Unklare chronische Anämie, wie weiter?
Autor:
Prof. Dr. med. Nicolas Bonadies
Universitätsklinik für Hämatologie und Hämatologisches Zentrallabor, Inselspital Universitätsspital Bern
Department for BioMedical Research
Universität Bern
E-Mail: nicolas.bonadies@insel.ch
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Die Anämie ist ein sehr häufiges Symptom mit grosser Bedeutung in der globalen Gesundheitsversorgung und Ausdruck von zahlreichen Erkrankungen, die erkannt und behandelt werden müssen. Nach Ausschluss eines Blutverlustes, einer Hämolyse, eines Substratmangels oder einer relevanten Niereninsuffizienz kann die Ursachenabklärung einer unklaren chronischen Anämie schwierig sein. Es ist daher hilfreich, systematisch vorzugehen und Spezialisten bedarfsgerecht einzubeziehen. In dieser Übersichtsarbeit sollen die wichtigsten Aspekte der chronischen Anämie erörtert und ein systematischer Zugang zur Abklärung aufgezeigt werden. Weiter soll auch auf die zunehmende Bedeutung der altersassoziierten, klonalen Hämatopoiese und deren Abgrenzung von myeloischen Neoplasien eingegangen werden.
Keypoints
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Die Anämie ist ein sehr häufiges Symptom von zahlreichen Erkrankungen und ist mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert.
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Die Prävalenz der Anämie und die möglichen Ursachen sind auf globaler Ebene von hygienischen und sozioökonomischen Bedingungen geprägt.
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Aufgrund der zahlreichen Ursachen einer unklaren chronischen Anämie ist es nützlich, bei der Abklärung einen systematischen Zugang anzuwenden, um rasch zu einer Diagnose zu kommen.
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Die Abklärung der unklaren chronischen Anämie ist komplex und die Zuweisung an einen erfahrenen Spezialisten daher zu empfehlen, um behandelbare Ursachen zu identifizieren.
Der Begriff «Anämie» stammt aus dem Griechischen und beschreibt den Zustand der Abgeschlagenheit und Leistungsminderung, welcher auf eine Blutarmut zurückzuführen ist. Die Anämie ist durch eine verminderte Konzentration des Hämoglobins oder einen reduzierten Anteil an Erythrozyten im Blutvolumen (Hämatokrit) definiert. Im Kindesalter steigt die Hämoglobinkonzentration kontinuierlich bis zur Pubertät an und liegt bei Frauen im gebärfähigen Alter durchschnittlich um 10g/l niedriger als bei Männern (Tab.1).1 Die WHO legt den unteren Grenzwert für Frauen bei 120g/l und für Männer bei 130g/l fest, wobei neben Geschlecht und Alter auch zusätzliche Einflussgrössen den Normalwert beeinflussen können (z.B. Höhenaufenthalt).2 Aufgrund des Wegfalles hormoneller Einflüsse verschwindet der Geschlechtsunterschied ab der 5. Dekade zunehmend. Diesem Umstand wird in der Beurteilung der Normwerte im Alter wahrscheinlich nicht immer Rechnung getragen und er ist möglicherweise einer der Gründe, weshalb die Anämieprävalenz bei älteren Männern höher liegt.3
Bedeutung der Anämie
Tab. 1: Hämoglobin-Normwerte (adaptiert nach Herklotz et al.)1
Die Anämie hat global eine sehr grosse Bedeutung und die Prävalenz widerspiegelt die Assoziation mit zahlreichen Erkrankungen, die insbesondere stark abhängig sind von hygienischen und sozioökonomischen Faktoren der jeweiligen Länder. Die globale Prävalenz der Anämie lag zwischen 1990 und 2010 bei Frauen zwischen 40 und 45% und bei Männern zwischen 30 und 40% mit leicht abfallender Tendenz über den Beobachtungsraum (Abb.1).4 In Entwicklungsländern liegt die Prävalenz bei 40–60% mit Eisenmangel, Infektionen und Hämoglobinopathien als hauptsächliche Ursachen. Im Gegensatz dazu liegt die Prävalenz in entwickelten Ländern bei knapp 20% und die Ursachen sind vorwiegend Eisenmangel, Hämoglobinopathien und chronische Niereninsuffizienz.4,5 Die Eisenmangelanämie stellt somit auch in entwickelten Ländern den grössten Teil der chronischen Anämien dar, die Ursachen des Eisenmangels unterscheiden sich jedoch mit chronischen Blutungen, fleischarmer Ernährung und seltenen Resorptionsstörungen in den entwickelten Ländern und Mangelernährung sowie Darminfekten in den Entwicklungsländern.
Die Prävalenz der chronischen Anämie ist altersabhängig. Bei Frauen in entwickelten Ländern liegt sie in der 6. Dekade bei 15% und in der 8. Dekade steigt sie bis auf 30% an. Bei Männern liegt sie bei knapp 20% und steigt im gleichen Zeitraum auf 50% an (Abb.2).3 Weiter sind auch vorwiegend Patienten in Spitälern und Bewohner von Altersheimen durch eine Anämie betroffen, die Prävalenz steigt in dieser Patientengruppe bis auf 70% an.6 Die chronische Anämie korreliert in entwickelten Ländern mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen7 (Abb.3) und ist mit einer erhöhten Mortalität assoziiert (Abb.4). Das Risiko steigt sowohl bei Frauen als auch bei Männern mit zunehmendem Schweregrad der Anämie exponentiell an (Hazard-Ratio 3–4 bei Hb <110/120g/l).8 Die Anämie ist somit ein bedeutsamer Prädiktor für eine erhöhte Mortalität und stellt daher ein ernst zu nehmendes Symptom dar, das weiter abgeklärt und behandelt werden sollte.
Abb. 1: Ursachen der Anämie auf globaler Ebene (adaptiert nach Kassebaum et al.)5
Systematik bei der Anämieabklärung
Bei der Abklärung einer Anämie müssen einige Aspekte geklärt werden, um lebensbedrohliche Zustände rasch ausschliessen zu können (Tab. 2). Patienten mit einer akuten und mindestens moderaten Anämie, die wahrscheinlich auf einen Verbrauch (Blutung und Hämolyse) zurückzuführen ist, müssen umgehend (ggf. im Rahmen eines stationären Aufenthaltes) abgeklärt werden, solange die Ursache und die weitere Dynamik nicht sicher abzuschätzen sind.
Abb. 2: Prävalenz der Anämie im Alter (adaptiert nach Stauder et al.)3
Allgemeine Ursachen von Zytopenien
Zur Beurteilung von Zytopenien ist es sinnvoll, die möglichen Ursachen in die drei mechanistischen Hauptkategorien Sequestration, Verbrauch und Produktionsstörung einzuteilen, zudem sollten alle drei Blutlinien (Erythro-, Myelo- und Thrombopoiese) berücksichtigt werden (Tab. 2, Abb. 5 und 6).9 Somit muss zwischen einer isolierten Anämie und einer Bi- oder sogar Panzytopenie differenziert werden. Es ist zu beachten, dass eine Lymphozytopenie im Alter gehäuft auftreten kann, relevant ist aber die Neutrophilenzahl für die Beurteilung der Knochenmarksfunktion. Somit ist für diese Unterscheidung ein Differenzialblutbild notwendig. Für den Ausschluss einer Sequestration bei Hypersplenismus sind die klinische Untersuchung und eine Abdomensonografie hilfreich. Die Sequestration betrifft aber oft insbesondere Leukozyten und Thrombozyten und ist selten mit einer isolierten Anämie verbunden (Bi- oder Panzytopenie). Der vermehrte Verbrauch lässt sich oft bereits durch Anamnese (Medikamente, Substanzen), Klinik (Infekte, Blutungen) oder zusätzliche, allgemein zugängliche Blutuntersuchungen erkennen (CRP, LDH). Autoimmun bedingte Zytopenien (Autoimmunhämolyse, Immunneutropenie und Immunthrombopenie) sollten hingegen von einem Spezialisten beurteilt und behandelt werden, da Diagnostik und Therapie oft komplex sind und es Erfahrung im Umgang mit diesen Erkrankungen braucht. Die Abklärung einer Produktionsstörung kann nach Ausschluss eines Substratmangels und einer Niereninsuffizienz auch aufwendig sein, um eine Verdrängung oder eine intrinsische Störung der Blutbildung auszuschliessen. Auch hier sollte der Kontakt zum Spezialisten gesucht werden, da die Notwendigkeit einer Knochmarkspunktion erwogen werden muss und die multimodalen Befunde (Labor, Blutbild, Knochenmark, Durchflusszytometrie, Zytogenetik, molekulare Diagnostik) integrativ interpretiert werden müssen.
Ein Verbrauch tritt in der Regel akut oder chronisch intermittierend auf, hingegen stellt sich die Anämie bei einer Sequestration oder Produktionsstörung meist als chronische Anämie dar. Nicht selten treten aber auch Anämien auf, welche auf Kombinationen von verschiedenen Mechanismen basieren, wie zum Beispiel bei entzündlichen oder immunologischen Erkrankungen (peripherer Verbrauch und Produktionsstörung) sowie Leberpathologien (Sequestration und Blutung).
Abb. 3: Prävalenz der Anämie in der Grundversorgung (adaptiert nach Gandhi et al.)7
Spezialfall Anämie bei Hämolysen: potenziell lebensbedrohlich, akut oder chronisch
Die Hämolyse ist ein lebensbedrohlicher Zustand und muss auch in der Grundversorgung umgehend erkannt und behandelt werden. Wenn keine anderen Begleiterkrankungen vorliegen, handelt es sich in der Regel um eine regeneratorische, normochrome, normozytäre Anämie und die erhöhten Hämolyseparameter (LDH und indirektes Bilirubin erhöht sowie nicht messbares Haptoglobin) weisen auf die mögliche Ursache hin. Besonders gefährlich sind eine akut auftretende, dekompensierte Hämolyse und hämolytische Anämien bei eingeschränkter kompensatorischer Reserve (Substratmangel, Niereninsuffizienz, Infekt, Stammzellerkrankung oder -verdrängung).
Tab. 2
Grundsätzlich werden hämolytische Anämien in korpuskuläre und extrakorpuskuläre hämolytische Anämien eingeteilt. Bei den korpuskulären Anämien handelt es sich fast ausschliesslich um hereditäre Erkrankungen (Hämoglobinopathien, Membranopathien, Enzymopathien [s. Abschnitt Erythrozytenpathologien]), die einzige Ausnahme stellt hier die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) dar. Diese kann mittels durchflusszytometrischer Methoden mit dem Nachweis eines Verlusts von Glycosylphosphatidylinositol(GPI)-verankerten, komplementhemmenden Membranproteinen auf Erythrozyten und Monozyten bestätigt werden. Bei den extrakorpuskulären hämolytischen Anämien unterscheidet man mechanische, physikalische, infektiöse und Antikörper-vermittelte Hämolysen. Bei den Letzteren handelt es sich in der Regel um Autoantikörper-vermittelte autoimmunhämolytische Anämien (AIHA) vom Wärme- (IgG) oder Kälte-Typ (IgG), gelegentlich treten auch gemischte Formen auf. Die AIHA werden in primär idiopathische (50%, z.B. bei primären Immundefekten) und sekundäre Formen aufgeteilt (lymphoproliferative oder rheumatische Erkrankungen, chronische Infektionen). Die Einteilung der hämolytischen Anämie erfolgt somit aufgrund der persönlichen und Familienanamnese (hereditär vs. erworben), des Nachweises von freiem Hämoglobin im Plasma (extra- vs. intravaskulär), des Coombs-Tests (Coombs-positiv oder -negativ) sowie spezieller Abklärungen (Hämoglobinopathien, Membranopathien, Enzymopathien, PNH), die für die Interpretation eine Zuweisung zu einem Spezialisten erfordern.
Physiologie der Erythropoiese
Für die Abklärung der Ursache einer chronischen Anämie ist es nützlich, die wichtigsten Stadien und Einflussgrössen der Erythropoiese zu kennen. Die frühen erythropoietischen Vorläuferzellen (CMP, BFU-E, CFU-E) sind selten und entwickeln sich aus der hämatopoietischen Stammzelle (HSC). Daraus entstehen im Amplifikationspool die Proerythroblasten und verschiedenen Reifungsstufen der Normoblasten (basophiler, orthochromatischer und eosinophiler Normoblast), welche nach Ausstossen des Kerns schlussendlich in die Retikulozyten münden.
Erythropoietin (EPO) ist eines der wichtigsten Hormone, welches durch die Unterdrückung der Apoptose den Pool an erythroiden Vorläuferzellen und Proerythroblasten erweitert.9 Das Überleben der reiferen Normoblasten wird vom SMAD-Signalweg beeinflusst, der bei Entzündungen über Faktoren der TGF-beta-Substanzfamilie aktiviert wird und dabei die Ausreifung der Normoblasten beeinträchtigen kann. Bei Entzündungen wird auch die Ausschüttung von EPO in den Nieren unterdrückt und die erythropoietischen Vorläuferzellen entwickeln zudem eine EPO-Resistenz, sodass dieses essenzielle Hormon der Blutbildung in physiologischen Dosierungen nicht mehr ausreichend wirken kann.
In der Ausreifung der Erythrozyten ist die Verfügbarkeit von Folsäure und Vitamin B12 kritisch für die DNA-Synthese. Bei einem Mangel reduzieren diese Zellen die Teilungsfrequenz und kompensieren die verminderte Proliferation mit einer Zunahme der Zellgrösse (Makrozytose). Diese kann bei schwerem Mangel zu grotesk grossen Vorläuferzellen der myeloischen Reihe (Riesenmetamyelozyten) und einer intramedullären Hämolyse führen, die gelegentlich als genuine Hämolyse oder sogar als Lymphom fehlinterpretiert werden kann.
Für die Hämoglobinsynthese muss ausreichend Eisen verfügbar sein. Bei einem Eisenmangel wird die Grösse der Zellen reduziert, um neben einer Reduktion der Zellzahl auch mit kleinen Zellen zusätzlich Hämoglobin zu sparen (hyporegeneratorische Mikrozytose). Da der mittlere Hämoglobingehalt (MCH) mit der Grösse der Zellen (MCV) korreliert, ist die mittlere Konzentration des Hämoglobins (MCHC) für die Beurteilung der Chromie (Hämoglobindichte) aussagekräftiger. Bei einem Eisenmangel sind alle drei Erythrozyten-Indices vermindert.
Bei den Thalassämien sind die Alpha- oder Beta-Ketten durch Mutationen betroffen und führen zu «instabilen» Hämoglobinvarianten, welche die Überlebenszeit der Erythrozyten vermindern (s. Abschnitt Erythrozytenpathologien). Die Störung führt zur Bildung von kleinen Zellen und kompensatorischer Erhöhung der Retikulozyten- und Erythrozytenzahl (hyperregeneratorische Mikrozytose) mit gelegentlich extramedullärer Blutbildung bei schweren Formen. Solange kein Eisenmangel vorliegt, bleibt die MCHC normal, bei einem zusätzlichen Eisenmangel vermindert sich auch die MCHC, die Erythrozytose fällt ab und die Zellen werden aussergewöhnlich klein.
Abb. 4: Mortalität bei Anämien (adaptiert nach Culleton et al.)8
Systematische Abklärung einer chronischen Anämie
Basierend auf den physiologischen Gegebenheiten der Erythropoiese werden Anämien in Bezug auf die regenerative Reserve (Retikulozyten: hypo-/normo-/hyperregenerativ), die Zellgrösse (MCV: mikro-/normo-/makrozytär) und die Hämoglobindichte (Chromie; MCHC: hypo-/normo-/hyperchrom) eingeteilt (Abb. 7). Wie bereits erwähnt, korreliert der mittlere Hämoglobingehalt (MCH) mit der Zellgrösse (MCV). Die mittlere Konzentration des Hämoglobins (MCHC) ist daher für die Beurteilung der Chromie (Hämoglobindichte) und damit für den Eisenmangel aussagekräftiger. Weiter korreliert die Retikulozytenzahl bei physiologischer Kompensation mit dem Schweregrad der Anämie (HK), und die Anämie vermindert auch die Verweildauer der Retikulozyten im Knochenmark. Dies wird mit dem Retikulozytenindex (Schwelle für hyporegeneratorisch bei <3%) respektive dem Retikulozytenproduktionsindex (<2), zum Ausdruck gebracht. Diese Parameter werden von den meisten Laboratorien automatisch berechnet und auf den Befundblättern für die Interpretation der Regenerationsfähigkeit aufgeführt (Tab. 3).
Nach Ausschluss einer Sequestration, einer akuten Blutung oder Hämolyse kommen für chronische hypoproliferative Anämien die folgenden zentralen Ursachen für eine Produktionsstörung infrage:
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Insuffiziente hämogene Substrate (Ernährung, Absorption, immunologisch)
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Chronische Entzündung (Niereninsuffizienz, rheumatisch, chronische Infekte, Malignome)
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Erythrozytenpathologien (Hämoglobino-, Membrano-, Enzymopathien)
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Verdrängung der Blutbildung (metastasierender Tumor, Lymphom, Myelom, Fibrose)
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Erkrankungen der hämatopoietischen Stamm- und Vorläuferzellen
Abb. 5: Primärer Abklärungspfad bei Anämie (adaptiert nach Koury und Rhodes)9
Abb. 6: Sekundärer Abklärungspfad bei Anämie (adaptiert nach Koury und Rhodes)9
Insuffiziente hämogene Substrate
Ein Substratmangel (Eisen, Folsäure und Vitamin B12) lässt sich mit den gängigen Laboranalysen feststellen, es gilt aber als Grundregel zu beachten, dass nebst der Substitutionstherapie auch immer die Ursache des Substratmangels geklärt werden muss. Das Ferritin reicht in der Regel für die Beurteilung der Eisenreserven aus, solange keine Entzündungen oder eine Leberpathologie vorliegen. Im Zweifel muss auch die Transferrinsättigung (im nüchternen Zustand) bestimmt werden.
Bei Frauen im gebärfähigen Alter sollte auch an eine Resorptionsstörung (Sprue) oder chronische Entzündung (rheumatische Erkrankungen) gedacht werden, falls eine perorale Eisensubstitution über 2 bis 3 Monate den Mangel nicht beheben kann. Es lohnt sich daher, bei suggestiver Klinik vor Beginn einer peroralen Therapie einen Eisenresorptionstest durchzuführen. Dabei wird das Serum-Eisen nüchtern vor und 4 Stunden nach Einnahme einer adäquaten peroralen Eisendosis (200mg 2-wertiges Eisen) bestimmt. Ein Anstieg des Serum-Eisens <30–40% ist ungenügend und sollte weiter abgeklärt werden (Transglutaminase- und Gliadin-Antikörper; cave: falsch negativ bei IgA-Mangel).
Ein Eisenmangel bei Männern und älteren Personen gilt immer als Hinweis für eine chronische gastrointestinale oder urogenitale Blutung und sollte weitere Abklärungen nach sich ziehen. Mehr als 50% des Körpereisens (total 3–4,5g) sind ans Hämoglobin im Blut gebunden und nur 0,1% im Serum messbar.10 Mit 500ml Blut verliert unser Körper 250mg Eisen. Mit Transfusionen wird das Eisen zusätzlich über das retikuloendotheliale System (RES) wiederverwertet. Sollte eine Entzündung vorliegen, ist die Nutzung des gespeicherten Eisens wegen des Hepcidin-Sequestrations-Effekts aber stark eingeschränkt und daher eine perorale Therapie nutzlos (s.Abschnitt chronische Entzündungen). Selten führt auch eine intravasale Hämolyse (PNH, mechanisch) zu einem Eisenmangel.
Die häufigsten Ursachen eines Substratmangels sind unzureichende nutritive Einnahme, gastrointestinale Resorptionsstörungen, vermehrter Bedarf, Verluste und gelegentlich auch interferierende Medikamente (Protonenpumpenhemmer, Methotrexat, Antiepileptika, Antibiotika und andere). Beim Vitamin-B12-Mangel sollte zudem an immunologisch vermittelte Störungen mit Verminderung des Intrinsic Factors (IF) gedacht werden (Perniziosa). Dies kann entweder durch Antikörper gegen den IF selbst (immunologischer Abbau) oder indirekt durch Antikörper gegen Parietalzellen verursacht werden, welche den IF produzieren (Produktionsstörung). Beim Vitamin-B12-Mangel sollte daher auch an die Notwendigkeit einer Gastroskopie gedacht werden, da eine atrophe Gastritis mit einem erhöhten Magenkarzinomrisiko assoziiert ist. Die Vitamin-B12-Reserven reichen üblicherweise für 8–10 Jahre aus, und die Symptome können daher spät auftreten.
Abb. 7: Laborparameter für die Einteilung der Anämien
Chronische Entzündung
Die Anämie der chronischen Entzündung hat eine sehr komplexe Pathophysiologie.11 Hierbei spielt das eisenregulierende Hormon Hepcidin eine zentrale Rolle.12 Hepcidin ist ein Akutphasenprotein, das bei einer Entzündung hochreguliert wird und zur liposomalen Degradation des Ferroportin-Eisenexporters in den Enterozyten, Hepatozyten, Makrophagen und Plazentazellen führt. Das Ferroportin ist verantwortlich für den Export des Eisens aus den Zellen. Bei einer Entzündung bleibt das Eisen innerhalb der Zellen sequestriert und steht für den Körper und insbesondere die Erythropoiese nicht mehr zur Verfügung. Die Anämie bei chronischer Entzündung (Begleitanämie) ist somit durch eine Eisenverwertungsstörung (funktioneller Eisenmangel, Sequestration), eine inadäquate EPO-Verfügbarkeit/-Antwort und ein vermindertes Überleben der Erythrozyten charakterisiert.
Eine Vielzahl von Erkrankungen führt zu einer chronischen Entzündung, z.B. Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, rheumatische Erkrankungen und auch Krebsleiden. Zur Behandlung der Begleitanämie muss (wenn möglich) primär die Ursache behoben werden, eine perorale Eisensubstitutionstherapie ist wegen des Hepcidin-Sequestrations-Effekts kaum wirksam. Daher sollte die intravenöse der oralen Eisengabe bei entzündlichen Erkrankungen vorgezogen werden. Zurzeit werden auch zahlreiche neue Substanzen getestet, die mit dem Hepcidin oder dem SMAD-Signalweg interferieren und dadurch einerseits die Eisenverfügbarkeit und andererseits auch die Erythropoiese im Entzündungszustand verbessern können.
Erythrozytenpathologien
Die Abklärung von Hämoglobinopathien, Enzymopathien und Membranopathien kann komplex sein und gehört in die Hand von Spezialisten, weshalb hier nur kursorisch darauf eingegangen wird.13–15 Thalassämien und Sichelzellanämien sind die wichtigsten Hämoglobinopathien, die auf globaler Ebene eine ausserordentlich wichtige Rolle spielen und im Rahmen der Migration auch in westlichen Ländern zunehmend an Bedeutung gewinnen.5 Für die Diagnose sind der ethnische Hintergrund der Patienten sowie eine suggestive Laborkonstellation mit mikrozytärer regeneratorischer Anämie bei (meist) normaler MCHC wegweisend. Für die Abklärung der Thalassämien ist das Mikroskop nützlich, die Diagnose wird aber mittels Hämoglobinelektrophorese und zusätzlicher genetischer Tests bestätigt. Für die Betreuung ist die Unterscheidung zwischen transfusionsabhängigen und -unabhängigen Patienten sehr wichtig, da dies die Komplexität der Behandlung und Prognose massgeblich beeinflusst.
Bei der Sichelzellanämie muss zwischen Sichelzellträgertum (Sichelzell-Trait mit heterozygoter Mutation HbS) und der Sichelzellerkrankung (homozygote Mutation HbSS) unterschieden werden. Nur bei Letzterer können regelmässig Sichelzellkrisen mit Schmerzen und Gefässokklusion auftreten, welche durch Dehydratation, Entzündungen und Hypoxigenierung ausgelöst werden und massgeblich zur Morbidität und Mortalität beitragen.
Die häufigsten Membrandefekte der Erythrozyten sind Sphärozytosen. Diese lassen sich mittels Mikroskop, osmotischer Fragilität, Ektazytometrie (Messung der Deformierbarkeit der Membran) und genetischer Tests von anderen Membrandefekten unterscheiden. Schliesslich treten als Ursache von korpuskulären hämolytischen Anämien selten auch Enzymdefekte auf. Die wichtigsten Defekte umfassen den Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase- (Favismus) und den Pyruvatkinasemangel, welche insbesondere unter metabolischem Stress zu relevanten, intermittierenden Hämolysen führen können. Für die Diagnose sind nebst dem Mikroskop insbesondere die Messung der Enzymaktivität und gelegentlich auch genetische Tests notwendig.
Verdrängung der Blutbildung
Eine Verdrängung der Blutbildung kann durch infiltrative Prozesse des Knochenmarks verursacht werden. Diese umfassen zahlreiche metastasierende Tumorerkrankungen, aber auch Lymphome, Myelome oder Knochenmarksfibrosen im Zusammenhang mit entzündlich-immunologischen Erkrankungen (SLE). In der Regel sind hier alle Zellreihen betroffen, es werden Vorstufen der Erythro- und Myelopoiese ausgeschwemmt (leukerythroblastäres Blutbild) und es finden sich begleitende Symptome. In frühen Stadien kann jedoch auch nur die Erythropoiese betroffen sein. Der Nachweis eines verdrängenden Prozesses im Knochenmark erfordert eine Knochenmarkspunktion mit histologischer Untersuchung. Die Behandlung richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache.
Tab. 3: Interpretation der Retikulozyten und der verschiedenen Indices
Erkrankungen der hämatopoietischen Stammzellen
Erkrankungen der hämatopoietischen Stammzelle können sich anfänglich auch als isolierte chronische Anämie manifestieren, im Verlauf sind aber auch zunehmend die anderen Zellreihen betroffen. Oft findet sich eine hyporegeneratorische makrozytäre Anämie als Ausdruck einer gestörten Proliferation und DNA-Synthese. Die Erythrozyten-Indices und Retikulozyten sind für die Diagnose einer myeloischen Neoplasie nur hinweisend und nicht verlässlich, vielmehr ist die mikroskopische Untersuchung mit Nachweis von dysplastischen Formen, Vorstufen und Blasten als erster diagnostischer Zugang nützlich. Das myelodysplastische Syndrom (MDS) ist eine klonale Erkrankung der hämatopoietischen Stammzellen, welche vorwiegend beim älteren Menschen vorkommt und durch Zytopenien, Dysplasien und ein erhöhtes Risiko hinsichtlich einer Transformation in eine sekundäre akute myeloische Leukämie (AML) charakterisiert ist.16 Für die Diagnose ist eine Knochenmarkspunktion mit konventioneller Zytogenetik zwingend, heutzutage spielt aber auch die Next-Generation-Sequenzierung (NGS) zum Nachweis von Treibermutationen eine wichtige Rolle.17 Mit dem NGS lassen sich vermehrt auch Mutationen bei älteren Patienten nachweisen, die nur milde oder fluktuierende Zytopenien aufweisen und die Kriterien eines MDS nicht vollumfänglich erfüllen.18,19 Damit eröffnet sich ein neues Spektrum von klonalen Stammzellerkrankungen, welches von (fast) normalen Blutwerten («clonal hematopoiesis of indetermined significance») über milde chronische Zytopenien («clonal cytopenia of undetermined significance») und unterschiedliche Stadien des MDS bis hin zur sekundären AML reicht.20 Die Erkenntnis einer altersassoziierten progressiven klonalen Hämatopoiese hat vielschichtige klinische Implikationen, welche zurzeit intensiv erforscht werden. Insbesondere ergibt sich daraus die Möglichkeit, die klonale Evolution in Richtung MDS und sekundärer AML besser zu verstehen und möglicherweise die Progression bereits in früheren Stadien mit geringerer klonaler Komplexität zu verhindern. Weiter finden sich zwischenzeitlich auch zunehmende Hinweise dafür, dass die klonale Hämatopoiese das Immunsystem in komplexer Weise dereguliert und mit zahlreichen systemischen inflammatorisch-degenerativen Erkrankungen des älteren Menschen assoziiert sein kann (Atherosklerose, Wundheilungsstörungen, Myokardremodeling, COPD, Diabetes mellitus, Neurodegeneration).18,21 Zudem finden sich in 20–30% der Patienten mit myeloischen Neoplasien nicht klassifizierbare autoinflammatorische und autoimmunologische Phänomene, die schwierig zu behandeln sind und an welchen die klonalen myeloischen Zellen via Deregulation der immunologischen Homöostase beteiligt sind.22 Ende 2020 wurde eine neue inflammatorische Erkrankung charakterisiert (VEXAS), die auf eine somatisch erworbene Mutation im UBA1-Gen zurückzuführen ist, schwere autoinflammatorische Manifestationen verursacht und mit klonalen Zellen der myeloischen und lymphatischen Reihe assoziiert ist.23 Somit scheinen die Grenzen zwischen entzündlichen und klonalen Erkrankungen zunehmend zu verwischen und es mehren sich die experimentellen Hinweise, dass die entzündliche Interaktion der hämatopoietischen Nische mit dem Immunsystem an der Entstehung und am Progress der klonalen Erkrankungen im Knochenmark beteiligt ist.24 Aus diesen Erkenntnissen werden sich wahrscheinlich neue Therapieansätze ergeben, um die Progression einer klonalen Hämatopoiese in Zukunft verhindern zu können.
Literatur:
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