Grundlagen der Entwicklung und Physiologie des Gleichgewichts
Autorin:
Dr. Katharina Meng
Fachärztin für HNO-Heilkunde, Spezialgebiet neurootologische Schwindelerkrankungen
Wien
E-Mail: ordination@hno-meng.at
Web: https://hno-meng.at
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Zur Aufrechterhaltung von statischem und dynamischem Gleichgewicht haben sich drei Systeme gemeinsam entwickelt: die Propriozeption, das optische und das vestibuläre System. Der Gleichgewichtssinn gehört dabei, nach dem Tastsinn, zu den ältesten Sinnen überhaupt. Das ist auch der Grund, warum er bei vielen zentralen physiologischen Abläufen eine große Rolle spielt.
Keypoints
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Der Gleichgewichtssinn ist neben der Propriozeption entwicklungsgeschichtlich der älteste Sinn.
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Es gibt kritische Entwicklungsphasen, sowohl intrauterin als auch nach der Geburt, die für das Funktionieren der Sinnesorgane und der neuronalen Vernetzung entscheidend sind.
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Die Kenntnis der Physiologie des vestibulookulären Reflexes (VOR) ist zur Beurteilung der Funktion des Gleichgewichtsorganes entscheidend.
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Mit dem Kopfimpulstest überprüft man die Funktion des VOR.
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Die Fixationssuppression dient der Unterdrückung des VOR.
Die Evolution
Evolutionär gesehen ist der Tastsinn der älteste Sinn. Er sicherte einfachen Lebewesen wie zum Beispiel Quallen das Überleben durch Mechanosensoren an deren Oberfläche, welche unabhängig vom Gehirn Schmerzreflexe weiterleiten konnten. Es war und ist auch das einzige System, welches in direkter Beziehung zur Umwelt steht.
Das Vestibulum, das Gleichgewichtsorgan, ist der älteste Teil des Labyrinths. Er entstand also noch vor dem Hörsinn vor ca. 500 bis 600 Millionen Jahren, wobei die genaue Entwicklung des Ohres noch immer ungewiss ist. Ein gemeinsamer Ursprung wird vermutet, es entstanden aber mehrere Entwicklungslinien: Reptilien, Vögel, Menschen usw.
Eine der berühmtesten Theorien ist die sogenannte „Vestibular first“-Theorie. Bei dieser wird angenommen, dass es bei primitiven Lebewesen schon Gravitationssensoren gab und sich aus diesen Statozysten das gesamte Vestibulum entwickelte. Eine andere Hypothese ist die Entwicklung der otischen Plakode aus dem Seitenlinienorgan der Fische.
Das optische System entwickelte sich erst viel später, da der Reiz der Gravitation stets vorhanden war, das Licht aber nur einen periodischen Stimulus darstellte. Es ist bekannt, dass in einem Organismus, in dem mehrere Formen der Orientierung vorhanden sind, diese auch einen gemeinsamen Entwicklungsweg durchlaufen. So kam es durch Ausreifung des optischen Systems zur Entwicklung der Bogengänge und im weiteren Verlauf zum vestibulookulären Reflex. Dies verbesserte die Bewegungsmöglichkeiten und bot einen deutlichen evolutionären Vorteil.1,2
Die ersten primitiven Vestibularorgane finden sich etwa beim Schleimaal (Abb. 1), der seit ca. 400 Millionen Jahren einen einzigen Bogengang aufweist. Bei einfachen Wirbeltieren kam dann ein zweiter Bogengang dazu, bis sich zuletzt bei den Kieferwirbeltieren der horizontale Bogengang entwickelte. Die Cochlea, der jüngste Teil des Innenohres, entstand erst vor ca. 120 Millionen Jahren.3,4
Abb. 1: Schleimaale haben seit Millionen von Jahren nur einen einzigen Bogengang
Durch die rasante Entwicklung der Umgebung im Vergleich zur Entwicklung des Innenohres kamen auch Probleme mit der Verarbeitung von Umweltreizen durch das Gleichgewichtsorgan hinzu. Der Übergang von Wasser zu Land sowie zum aufrechten Gang dauerte insgesamt viele hunderte Millionen Jahre, während modernere Fortbewegungsmittel (Schiffe, Autos, Züge, Flugzeuge etc.) erst in den letzten Jahrhunderten bzw. Jahrzehnten hinzugekommen sind. Diese fordern unsere Beschleunigungssensoren stark heraus, eine evolutionäre Anpassung ist hierfür noch nicht entstanden, weshalb es zum Krankheitsbild der Kinetose kommen kann. Eine „Gewöhnung“ seitens des Gleichgewichtsorgans auf diese besonderen Reize wird wahrscheinlich noch sehr lange dauern.
Die Entwicklung beim Menschen
Wir wissen, dass es intrauterin eine bestimmte Reihenfolge der Entwicklung der Sinne gibt, wobei das somatosensorische System bereits in der 7. Schwangerschaftswoche (SSW), der Geruch und Geschmack zwischen der 8. und 14. SSW, das vestibuläre System in der 16., das auditive ab der 20. und das visuelle System ab der 32. SSW ausgebildet wird. Die Otolithenorgane sind dabei von Anfang an funktionsfähig.5,6
Während und nach der Schwangerschaft gibt es sogenannte „critical periods“ (kritische Phasen) für die Sinnesentwicklung. Es sind Umweltreize zur korrekten Vernetzung und Funktion der Sinne nötig. Bei untypischen oder fehlenden Reizen wird das System ungenügend, fehlerhaft oder gar nicht funktionieren. Die Forscher David Hubel und Torsten Wiesel bekamen 1981 für diese Entdeckung den Nobelpreis. Sie konnten bei Katzen zeigen, dass Lichteinstrahlung für die Augen in den ersten 3 Monaten essenziell für die neuronale Verschaltung ist. Klebt man beide Augen nach der Geburt für diesen Zeitraum zu, ist es der Katze danach für den Rest ihres Lebens nicht mehr möglich, zu sehen. Die Sinnesentwicklung ist nach diesem Zeitraum abgeschlossen.7
So wie es „critical periods“ für das Sehen gibt, wurden nach und nach diese Phasen für alle weiteren Sinne beschrieben. Beim vestibulären System gibt es bereits intrauterin solch eine kritische Entwicklungsphase. Stephen Moorman konnte 2002 in Zusammenarbeit mit der NASA bei Zebrafischen nachweisen, dass eine Reduktion des Gravitationsreizes ca. 30 Stunden nach der Befruchtung zu einem unwiederbringlichen Defizit desvestibulookulären Reflexes (VOR) führt.
Die Entwicklung des vestibulären Systems ist für die Raumfahrt besonders interessant. Immer wieder gibt es Versuche mit Ratten im Weltraum, um zu erkennen, ob sich Otolithenorgane bei Hypogravitation intrauterin anders entwickeln. Und tatsächlich wurde 2008 gezeigt, dass Otolithen bei Ratten, welche im Weltall gezeugt und aufgewachsen sind, größer waren als in der Kontrollgruppe.8 Wann sich diese kritischen Phasen beim Menschen abspielen, ist nicht bekannt, da solche Versuche selbstverständlich ethisch nicht vertretbar sind.
Die Entwicklung des VOR nach der Geburt wurde allerdings schon eingehend erforscht und untersucht. Demnach ist heute klar, dass sich dieser wichtige Reflex bis zum 12. Lebensjahr stetig weiterentwickelt. Es gibt mehrere Meilensprünge der Gleichgewichtsentwicklung, der VOR ist definitiv einer davon.9
Die Entwicklung des vestibulookulären Reflexes
Der vestibulookuläre Reflex ist bereits bei der Geburt vorhanden, stabilisiert sich allerdings erst nach 2 bis 3 Monaten, da erst nach dieser Zeit die Fixation mit den Augen möglich ist. Von Geburt an blinde oder sehbeeinträchtigte Kinder haben hier eine verzögerte Entwicklung, was u.a. ein späteres Erlernen der Kopfhaltefunktion zur Folge hat. Der VOR ist demnach wichtig für die normale motorische Entwicklung.
Erst später, wenn Kinder krabbeln lernen und den Übergang zum Stehen schaffen, wird ein weiterer Meilenstein erkennbar: die räumliche Wahrnehmung. Aus der gemeinsamen Entwicklung von utriculärer Bahn und visuellen Reizen lernen die Kinder die Tiefenwahrnehmung.5,9,10
Wie funktioniert der VOR?
Es ist wichtig zu wissen, dass das Gleichgewichtsorgan permanent Informationen ans Gehirn liefert, ein „off“ gibt es nicht. Dabei ist es stets unter visueller Kontrolle, das bedeutet, dass das vestibuläre System dem optischen untergeordnet ist. Unter Wasser haben wir deshalb ohne das Sehen keine Orientierung. Bei widersprüchlichen Informationen „vertraut“ das Gehirn auch immer mehr den Augen – mit ein Grund, warum Virtual-Reality(VR)-Brillen sehr gut funktionieren.
Abb. 2: Der vestibulookuläre Reflex (VOR): Durch die Verbindung der Bogengänge mit den Augenmuskeln kann bei Kopfdrehung nach links das Ziel (blauer Punkt) weiterhin fixiert werden. Die Augen wandern durch Aktivierung des ipsilateralen M. rectus medialis und des kontralateralen M. rectus lateralis zur Zeit der Kopfdrehung nach rechts
Beim vestibulookulären Reflex geht es um die Verschaltung von Augenmuskeln mit den Bogengängen und Makulaorganen des Vestibularapparates. Jeder Bogengang ist mit bestimmten Augenmuskeln koordiniert, z.B. ist der horizontale Bogengang mit dem Musculus rectus medialis ipsilateral und mit dem Musculus rectus lateralis kontralateral verbunden. Dreht man den Kopf in dieser Ebene, werden diese Muskeln aktiviert und es ist möglich, trotz Kopfbewegung einen Punkt zu fixieren (Abb. 2).
Überprüft wird die Funktion mit dem Bedside-Kopfimpulstest, bei dem der Kopf des Patienten/der Patientin schnell nach rechts oder links gedreht wird, während diese:r einen Punkt (typischerweise die Nase des Untersuchers/der Untersucherin) fixiert (Abb. 3). Ist ein Gleichgewichtsorgan gestört, kann es zu einem typischen Augenzittern (Nystagmus) kommen. Die Latenz dieses Reflexes ist nur wenige Millisekunden, während die visuelle Stabilisierung zehnmal so lange dauert.
Abb. 3: Überprüfung des VOR mittels Kopfimpulstest. Der Kopf wird schnell nach rechts oder links gedreht, der Patient/die Patientin muss dabei die Nase des Untersuchers/der Untersucherin fixieren. Eine Korrektursakkade deutet auf einen Ausfall des Gleichgewichtsorganes hin. Kann die Nasenspitze fixiert werden, funktioniert der VOR
Deshalb ist das Gleichgewichtssystem vor allem für die Geschwindigkeit in unseren Bewegungen essenziell. Die Fähigkeit, den vestibulookulären Reflex zu unterdrücken, nennt man Fixationssuppression. Es ist uns dadurch möglich, bei gleichzeitiger Kopfbewegung ein Ziel, welches sich bewegt, zu fixieren.
Alle Informationen, die für die Balance wichtig sind, werden im Gehirn verarbeitet. Es werden sämtliche Inputs mit bereits gespeicherten Geschwindigkeitsinformationen verglichen und mithilfe eines „inneren Modells“, des „velocity storage“, bewertet, ggf. auch korrigiert. So werden vermeintliche Fehler der Bogengänge durch Adaptierung bei konstanter Geschwindigkeit ausgeglichen.11
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kenntnis der Grundlagen der physiologischen Eigenschaften notwendig ist, um bestimmte Krankheitssymptome richtig zuordnen zu können. Dabei sind die Beurteilung der Augenbewegungen, insbesondere das Auftreten eines Nystagmus, und die Funktionsüberprüfung des vestibulookulären Reflexes mithilfe des Kopfimpulstests (Abb.3) von entscheidender Bedeutung.
Die Genese des Gleichgewichts beim Menschen ist ein dynamischer Prozess, der bereits vor der Geburt beginnt und viele Jahre dauert, bis er abgeschlossen ist. Das gleichzeitige Funktionieren anderer Sinne, vor allem des optischen, ist essenziell für eine normale motorische Entwicklung.
Literatur:
1 Duncan JS, Fritzsch B: Evolution of sound and balance perception: innovations that aggregate single hair cells into the ear and transform a gravistatic sensor into the organ of corti. Anat Rec 2012; 295: 1760-74 2 Mackowetzky K et al.: Development and evolution of the vestibular apparatuses of the inner ear. J Anat 2021; 239: 801-28 3 Manley GA: Evolutionary paths to mammalian cochleae. J Assoc Res Otolaryngol 2012; 13(6): 733-43 4 Le Gall A et al.: The critical role of vestibular graviception during cognitive-motor development. Behav Brain Res 2019; 372: 112040 5 Božanić Urbančič N et al.: Appropriate vestibular stimulation in children and adolescents – aprerequisite for normal cognitive, motor development and bodily homeostasis – areview. Children 2023; 11(1): 2 6 Lagercrantz H, Changeux JP: The emergence of human consciousness: from fetal to neonatal life. Pediatr Res 2009; 65: 255-60 7 Hubel DH, Wiesel TN: The period of susceptibility to the physiological effects of unilateral eye closure in kittens. J Physiol 1970; 206(2): 419-36 8 Moorman SJ et al.: A critical period for functional vestibular development in zebrafish. Dev Dyn 2002; 223(2): 285-91 9 Johnson CP, Blasco AP: Infant growth and development. Pediatr Rev 1997; 18(7): 224-42 10 Lohaus A, Vierhaus M: Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. 4. Auflage. Heidelberg: Springer, 2019 11 Bertolini G et al.: Is vestibular self-motion perception controlled by the velocity storage? Insights from patients with chronic degeneration of the vestibulo-cerebellum. PLoS One 2012; 7(6): e36763
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