«Eine Helmpflicht wäre nicht zielführend»
Unser Gesprächspartner:
PD Dr. med. Christopher Spering
Oberarzt, Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, Universitätsmedizin Göttingen. Leiter der Sektion Prävention der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
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Verunfallte E-Bike-Fahrer erleiden ähnlich schwere Hirnverletzungen wie Motorradfahrer, so eine aktuelle Studie.1 Warum man diese Ergebnisse kritisch sehen muss, erklärt Dr. med. Christopher Spering aus Göttingen.
Herr Dr. Spering, brauchen wir eine Helmpflicht für E-Bike-Fahrer?
C. Spering: Ich halte das nicht für zielführend, denn wenn man keinen Helm trägt, müsste das als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Anders als ein Anschnallgurt ist Helm aber nicht gleich Helm. Trägt ein junger E-Bike-Fahrer beispielsweise den Helm seines Grossvaters, der weder passt noch entsprechend modern designt ist – also mit Okzipital- und Temporalverstärkung –, zählt er als behelmt und die Polizei kann ihm nichts vorwerfen. Aus unfallmedizinischer Sicht wäre der junge Mann aber nicht vor schweren Hirnverletzungen geschützt. Womöglich im Gegenteil: Aus einer kleinen australischen Studie haben wir Hinweise, dass Fahrradfahrer, die Helm tragen, sich sicherer fühlen und deshalb risikoreicher fahren.2
Wenn der Helm passt, kann er aber vor schweren Hirnverletzungen schützen?
C. Spering: Jein. Es kommt auf das Design des Helmes an. Allein durch die Umfangserhöhung des Kopfes durch einen Helm kann – bei Nichtverwendung eines Vollintegralhelms – der Hebelarm auf die Halswirbelsäule steigen. Damit kann zwar ein Schädel-Hirn-Trauma gemildert werden, aber im schlimmsten Fall kann die Halswirbelsäule schwer verletzt werden. Deshalb sehe ich auch die Studie kritisch, weil sie suggeriert, dass E-Biker mit Helm das gleiche Risiko für Hirnverleztungen hätten wie normale Velofahrer.
Die Studie hat doch aber gezeigt, dass das so ist?
C. Spering: Es gibt Fehlerquellen. So geht beispielsweise aus der Studie nicht hervor, welche Art von normalem Velo die Teilnehmer genutzt haben. Ein langsames Stadtvelo birgt möglicherweise ein viel geringeres Risiko als ein Rennrad oder ein Mountainbike. Auch ist nicht klar, ob die Betroffenen gemütlich über Land gefahren sind, was ein geringeres Verletzungsrisiko bergen könnte, als wenn sie sich in der Stadt bewegt haben. Wir erfahren nichts über den Unfallmechanismus, ob es ein Zusammenprall mit anderen Verkehrsteilnehmenden war, ein Alleinunfall oder gar ein Aufprall gegen einen LKW oder eine Tram. Zudem bleibt unklar, welche Art, Qualität und Alter der getragene Helm aufwies. Ausserdem sind die Gruppen mit 740 Velofahrern, 48 E-Bikern und 280 Motorradfahrern ziemlich heterogen. Die Gruppengrössen machen einen sinnvollen Vergleich fast unmöglich und bergen die Gefahr eines Bias. Abgesehen davon waren die E-Biker deutlich älter als Velo- und Motorradfahrer. Ich frage mich, ob man tatsächlich den Faktor der E-Bike-Nutzung untersucht hat oder allenfalls die Auswirkungen einer Antikoagulation. Dass bei allen Formen von intrakraniellen Blutungen am häufigsten E-Biker betroffen waren, macht mich stutzig.
Sie sind ziemlich kritisch, was die Studie angeht.
C. Spering: Die Datenerhebung ist sehr gelungen. Im Detail bleiben für mich aber mehr Fragen offen, als am Ende beantwortet werden können. Das allerdings ist auch bereits ein Ergebnis für sich. Denn wir sollten zunehmend kritisch hinterfragen, ob der Trend der E-motorisierten Zweiradnutzung innerhalb dieser enormen Heterogenität zuträglich für eine sichere Mobilität ist. Massnahmen zur Verkehrsführung könnten durchaus effektiver sein als das Tragen irgendeines Helms.
Würde ein generelles Tempolimit von 30km/h in der Stadt nützen?
C. Spering: Beim Thema E-Bike geht es nicht nur um Spitzengeschwindigkeiten. Das Problem ist, dass Menschen mit dem geführten Velo «überfordert» sind. Während zum Beispiel ein 70 Jahre alter Mensch auf einem konventionellen Velo vielleicht nicht mehr eine Geschwindigkeit von 20km/herreicht, ermöglicht ein E-Bike diesem Menschen, mit deutlich weniger eigener Kraft plötzlich unbekannte Geschwindigkeiten zu erreichen. Zunächst fühlt man sich mit mehr Vorschub sicher, dies kann jedoch verheerend sein, wenn man in eine kritische Situation gerät. Dann überfordert die elektrische Unterstützung, die mehr Geschwindigkeit zulässt, als es die eigene Muskelkraft zu dem Zeitpunkt erlaubt hätte. Mein Fazit bleibt: Jeder Verkehrsteilnehmer muss Eigenverantwortung zeigen. Und dazu gehört womöglich auch, sich als Senior einzugestehen, dass ein E-Bike zu schnell für einen ist.
Literatur:
1 Rauer T et al.: Eur J Trauma Emerg Surg 2024, online 9.4.2024. doi: 10.1007/s00068-024-02510-1. 2 Gerhard R et al.: Journal of Transport and Health 2023; 33: 101709
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