Anämie bei Krebserkrankungen
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Alicia Rovó
Leitende Ärztin/Stv. Chefärztin und <br>Bereichsleiterin Klinische Hämatologie <br>Inselspital, Universitätsspital Bern <br>Universitätsklinik für Hämatologie und Hämatologisches Zentrallabor<br>E-Mail: alicia.rovo@insel.ch
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31.05.2018
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<p class="article-intro">Anämie ist ein häufiges Problem bei Patienten mit einer Krebs­er­krankung. Etwa 50 % der Krebspatienten entwickeln zu einem bestimmten Zeitpunkt während der Krankheit eine Anämie.<sup>1</sup> Die Relevanz einer Anämie bei Patienten mit einer malignen Neoplasie wurde vor Jahren erkannt, eine grosse Anzahl von Studien zeigte, dass das Vorhanden­sein einer Anämie den Gesamterfolg der Tumortherapie beeinflussen kann.<sup>2</sup> Ebenso kann eine ungewohnte Müdigkeit, die das häufigste Symptom einer Anämie ist, das tägliche Leben stark beeinträchtigen und daher die Lebensqualität von Patienten mit einer Krebserkrankung einschränken.<sup>3</sup></p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Keypoints</h2> <ul> <li>>50 % der Krebspatienten entwickeln eine Anämie.</li> <li>Chemotherapie, Radiotherapie und die Erkrankung selbst tragen zur Prävalenz der Anämie bei.</li> <li>Anämie häufig unzureichend diagnostiziert und von Ärzten unterschätzt</li> <li>Ursachen identifizieren</li> <li>Eine nicht krebsbedingte Ursache ist nicht auszuschliessen.</li> <li>Behandlungsoptionen sind: <ul> <li>aufmerksames Abwarten</li> <li>Erythrozytentransfusionen</li> <li>Therapie mit EPO (Chemotherapie-induzierte Anämie)</li> <li>Eisensubstitution in bestimmten Fällen</li> </ul> </li> </ul> <p><br />Symptome, die mit einer Anämie verbunden sind, können korrigiert werden.<sup>4</sup> Dies bedeutet, dass eine korrekte Diagnose und die Einleitung der erforderlichen Massnahmen eine Verbesserung der Lebensqualität dieser Patienten ermöglichen würden. Ein bekanntes Problem ist, dass die Anämie bei Krebspatienten von Ärzten oft unterschätzt und verharmlost und entsprechend ungenügend abgeklärt und behandelt wird. Zudem werden häufige Ursachen der Anämie, wie Vitamin- und Eisenmangel, die unkompliziert behoben werden können, oft nicht untersucht. Solche Umstände können leider für die schnelle Verschlechterung der Erkrankung des Patienten mitverantwortlich sein, was ein unzulässiger Zustand ist. Anämien bei Patienten mit einer Neoplasie müssen daher untersucht und – wenn möglich – korrigiert werden.<br />Anämie bei Patienten mit einer Krebserkrankung kann unterschiedliche Ursachen haben, abhängig von den zugrunde liegenden Gesundheitsproblemen des Patienten, der Art der Krebserkrankung, ihrer Lokalisation und der Art der verabreichten Therapie.<sup>5</sup> Nicht krebsbezogene Ursachen sind eher mit dem früheren Gesundheitszustand verbunden; diese sind unter anderem Vitaminmangel, angeborene oder erworbene Blutkrankheit, Infektionen, Blutungen und andere Komorbiditäten. Es gibt auch Ursachen, die eng mit der Art des Tumors und dessen Therapie zusammenhängen können; diese Ursachen werden besser von den behandelnden Ärzten erkannt; Früherkennung und präventives Management dieser Formen der Anämie erfolgen daher häufiger. Ältere Krebspatienten, die aufgrund des Alters eine höhere Prävalenz von Komorbiditäten haben, können deshalb ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Anämie aufweisen. Eine Wahrnehmung dieser Form der Anämie ist daher erforderlich.</p> <h2>Untersuchung der Anämie bei Patienten mit Krebserkrankung</h2> <p>Für die Diagnose der Anämie bei Patienten mit einer Krebserkrankung sollte ein Standardansatz, basiert auf morphologischen und pathophysiologischen Kriterien, in Betracht gezogen werden.<sup>2</sup> Der morphologische Ansatz ermöglicht die Charakterisierung der Anämie anhand des mittleren korpuskulären Volumens (MCV), das als Erythrozyten-Indizes im Gesamtblutbild (BB) angegeben wird. Diese Information unterscheidet mikro-, normo- und makrozytäre Anämien voneinander. Mikro- und makrozytäre Anämien sind gut charakterisierte Entitäten, so spricht zum Beispiel die mikrozytäre Anämie häufig für Eisenmangel und die makrozytäre Anämie für Vitamin-B12- oder Folatmangel. Im Gegensatz dazu können normozytäre Anämien eine Vielzahl von Entitäten umfassen, die die Diagnose erschweren. Anämie bei Entzündungen und Anämie bei Krebserkrankungen sind typischerweise normozytäre Anämien. Bei Patienten mit einer Krebserkrankung kann die Anämie jedoch über eine Entzündung hinausgehen, und daher muss die Notwendigkeit einer angemessenen Diagnose betont werden. Bei Patienten mit gastrointestinalen und urologischen Tumoren kann eine mikrozytäre Anämie als Folge eines Eisenmangels nach okkulter oder offener Blutung besonders häufig auftreten. Eine makrozytäre Anämie kann als Folge einer Mangelernährung entweder durch verminderte Einnahme oder durch Malabsorption auftreten, beides häufige Zustände bei Patienten mit einer Krebserkrankung. Eine einfache Analyse des absoluten Wertes der Retikulozyten trägt zur Charakterisierung einer Anämie bei. Der Retikulozytenwert ist äusserst informativ, Ärzte sollten nur daran denken, dass der Retikulozytenwert nicht automatisch bei der Bestellung eines BB bestimmt wird, die Bestimmung muss deshalb separat angefordert werden. Eine Zunahme von Retikulozyten bei einem anämischen Patienten entspricht einer guten Regenerationsfähigkeit der Erythropoese. Ein gutes Beispiel für eine regenerative Anämie ist die autoimmune hämolytische Anämie (AIHA), die häufig bei Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen beobachtet wird, insbesondere aber bei einer chronischen lymphozytären Leukämie.<sup>6</sup> Wenn eine AIHA auftritt – vorausgesetzt, es gibt kein zusätzliches Substratdefizit –, wird die Anämie hoch regenerativ sein. Eine Anämie, die infolge einer Produktionsstörung der Knochenmarkbildung, zum Beispiel nach einer Chemotherapie, auftritt, ist typischerweise nicht regenerativ.<br />Bei der Erstdiagnose aller Patienten mit einer Neoplasie ist die Analyse des BB mit Indizes angezeigt. Wenn der Hb-Wert <110g/l oder >20g/l unter dem Referenzwert liegt, sind weitere Untersuchungen notwendig. Die Laboruntersuchung sollte eine Auswertung des Blutausstriches für die Morphologie-Analyse einschliessen; des Weiteren sollten systematisch die Retikulozytenzahl, der Ernährungszustand (Eisen, Transferrin, Transferrinsättigung, Ferritin, Holotranscobalamin, Vitamin B12 und Folat) und die Nieren- und Leberfunktion untersucht werden. Ein schrittweises Verfahren gemäss den Symptomen und der Patientengeschichte ist in Abbildung 1 dargestellt.<sup>2</sup> Das diagnostische Vorgehen zur Charakterisierung der Anämie bei Krebspatienten sollte sich nicht prinzipiell von dem bei Nichtkrebspatienten unterscheiden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Onko_1803_Weblinks_28_1.jpg" alt="" width="2185" height="1303" /></p> <h2>Behandlung der Anämie bei Patienten mit Krebserkrankung</h2> <p>Die Behandlung einer Anämie bei Krebspatienten basiert auf drei Säulen:<sup>7–9, 2</sup> <br />1) der Transfusion von Erythrozytenkonzentrat (EC), <br />2) der Verwendung von Erythropoetin (EPO) und <br />3) der Eisensubstitution bei absolutem oder funktionellem Eisenmangel. <br />Die Indikation für EC-Transfusionen variiert je nach klinischer Manifestation des Patienten. Bei asymptomatischen Patienten ist das Ziel einer Transfusion, einen Hb-Wert um 70–90g/l zu erhalten. Dieser Wert ermöglicht theoretisch eine korrekte Leistung und somit eine gute Lebensqualität. Es ist jedoch notwendig, für jeden Patienten den optimalen Hb-Wert herauszufinden. Komorbiditäten und Alter spielen in diesem Sinne eine wesentliche Rolle, ältere Patienten benötigen häufig höhere Hb-Spiegel. Für Patienten mit symptomatischer Anämie ist der Transfusionsbedarf immer von den klinischen Symptomen abhängig. Der wichtigste Vorteil einer EC-Transfusion ist, dass sie zu einer sofortigen Zunahme des Hb-Wertes, zu einer schnellen Reduzierung der Müdigkeit und zu einer Verbesserung weiterer Anämiesymptome führt. Transfusionen sind heutzutage sicher, können jedoch zu einer Reihe von Komplikationen und Spätfolgen führen.<sup>10</sup> Daher sollte die Transfusionsentscheidung bei jedem Patienten sorgfältig abgewogen werden.<sup>11</sup><br />Die Verwendung von EPO-Substanzen ist hauptsächlich bei Chemotherapie-assoziierter schwerer Anämie indiziert.<sup>12</sup> Diese Option kann Transfusionen sparen, was zu einer anhaltenden Verringerung der Müdigkeit und somit zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Die Verwendung von EPO wurde mit einem erhöhten Thromboserisiko, einer Verkürzung der Lebenserwartung und dem Fortschreiten des Tumors in Verbindung gebracht. Die Daten sind heute zwar umstritten, sollten aber zur Vorsicht bei der Verwendung von EPO-Substanzen gemahnen. Hingegen steigt das Risiko für thromboembolische Komplikationen unter EPO-Therapie bei zu raschem Anstieg des Hämoglobinwertes oder zu hohem Hämoglobinwert. Die Verwendung von EPO muss für Patienten mit einem Hb-Wert <100g/l (noch besser <90g/l) eingeschränkt werden und der Wert von 130g/l darf nicht überschritten werden. Strenge Kontrollen und zweiwöchige Dosisanpassungen oder gar eine Therapiepause sind erforderlich, wenn ein schneller Anstieg des Hämoglobinwertes beobachtet wird. Die Verwendung von EPO in geeigneten Fällen sowie eine genaue Überwachung der Behandlung sind unverzichtbare Faktoren, um die Risiken zu reduzieren. Indikationen, Schemata und Folgemassnahmen zur Verwendung von EPO bei Krebspatienten wurden in den von der ASH und der ASCO 2010 veröffentlichten Leitlinien ausführlich beschrieben.<sup>13</sup><br />Eisenmangel tritt häufig bei Krebspatienten auf; zum Beispiel sind mehr als 50 % der Patienten mit Pankreas- oder kolorektalem Karzinom betroffen.<sup>14–16</sup> Die Schwierigkeit der Diagnose von Eisenmangel bei Patienten mit Entzündung ist bekannt und kann eine Herausforderung sein. Parameter wie das Ferritin, das in der klinischen Praxis eine breite Anwendung findet, sind in solchen Fällen nicht aussagekräftig. Die Beurteilung des Eisenstatus mit der Bestimmung des Plasmaeisens (nüchtern), des Eisentransporterproteins (Transferrin) und der Transferrin-Sättigung kann eine grosse Hilfe zur Abgrenzung einer Entzündung mit oder ohne Eisenmangel sein. Um eine wichtige Information hervorzuheben: Ein signifikanter Anstieg von Ferritin schliesst einen Eisenmangel nicht aus. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Entwicklung von Mikrozytose und/oder Hypochromie auf eine eisendefizitäre Erythropoese hindeutet. Patienten mit funktionellem oder absolutem Eisenmangel werden von einer Eisensubstitution profitieren.<sup>14, 17</sup> Es ist immer ein Diskussionsthema, wie die Eisensubstitution bei Patienten mit einer Krebserkrankung am besten gehandhabt wird. Patienten mit einer Krebserkrankung haben aufgrund des entzündlichen Prozesses definitionsgemäss einen Anstieg von Hepcidin,<sup>18</sup> dies wird weder die gastrointestinale Resorption von Eisen noch die Freisetzung von Eisen aus den Makrophagen erlauben; daher ist die Behandlung der Wahl der parenterale Weg. Die wiederholte Verabreichung von kleinen Dosen von intravenösem Eisen wird deshalb empfohlen.<sup>14</sup> Zum Beispiel werden Patienten von einer Dosis von 200mg Eisencarboxymaltose intravenös profitieren. Eine wöchentliche Wiederholung einer solchen Dosis kann wirksam sein. Die endgültige kumulative Dosis von Eisen wird für jeden Fall variabel sein und sollte vorsichtig definiert werden, damit es nicht zu einer Eisenüberladung kommt. Falls bei anämischen Patienten mit einer Krebserkrankung unter EPO-Behandlung<sup>13</sup> kein Ansprechen auftritt, sollte eine gleichzeitige Eisensubstitution in Erwägung gezogen werden, bevor ein Therapieversagen der EPO-Behandlung verkündet wird.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Knight K et al.: Prevalence and outcomes of anemia in cancer: a systematic review of the literature. Am J Med 2004; 116(Suppl 7A): 11S-26S <strong>2</strong> Ludwig H et al.: A European patient record study on diagnosis and treatment of chemotherapy-induced anaemia. Support Care Cancer 2014; 22: 2197-206 <strong>3</strong> Bower JE et al.: Screening, assessment, and management of fatigue in adult survivors of cancer: an American Society of Clinical Oncology clinical practice guideline adaptation. J Clin Oncol 2014; 3: 1840-50 <strong>4</strong> Rick O et al.: Oncological rehabilitation. Oncol Res Treat 2017; 40: 772-7 <strong>5</strong> Rodgers GM III et al.: Cancer- and chemotherapy-induced anemia. J Natl Compr Canc Netw 2012; 10: 628-53 <strong>6</strong> Henry DH: Guidelines and recommendations for the management of anaemia in patients with lymphoid malignancies. Drugs 2007; 67: 175-94 <strong>7</strong> Kadokura G, Katsumata N: Treatment of chemotherapy-in­duced anemia. Gan To Kagaku Ryoho 2014; 41: 416-20 <strong>8</strong> Ludwig H et al.: The European Cancer Anaemia Survey (ECAS): a large, multinational, prospective survey defin­ing the prevalence, incidence, and treatment of anaemia in cancer patients. Eur J Cancer 2004; 40: 2293-306 <strong>9</strong> Ludwig H et al.: Treatment patterns and outcomes in the management of anaemia in cancer patients in Europe: find­ings from the Anaemia Cancer Treatment (ACT) study. Eur J Cancer 2009; 45: 1603-15 <strong>10</strong> Carson JL et al.: Red blood cell transfusion: a clinical practice guideline from the AABB. Ann Intern Med 2012; 157: 49-58 <strong>11</strong> Vamvakas EC, Blajchman MA: Transfusion-related mortality: the ongoing risks of allogeneic blood transfusion and the avail­able strategies for their prevention. Blood 2009; 113: 3406-17 <strong>12</strong> Ludwig H et al.: The use of erythropoiesis-stimulating proteins in anemic patients with malignant diseases. Wien Klin Wochenschr 2008; 120: 507-13 <strong>13</strong> Rizzo JD et al.: American Society of Hematology/American Society of Clinical Oncology clinical practice guideline update on the use of epoetin and darbepoetin in adult patients with cancer. Blood 2010; 116: 4045-59 <strong>14</strong> Aapro M et al.: Prevalence and management of cancer-related anaemia, iron deficiency and the specific role of i.v. iron. Ann Oncol 2012; 23: 1954-62 <strong>15</strong> Ludwig H et al.: Prevalence of iron deficiency across different tumors and its association with poor performance status, disease status and anemia. Ann Oncol 2013; 24: 1886-92 <strong>16</strong> Naoum FA: Iron defi­ciency in cancer patients. Rev Bras Hematol Hemoter 2016; 38: 325-30 <strong>17</strong> Ludwig H et al.: Iron metabolism and iron supplementation in cancer patients. Wien Klin Wochenschr 2015; 127: 907-19 <strong>18</strong> Weiss G, Goodnough LT: Anemia of chronic disease. N Engl J Med 2005; 352: 1011-23</p>
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