Genetik in der Schwangerenvorsorge – was muss immer angesprochen werden?
Autorin:
Prof. Dr. med. Isabel Filges
Ärztliche Leiterin der Medizinischen Genetik Universitätsspital Basel
E-Mail: isabel.filges@usb.ch
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Schwangerschaftsvorsorge zielt auf die Sicherstellung der mütterlichen und kindlichen Gesundheit ab. Neben den wichtigen gynäkologisch-geburtshilflichen Standards gewinnt die Berücksichtigung genetischer Aspekte zunehmend weiter an Bedeutung. Dies liegt unter anderem an den immer besseren Ultraschall- und genetischen Testmöglichkeiten während der Schwangerschaft, die ein erhöhtes Risiko für genetisch bedingte Erkrankungen erkennen oder präzisieren können oder eine genetische Erkrankung diagnostizieren können.
Keypoints
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Ausführliche persönliche und Familienanamnese sind imperativ, um über das Basisrisiko hinausgehende Aspekte zu erfassen, die auf ein zusätzlich erhöhtes oder spezifisches Risiko für genetische Erkrankungen hinweisen.
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Auf die Möglichkeit des Risikoscreenings für Chromosomenanomalien und die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik müssen grundsätzlich alle Schwangeren hingewiesen werden.
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Monogene Erkrankungen sind bei positiver Familienanamnese oder entsprechender ethnischer Herkunft und Konsanguinität bedeutsam.
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Der Ultraschall kann viele, jedoch nicht alle Fehlentwicklungen oder Erkrankungen des Kindes erkennen.
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Für ein Carrier-Screening existieren keine formalen Empfehlungen, die Möglichkeit sollte jedoch kommuniziert werden.
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Aufklärungsgespräche müssen dokumentiert werden ebenso wie die schriftliche Zustimmung der Schwangeren zu pränatalen Untersuchungen.
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Pränatale Untersuchungen sind eine Option und die werdenden Eltern bzw. die schwangere Frau entscheiden, ob und in welcher Konsequenz sie die heutigen Möglichkeiten wahrnehmen möchten.
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Bei komplexen Fragestellungen wird empfohlen, Fachspezialisten zu involvieren.
Der elektive Charakter von Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft orientiert sich an den Prinzipen einer prädiktiven, personalisierten, präventiven und partizipatorischen (P4) Medizin und ermöglicht heute Schwangeren eine aktive Beteiligung an Entscheidungen für oder gegen Untersuchungen zur Risikoabschätzung und/oder diagnostische Untersuchungen. Der pränatalen Beratung, die idealerweise eigentlich präkonzeptionell ohne Zeitdruck erfolgen sollte, kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu, sie wird jedoch auch zunehmend aufwendig.
Auch wenn eine Schwangerschaft zunächst meist Grund zur Freude ist, muss im Rahmen der präkonzeptionellen oder pränatalen Beratung daran erinnert werden, dass auch eine umfassende prä- und perinatale Betreuung kein gesundes Kind garantieren kann. Ein Grossteil der physischen Anomalien kann durch Ultraschalluntersuchungen in spezialisierten Zentren diagnostiziert werden. Probleme und Erkrankungen, die sich nicht mit strukturellen Anomalien während der fetalen Entwicklungsperiode präsentieren, können per se nicht im Ultraschall erkannt werden. Dazu gehören unter anderem Minderbegabungen und Intelligenzminderungen, aber auch seltene, oft schwere, angeborene Stoffwechsel- oder neurologische Erkrankungen. Das Basisrisiko für eine Erkrankung des Kindes bei Geburt, auch bei optimalen Voraussetzungen und unauffälligen Befunden, liegt bei etwa 1–2% für schwere Erkrankungen und bei 3–5%, wenn man Entwicklungsanomalien einschliesst, die heute gut behandelbar sind.1
Erfassung des Risikos: Basisrisiko versus erhöhtes A-priori-Risiko für eine genetische Erkrankung
Die Möglichkeit, zunehmend auch vorgeburtlich genetische Erkrankungen oder das Risiko dafür zu untersuchen, erfordert bei jeder Schwangeren, zunächst klinisch ein individuelles Ausgangsrisiko, auch A-priori-Risiko genannt, zu definieren. Nur so kann dann individuell zu Optionen eines weiteren sinnvollen Vorgehens beraten werden, sei es zu Risikoabschätzungsverfahren oder diagnostischen Untersuchungen mit ihren jeweiligen Grenzen in ihrer Aussagekraft. Dies ermöglicht der Schwangeren, auch unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Überlegungen und Überzeugungen, sich für oder gegen die infrage kommenden Untersuchungen zu entscheiden. Im Folgenden werden die Aspekte beschrieben, die zu einer Erhöhung des Basisrisikos für genetisch bedingte Erkrankungen führen können und die daher immer angesprochen werden sollen.
Bedeutung der Eigen- und Familienanamnese
Bei der Ermittlung des Ausgangsrisikos sind eine ausführliche persönliche und eine Familienanamnese entscheidend. Sie sind das wichtigste Screening-Werkzeug zur Erfassung von individuellen persönlichen und familiären Risikokonstellationen, die eine Bedeutung für die Schwangerschaft, für die Frau und/oder das Kind und für das weitere Vorgehen in der Schwangerschaft haben können.
Aktive Fragen zur Eigenanamnese sollten daher umfassen:
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Bestehen oder bestanden Fehlbildungen, Entwicklungsanomalien oder Vorerkrankungen und manifeste gesundheitliche Probleme beider Partner?
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Gab es bereits Aborte oder Totgeburten des Paares?
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Gab es reproduktionsmedizinische Behandlungen?
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Welches ist die ethnische Herkunft der Familien beider Partner?
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Besteht eine Konsanguinität der Partner?
Gab es Medikamenteneinnahmen, Infektionen und Komplikationen während der Frühschwangerschaft?
Die Familienanamnese sollte mindestens drei Generationen umfassen und wird am besten in Form eines Stammbaums erfasst. Dabei interessieren vor allem:
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Fehlbildungen, Entwicklungsanomalien oder Vorerkrankungen und manifeste gesundheitliche Probleme bei einem Kind des Paares bzw. der Frau oder des Partners oder bei den Eltern und Geschwistern und deren Kindern beider Partner,
Aborte, Totgeburten und perinatale Todesfälle bei diesen Familienangehörigen, insbesondere, wenn sie wiederholt aufgetreten sind.
Die Bedeutung solcher Informationen wird nicht selten unterschätzt, denn abhängig von den Vorbefunden kann sich das Risiko für eine genetische Erkrankung beim zukünftigen Kind deutlich erhöhen.2 Die Verifizierung von anamnestisch erhobenen Informationen zu Diagnosen, allenfalls auch Untersuchungen eines Indexpatienten in der Familie sowie Trägerabklärungen der Schwangeren und/oder des Partners können als Voraussetzung notwendig werden, um das definitive Risiko sowie Optionen einer spezifischen Pränataldiagnostik diskutieren zu können. Auch kann in manchen Situationen ein erhöhtes familiäres Risiko so ausgeschlossen oder unwahrscheinlich werden. Bei Verdacht auf ein a priori erhöhtes oder spezifisches Risiko sollte in der Regel mit einem Expertenzentrum bzw. mit Fachärztinnen und Fachärzten der medizinischen Genetik zusammengearbeitet werden.
Mütterliches Alter: Risiko für Chromosomenstörungen, häufige Aneuploidien
Die Bedeutung des mütterlichen Alters für die Risikoerhöhung für numerische Chromosomenanomalien ist gut bekannt. Risikoabschätzungsverfahren wie der Ersttrimestertest als Multiparametertest, der neben dem mütterlichen Alter auch mütterliche Serummarker sowie vor allem die Messung der Nackentransparenz einschliesst, und der nichtinvasive Pränataltest (NIPT) anhand zellfreier plazentarer DNA im mütterlichen Blut haben die Aussagekraft des sog. Risikoscreenings für Aneuploidien für die individuelle Schwangerschaft deutlich verbessert.
Untersuchungen zur Risikopräzisierung für die häufigen Aneuploidien (vor allem Trisomie 21, 13 und 18) sollten daher mit allen Schwangeren unabhängig vom elterlichen Alter als Option diskutiert werden. Indikationen und Vorgehensalgorithmen wurden im Expertenbrief festgelegt,3 der auch als Grundlage für die Vergütung der Untersuchungen durch die Krankenversicherer gilt. Eine ausführliche Beratung über die Testperformance, Limitationen und mögliche Konsequenzen dieser Untersuchungen ist verpflichtend. Besser noch sollte, soweit möglich, eine präkonzeptionelle Diskussion der teilweise sehr komplexen Zusammenhänge angestrebt werden, damit Entscheidungen für oder gegen Untersuchungen zur Risikobestimmung und ggf. weitere pränatale genetische Tests von der Schwangeren bzw. dem Paar wohlüberlegt getroffen werden können.
Bedeutung des väterlichen Alters
Ein erhöhtes Vateralter erhöht nicht das Risiko für die häufigen Trisomien, jedoch vermutlich für neu entstandene chromosomale Mikrodeletionen und -duplikationen und ist für Neumutationen (De-novo-Mutationen) in einigen Genen belegt (z.B. FGFR2, FGFR3, RET, PTPN11). Es handelt sich jedoch um eine vergleichsweise geringe Risikozunahme von maximal 0,5% nach bisheriger Kenntnis, und es existiert kein sinnvoller Screeningansatz, denn Neumutationen können potenziell in allen der mehr als 20000 Gene vorkommen. Der Einfluss des väterlichen Alters auf die Häufigkeit von Schizophrenie oder Erkrankungen aus dem Autismusspektrum und einiger anderer ist vermutlich komplex und damit keinem gezielten Screening bzw. keiner Diagnostik zugänglich.
Carrier-Screening: Untersuchungen der Überträgerschaft für rezessive genetische Erkrankungen
Untersuchungen zur Überträgerschaft für rezessiv erbliche Erkrankungen (Carrier-Screening) werden in verschiedenen Ländern unterschiedlich gehandhabt. Bei einem autosomal rezessiven Erbgang beträgt das Erkrankungsrisiko für jedes zukünftige Kind 25%, sofern eine heterozygote Trägerschaft beider (gesunder) Eltern (=Carrier) nachgewiesen wird. Ein erhöhtes Risiko für eine solche heterozygote Trägerschaft findet sich für bestimmte Erkrankungen vor allem abhängig von der Ethnizität. Die Erhebung der Herkunft in der Eigen- und Familienanamnese ist daher bedeutsam. Bei Paaren aus Ländern mit einer erhöhten Inzidenz für Hämoglobinopathien, wie Beta-Thalassämien in Mittelmeeranrainerstaaten, Alpha-Thalassämien in Südostasien und Sichelzellanämien in Bevölkerungen mit Herkunft aus den Subsaharagebieten Afrikas, entdecken ein Blutbild mit Erythrozytenindizes und eine Hb-Elektrophorese (meist als HPLC) Überträgerschaften zuverlässig und kostengünstig. Diese sind daher indiziert. In der Aschkenasim-jüdischen Bevölkerung ist ein Carrier-Screening für autosomal rezessive Erkrankungen, die hier gehäuft auftreten (z.B. Tay-Sachs-Krankheit und einige andere), gut bekannt und wird meist von den Paaren aktiv angefragt. Aus dem deutschsprachigen Raum sind keine Empfehlungen von Gesundheitsbehörden oder von Fachgesellschaften zum Carrier-Screening bekannt. Leitlinien in anderen Ländern empfehlen es für einige Erkrankungen mit erhöhter Trägerprävalenz, wie Hämoglobinopathien, spinale Muskelatrophie (SMA), zystische Fibrose und das Fragile-X-Syndrom.
Die Technik der Hochdurchsatzsequenzierung kann potenziell ein Carrier-Screening allen Paaren, die dies wünschen, für eine beliebige Anzahl bekannter Gene ermöglichen. Dies wird auch als «expanded carrier screening» bezeichnet. Die Angebote der Laboratorien sind jedoch sehr unterschiedlich, sodass das American College of Medical Genetics and Genomics Massnahmen für eine Standardisierung vorschlägt und wesentliche Beratungsaspekte zusammenfasst.4
Grundsätzlich sollte die generelle Option eines mehr oder weniger umfassenden Carrier-Screenings unabhängig von der ethnischen Herkunft heute in der präkonzeptionellen Beratung angesprochen werden. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass eine solche Untersuchung niemals alle Überträgerschaften erkennen kann und dass eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung in der Schweiz aufgrund der gesetzlichen Bedingungen ausgeschlossen ist. Um ein Paar zu beraten, ist daher sehr genau zu prüfen, welche Testverfahren im Einzelnen durch die Labore angeboten werden und wo deren Grenzen liegen.
Konsanguinität
Bei Paaren mit Blutsverwandtschaft ergibt sich abhängig vom Verwandtschaftsgrad ein erhöhtes Basisrisiko, bedingt durch das erhöhte Risiko für rezessive Erkrankungen. Bei Cousin und Cousine ersten Grades verdoppelt sich das Basisrisiko etwa. Signifikant erhöht sich das Risiko vor allem bei komplexen oder mehrfachen Verwandtschaften oder wenn in der Familie bereits eine spezifische autosomal rezessive Erkrankung bekannt ist. Schwangerschaften bei Konsanguinität der Eltern sind Risikoschwangerschaften, eine formale genetische Beratung und sonografische Kontrollen in einem Zentrum sind grundsätzlich empfohlen.
Fazit
Die Möglichkeiten und die Aussagekraft von Untersuchungen zur individuellen Risikoabschätzung und Diagnostik genetischer Erkrankungen in der Schwangerschaft nehmen stetig zu. Verschiedene Aspekte müssen daher zu Beginn jeder Schwangerschaft, idealerweise bereits präkonzeptionell, berücksichtigt werden, um der Schwangeren bzw. dem Paar eine individualisierte Beratung und partizipatorische Schwangerenvorsorge zu ermöglichen.
Die Inhalte dieses Artikels waren Thema eines Vortrags bei der Frühjahrsfortbildung der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, 19.–26. März 2022, St. Moritz und Live-Stream.
Literatur:
1 Moog U, Riess O (Hg.): Medizinische Genetik für die Praxis. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2014 2 McClatchey T et al.: Missed opportunities: unidentified genetic risk factors in prenatal care. Prenat Diagn 2018; 38(1): 75-9 3 Ochsenbein N et al.: Pränatale nicht-invasive Risikoabschätzung fetaler Aneuploidien. Expertenbrief Nr. 52, SGGG 2018 4Gregg AR et al.: Screening for autosomal recessive and X-linked conditions during pregnancy and preconception: a practice resource of the American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG). Genet Med 2021; 23(10): 1793-806
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