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Progesteron: vielfältig einsetzbar
Leading Opinions
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30.11.2017
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<p class="article-intro">Jede Gynäkologin und jeder Gynäkologe kennt es, aber kaum jemand weiss um die vielfältigen Funktionen und Einsatzbereiche von Progesteron. Auf dem Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) gab Prof. Dr. med. Petra Stute von der Frauenklinik am Inselspital in Bern einen prägnanten und informativen Überblick.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die unterschiedlichen synthetischen Gestagene haben verschiedene Partialwirkungen, die bei der Auswahl zu berücksichtigen sind.</li> <li>Für die Dosierung der Substanzen ist wichtig zu wissen, dass sie individuell sehr unterschiedlich resorbiert werden – von manchen Frauen sehr gut, von anderen dagegen schlecht.</li> </ul> </div> <p>Das natürliche Progesteron wurde 1934 erstmalig isoliert. Es wird im Corpus luteum, in den Nebennierenrinden sowie der Plazenta synthetisiert und hat eine sehr kurze Halbwertszeit von nur sechs Minuten. «Deshalb ist es häufig schwierig, verlässliche Werte im Blut zu messen», sagte Stute. Progesteron erhöht die Körpertemperatur um 0,2 bis 0,5° C, es wandelt das Endometrium während des Zyklus um, erhält die Schwangerschaft und hat noch diverse andere Funktionen, beispielsweise wirkt es anxiolytisch, sedativ und antiepileptisch.<br /> Seit den 1950er-Jahren werden synthetische Gestagene als Kontrazeptivum eingesetzt und seit den 1980er-Jahren in Kombination mit Östrogenen beim Hormonabfall in den Wechseljahren. Es gibt verschiedene synthetische Gestagene, die sich in Nortestosteron-Derivate, Progesteron- Derivate (Pregnane), Norprogesteron-Derivate (Norpregnane) und Spironolakton- Derivate einteilen lassen. Ein Präparat hob die Gynäkologin hervor: Dydrogesteron. Dessen Vorteil sei, so erklärte sie, dass es keine zentralen Effekte habe und deshalb nicht sedativ wirke und auch nicht kontrazeptiv. Dydrogesteron ist ein Stereoisomer von Progesteron. Das bedeutet, dass es von der chemischen Strukturformel her exakt so aussieht wie Progesteron, aber im dreidimensionalen Raum anders aufgehängt ist, weshalb es anders wirkt als Progesteron. «Wenn man also Frauen hat, die unter Progesteron eine Affektverschlechterung bemerken, kann man alternativ Dydrogesteron versuchen», sagte Stute.<br /> Bei der Auswahl des Gestagens muss man auch die Partialwirkungen der einzelnen Präparate beachten (Tab. 1). So wirkt etwa Progesteron schwach antiandrogen und antimineralokortikoid und daher auch ausschwemmend. Viele Frauen hätten zu Beginn einer Hormontherapie das Gefühl, sie würden zunehmen, sagte Stute. «Auf Östrogene kann das zutreffen, weil die Hormone eine Flüssigkeitsretention bewirken können.» Das sei aber meist eine Dosisfrage und mittelfristig rückläufig. «Progesteron wirkt grundsätzlich ausschwemmend – das kann man therapeutisch nutzen.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Gyn_1703_Weblinks_s17_tab1.jpg" alt="" width="2150" height="1616" /></p> <h2>Progesteron bei Schlafstörungen</h2> <p>An Beispielen aus der Praxis erklärte die Gynäkologin anschaulich, in welchen Fällen man Progesteron einsetzen kann. Eine 50-jährige Patientin war in der späten menopausalen Transition, die Frau erzählte, sie sei «fix und fertig». Sie schlief seit einem halben Jahr miserabel, wachte durch jedes kleine Geräusch auf und konnte dann stundenlang nicht wieder einschlafen. Viele Frauen haben Schlafprobleme in den Wechseljahren, aber natürlich muss man auch andere Ursachen abklären, wie COPD oder das Restless-Legs-Syndrom. In der Therapie der Insomnie steht an erster Stelle eine gute Schlafhygiene, an Medikamenten kommen Phytotherapeutika, Melatonin, Neuroleptika, Benzodiazepine, Antidepressiva und andere Präparate infrage. «Progesteron als Monotherapie kann zumindest bei Frauen in den Wechseljahren eine gute Alternative sein, denn es bessert sowohl subjektiv als auch objektiv den Schlaf», sagte Stute. Dies lässt sich pathophysiologisch erklären: Progesteron wird in Gliazellen und Neuronen durch die 5-Alphareduktase 1 in 5-Alphadihydroprogesteron umgewandelt und dieses wiederum in Allopregnanolon. Allopregnanolon bindet im Hirn an GABA<sub>A</sub>-Rezeptoren. «Das macht müde», sagte Stute. «Aber eine Frau mit Schlafstörungen kann von dieser Nebenwirkung profitieren.»<br /> Andere Progestagene können ebenfalls durch die 5-Alphareduktase 1 verstoffwechselt werden, binden aber nicht an GABA-Rezeptoren und wirken nicht so schlafanstossend wie Progesteron. 300mg Progesteron am Abend machen müde und schützen davor, dass man durch Störungen immer wieder aufwacht.<sup>1</sup> 300mg Progesteron entsprechen in etwa der Hormonmenge in der zweiten Zyklushälfte, also der Corpus-luteum-Phase. Man habe bei der Dosierung durchaus einen Spielraum, sagte Stute. Bei einer Dosis von 1200mg waren Frauen in einer kleinen Studie deutlich müder, aber auch etwas eingeschränkt im täglichen Leben: Die kognitive Funktion liess etwas nach und sie fühlten sich nicht mehr so fit.<sup>2</sup> 1200mg entsprechen etwa der Menge an Progesteron im 3. Trimenon der Schwangerschaft. Wie eine Frau auf Progesteron reagiert, ist individuell unterschiedlich. Manche Frauen fühlen sich schon mit 100mg «schachmatt gesetzt», andere brauchen eine höhere Dosis, um einen Effekt zu spüren. Das liegt daran, dass das Hormon sehr unterschiedlich resorbiert wird.<sup>3</sup></p> <h2>Schnelle und langsame Resorbiererinnen</h2> <p>Der maximale Serumspiegel nach oraler Applikation wird bei Progesteron nach 120 Minuten erreicht, bei Allopregnanolon etwa 60 Minuten später, nach 180 Minuten.<sup>3</sup> Bei «schlechten» und «guten Resorbiererinnen» zeigen sich deutliche Unterschiede im maximalen Plasmaspiegel: Bei Frauen, die schlechter resorbieren, lässt sich ein etwa sechsmal geringerer maximaler Plasmaspiegel nachweisen. «Leider weiss man im Vorhinein nicht, ob eine Frau zu den guten oder den schlechten Resorbiererinnen gehört», sagte die Gynäkologin. Für die Praxis bedeutet das: «Selbst wenn man meint, die Patientin kvönnte 400mg Progesteron gebrauchen, fange ich mit 200mg an. Denn es könnte ja sein, dass sie zu den Schnellresorbiererinnen gehört und schon von der geringeren Dosis ziemlich ‹ausgeknockt› wird.»<br /> Immer wieder klagen Patientinnen auch darüber, dass sie in kurzer Zeit dramatisch an Gewicht zugenommen hätten. So wie eine 51-jährige Patientin in der frühen Postmenopause: Innerhalb von zwei Jahren hatte sie zehn Kilogramm zugenommen und einen Body-Mass-Index von 27kg/m<sup>2</sup>. Die Frau litt unter Hitzewallungen, schlief schlecht und ihre Stimmung war im Keller – nicht nur wegen der Gewichtszunahme. In der Literatur heisse es immer, Wechseljahre hätten mit Gewichtszunahme nichts zu tun, erzählte Stute, es läge daran, dass die Frauen sich zu wenig bewegten oder zu viel ässen. «Ich denke aber schon, dass die Hormone das Gewicht beeinflussen», sagte sie. Darauf weisen die veränderten zirkadianen Hormonausschüttungen im Alter hin. Wenn man älter wird, ist der Spiegel von Melatonin nachts nicht mehr so hoch wie in jüngeren Jahren und gleichzeitig steigt der Cortisolspiegel. Darüber hinaus ist die Phase mit niedrigem Cortisolspiegel in der Nacht auch kürzer als bei jüngeren Menschen, bei älteren Frauen sogar noch mehr als bei älteren Männern. Das bedeute, dass mit dem Alter der Cortisolspiegel steige, erklärte Stute, bei Frauen noch mehr als bei Männern. Eine Stunde nach dem Einschlafen steigt normalerweise das Wachstumshormon (GH) an, im Alter aber nicht so stark wie bei Jüngeren. Und dies könnte die Erklärung für die Gewichtszunahme sein. Denn GH ist der «Gegenspieler» von Insulin und beseitigt nachts die Fettdepots, die durch das Insulin angelegt wurden. Das Ziel sei also, das GH nachts möglichst hoch zu halten. GH steigt erst an, wenn man in der ganz tiefen Schlafphase angekommen ist, sagte Stute. «Also muss ich dafür sorgen, dass die Patientin tief schläft, damit GH stark ansteigt.» Dies kann mit Progesteron gelingen. Die zweite Strategie ist, den Cortisolspiegel gering und das Melatonin hoch zu halten – Ersteres eventuell mit einer Hormontherapie und Zweiteres zum Beispiel mit Melatonin- oder mit Östrogentabletten, die indirekt die Melatoninausschüttung verbessern. «So kann man mit einer hormonellen Therapie auch die Stoffwechselsituation verbessern», so Stute.</p> <h2>PMS-Symptome lindern</h2> <p>Das dritte Patientinnenbeispiel kommt ebenfalls häufig in der Praxis vor: eine 45-jährige Frau in der frühen menopausalen Transition, die sehr unter einem prämenstruellen Syndrom (PMS) leidet, das immer schlimmer wird. Die Theorie des PMS sei, dass das Gehirn der betroffenen Frauen sensibler auf die unterschiedlichen Hormonausschüttungen der Eierstöcke reagiere. Nehmen die Hormonschwankungen im Alter zu, verschlechtere sich auch das PMS. Kürzlich hat Stute gemeinsam mit Psychologen und Phytotherapeuten ein Konsensuspapier zur Behandlung des PMS herausgegeben.<sup>4</sup> Hier ist auch Progesteron in die Therapieempfehlungen mit aufgenommen worden – im Gegensatz zu anderen internationalen Empfehlungen. Allopregnanolon sollte eigentlich die Stimmung verbessern – aber warum haben dann Frauen mit PMS in der Lutealphase depressive Symptome? Dies liegt daran, dass alle Modulatoren von GABA<sub>A</sub>-Rezeptoren wie Benzodiazepine, Barbiturate, Alkohol und eben auch Allopregnanolon bei bestimmten Personen in bestimmten Situationen paradoxe Effekte haben, wie Irritabilität, Angst, Aggression oder Depressionen. Vermutlich spiele bei den depressiven Symptomen die Serumkonzentration von Allopregnanolon eine Rolle, sagte Stute. Frauen mit PMS litten weniger unter depressiven Verstimmungen, wenn der Allopregnanolonspiegel entweder gering oder hoch war.<sup>5</sup> Eine Therapieoption für die 45-Jährige mit PMS wäre daher, ihren Zyklus hormonell auszuschalten, damit der Spiegel an Progesteron sinkt. Auf der anderen Seite könnte man versuchen, den Progesteronspiegel anzuheben. «Ich erkläre den Frauen, dass die Chance 50:50 ist, dass sich ihre Symptome mit Progesterongaben bessern», sagte Stute. Weil Progesteron in Studien aber nicht immer besser abschneide als Placebo, hätten andere Leitlinien es nicht in den Therapiealgorithmus aufgenommen. «Man kann aber durchaus probieren, ob sich mit Progesteron die Stimmung hebt. Deshalb haben wir das auch in die Schweizer Empfehlungen mit aufgenommen.»<sup>6</sup><br /> In einem weiteren Fall litt eine 53-jährige Patientin unter schweren menopausalen Beschwerden. Sie hatte Angst vor Brustkrebs und stand daher einer Hormontherapie skeptisch gegenüber. Die prospektive Kohortenstudie E3N hat für die kombinierte Östrogen-Progesteron/ Dydrogesteron-Gabe kein erhöhtes Risiko für einen Zeitraum von fünf Jahren gezeigt. Allerdings ergab die aktuelle Auswertung der E3N-Studie, dass das Risiko bei 8,7 Jahren erhöht ist (Hazard-Ratio 1,31; 95 % Konfidenzintervall 1,15– 1,48).<sup>7</sup> «Was wir unseren Patientinnen kommunizieren sollten, ist, dass Progesteron nicht die Brust schützt», erklärte Stute. «Es ist auch nicht neutral bezüglich des Brustkrebsrisikos, denn mit steigender Einnahmedauer kann das Risiko steigen.»<br /> Die orale sequenzielle Progesterongabe ist für die Endometriumprotektion im Rahmen einer Östrogentherapie zugelassen. Bei der transdermalen Applikation gibt es nur vier Studien mit wenigen Teilnehmerinnen und kurzer Studiendauer. Die Daten weisen aber darauf hin, dass sich die transdermale Progesteronapplikation nicht als Endometriumschutz eignet, wenn gleichzeitig Östrogene verabreicht werden.<br /> Progesteron bietet vielfältige Einsatzmöglichkeiten, wie der informative Vortrag zeigte. Manchmal, zum Beispiel bei der Behandlung des PMS, muss man ausprobieren, ob es wirkt. Immer muss man die Patientinnen sorgfältig über Nutzen und Risiken aufklären, auch wenn es noch nicht genügend Daten gibt.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Workshop Nr. 5/AGER, SMG: Einsatzmöglichkeiten von
Progesteron, Jahreskongress der SGGG, 28.–30. Juni
2017, Lausanne
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<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Caufriez A et al.: Progesterone prevents sleep disturbances and modulates GH, TSH, and melatonin secretion in postmenopausal women. J Clin Endocrinol Metab 2011; 96: E614-23 <strong>2</strong> Freeman EW et al.: A placebo-controlled study of effects of oral progesterone on performance and mood. Br J Clin Pharmacol 1992; 33: 293-8 <strong>3</strong> Van Broekhoven F et al.: Oral progesterone decreases saccadic eye velocity and increases sedation in women. Psychoneuroendocrinology 2006; 31: 1190-9 <strong>4</strong> Stute P et al.: Interdisciplinary consensus on management of premenstrual disorders in Switzerland. Gynecol Endocrinol 2017; 33: 342-8 <strong>5</strong> Bäckström T et al.: GABAA receptor-modulating steroids in relation to women's behavioral health. Curr Psychiatry Rep 2015; 17: 92 <strong>6</strong> Stute P et al.: Publication in preparation <strong>7</strong> Fournier A et al.: Risk of breast cancer after stopping menopausal hormone therapy in the E3N cohort. Breast Cancer Res Treat 2014; 145: 535-43</p>
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