimmte Labors bieten die Analyse bereits als Routinediagnostik an. <br />Auch das im Rahmen des Leaky-Gut- Syndroms im Darm häufig auftretende Histamin kann zu diesen Parametern gerechnet werden. Die Werte aus der Stuhlprobe können mit weiteren Blutparametern abgeglichen werden, um die Diagnose im Einzelfall abzusichern. Hierzu gibt Tabelle 2 Auskunft.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Infekt_1902_Weblinks_s36_tab2.jpg" alt="" width="250" height="177" /></p> <h2>Therapie des Leaky-Gut-Syndroms</h2> <p>Das Leaky-Gut-Syndrom erfordert aufgrund seiner komplexen Zusammenhänge einen multimodalen Therapieansatz. Die integrative Therapie ist auf einem Stufensystem aufgebaut und erfolgt in drei Schritten. An erster Stelle steht die Regeneration der Darmwand, die etwa durch eine Antibiotikatherapie oder nach Infekten Schaden genommen hat. Nach der Regeneration kann das Mikrobiom neu aufgebaut werden, das heißt, gesunde Bakterien können den Darm neu besiedeln. Danach gilt es, die gesunden Verdauungsfunktionen aufrechtzuerhalten und den Darm weiter fit zu halten. <br />Mineralstoff-Austauscher (PMA-Zeolith- Klinoptilolith, z. B. Panaceo) oder Huminsäure können die Toxine an der gastrointestinalen Darmschleimhaut binden. Auch die Gabe von Dimeticon und bestimmten Aminosäuren (Glutamin) in Verbindung mit Spurenelementen (Zink) bzw. (Raps-)Lecithinen (z. B. Colon Guard von Life Prevent) hat sich hierbei bewährt. Dabei ist auf eine besondere Produktreinheit dieser Naturstoffe zu achten.</p> <p>Für den Aufbau des Mikrobioms werden neben den bekannten Bifidobakterien und Laktobazillen in letzter Zeit Faecalibacterium prausnitzii und Akkermansia favorisiert. Bestimmte Ballaststoffe wie Akazienfasern scheinen den Aufbau dieser für die Darmschleimhaut wichtigen Bakterien zu fördern. <br />Eine abwechslungsreiche, naturbelassene kohlenhydratreduzierte Kost und der Verzicht auf Lebensmittelzusätze und konservierte Lebensmittel fördern ebenfalls die intestinale Regeneration. <br />Zusammenfassend stellt die Diagnose „Leaky-Gut-Syndrom“ eine in der Praxis bewährte Methode zur Prävention verschiedener Volkserkrankungen dar und sollte weiter in den Fokus der wissenschaftlichen Diskussion gerückt werden. Es werden weitere klinische Studien erforderlich sein, um diesen wichtigen Pathomechanismus im Detail zu verstehen. <br /><br /> Die Internationale Gesellschaft für angewandte Präventionsmedizin (www.i-gap.org) unterstützt diese Bemühungen und fördert Studienansätze in diesem Zusammenhang. Weitere Informationen zum Thema „Leaky-Gut-Syndrom“ erhalten Sie in dem Buch des Autors dieses Artikels.</p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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