Mit Blick auf Amerika

«Wir haben Sorge, dass wir vor einer neuen Überdosiskrise stehen»

Nach ihrem erfolgreichen Debüt 2023 in Wien fand die zweite Harm-Reduction-DACH-Konferenz dieses Jahr nicht weniger erfolgreich in Basel statt. Wir baten die Organisatoren PD Dr. med. Marc Vogel und Dr. med. Thilo Beck zum Gespräch über den Stellenwert der Suchtbehandlung in der Schweiz, Prognosen über künftige Entwicklungen in Europa und darüber, wie Mediziner:innen in der Betreuung von Suchterkrankten unterstützt werden können.

2023 war der Tabakkonsum das zentrale Thema der Harm-Reduction-Konferenz. Dieses Jahr standen Harm-Reduction-Ansätze im Zusammenhang mit Heroinkonsum im Mittelpunkt. Warum wurde dieses Thema gewählt?

M. Vogel: Wir begehen 2024 das 30-Jahre-Jubiläum der heroingestützten Behandlung in der Schweiz. 1994 wurde hier mit den ersten heroingestützten Behandlungen gestartet, als Antwort auf das ungenügende Ansprechen auf die bisherige Medikation mit Methadon. Das waren damals sehr erfolgreiche Behandlungsversuche, die international grosses Interesse gefunden haben. Wir haben dieses Jubiläum zum Anlass genommen, die Erfolge der letzten dreissig Jahre in der Schweiz aufzuzeigen. Gleichzeitig wollten wir aber auch erheben, wo es noch Verbesserungspotenzial gibt.

In den Vorträgen wurden auch die Harm-Reduction-Ansätze ausserhalb der Schweiz beleuchtet. Was ist Ihnen im Ländervergleich aufgefallen?

M. Vogel: Ich muss sagen, wenn wir die Ansätze der heroingestützten Behandlung in der Schweiz mit anderen Ländern vergleichen, haben wir Vorbildfunktion. Der Rahmen, in dem die Behandlung in der Schweiz durchgeführt wird, ist in keinem der anderen Länder so gut etabliert.

Es gibt aber natürlich auch Herangehensweisen in der Behandlung von Heroinabhängigen in anderen Ländern, die wir in der Schweiz so nicht kennen. So wird beispielsweise in den Niederlanden pharmazeutisches Heroin, Diacetylmorphin, zum Rauchen angeboten und wir haben über die Hydromorphinbehandlung in Wien gehört, die in einem gewissen Sinn eine Weiterentwicklung der heroingestützen Behandlung mit einer weniger stigmatisierten Substanz ist.

Mit dem Vortrag über die Fentanylkrise in Nordamerika haben wir bewusst einen Akzent zu den zukünftigen Bedrohungen gesetzt. Wir haben Sorge, dass wir in der Schweiz vor dem Beginn einer neuen Überdosiskrise stehen, wenn hochpotente Opioide, die in den USA für massive Probleme sorgen, auch zu uns kommen.

Ist die Schweiz bzw. Europa auf diese drohende Krise vorbereitet?

T. Beck: Ich gebe zu, ich bin sehr ungeduldig, wenn ich sehe, wie sich die Schweiz im Hinblick auf eine mögliche Welle der hochpotenten Opioide vorbereitet. Ich habe das Gefühl, solange das Problem bei uns hier nicht virulent ist, sind die Menschen nicht sonderlich besorgt. Das war mit ein Grund, durch ein Symposium deutlich zu machen, wie dramatisch der Verlauf in Amerika ist und dass wir das ernst nehmen müssen. Meiner Meinung nach sind wir in Europa noch nicht genügend darauf vorbereitet.

Welche Aspekte, die bei der Tagung angesprochen wurden, haben Sie persönlich überrascht?

M. Vogel: Ich war tatsächlich überrascht über die Berichte aus Deutschland zum Fentanyl und dass zum Beispiel in Hamburg relativ viele der getesteten Proben mit Fentanyl versetzt waren. Das hat bei mir auch nochmals dieses Gefühl der Dringlichkeit verstärkt.

Es gab viel neuen Input zur Behandlung des Crackgebrauchs. Die Behandlungsansätze aus einer Kombination von psychosozialen Interventionen und innovativen medikamentösen Therapien fand ich sehr spannend. Und ich denke, was wir hieraus mitnehmen müssen für den Schadenminderungsbereich, ist das Drugchecking, das bei uns in der Schweiz im Moment noch eher auf die Party- und Clubszene beschränkt ist, aber auch in Konsumräumen etabliert werden sollte.

T. Beck: Ich denke, es war wichtig, bei dieser Veranstaltung, die dem Grundgedanken der Schadenminderung gewidmet ist, auch immer wieder die verschiedenen Anwendungsfelder der Schadenminderung zu diskutieren. Was ist in welchem Bereich schadenmindernd? Wo gibt es Potenzial? Welche Bereiche haben wir noch gar nicht auf dem Schirm? Der Partykonsum ist beispielsweise ein wichtiges Thema. In Städten wie Zürich oder Basel, wo eine grosse Ausgehkultur besteht – machen wir da vielleicht zu wenig? Sind die aktuellen Drugchecking-Angebote, die wir implementiert haben, ausreichend?

Ebenso war es wichtig, Ideen zur besseren Versorgung von Menschen mit problematischem Konsum von harten Drogen zu diskutieren – ich denke an den Diskurs über die niederschwellige Versorgung oder das das «Safe supply»-Modell in Kanada. Ich denke, das sind Themen, zu denen wir angesichts der aktuellen Entwicklung weiter im Gespräch bleiben müssen. Es hat mich sehr beeindruckt, wie vielseitig der Input dazu war, und das hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, da dranzubleiben.

Herr Dr. Beck, vor Kurzem gab es eine Presseaussendung, die auf den Treatment-Gap in der Suchtbehandlung aufmerksam gemacht hat.

T. Beck: Es ist ein Faktum, dass nur ein ganz kleiner Teil der Menschen, die eine Behandlung brauchen, sich tatsächlich in Behandlung begibt. In der Regel sind das zehn Prozent.

Es handelt sich dabei um eine zweiseitige Problematik. Einserseits haben wir das Problem auf der Seite der Betroffenen, die sich schämen, eine Behandlung anzunehmen, und die befürchten, in einer solchen Behandlung schlecht behandelt, verurteilt, beurteilt oder diskriminiert zu werden. Auf der anderen Seite haben wir das Problem des Versorgungssystems, das nicht genügend entwickelt ist, um all diese Menschen auch adäquat abzuholen. Dabei geht es einerseits um oft fehlendes Fachwissen und andererseits um eine akzeptierende und wohlwollende Bereitschaft, den/die Patient:in mit ihren Bedürfnissen wahrzunehmen und mit einer entsprechend abgestimmten Therapie auf ihrem Weg zu unterstützen.

Was genau meinen Sie damit?

T. Beck: Damit meine ich, dass man die Art Therapie anbieten sollte, die den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten entspricht und die die Patient:innen auch annehmen können und wollen. Eine Therapie, die auch ein gewisses Mass an Flexibilität mit sich bringt. Wir können nicht erwarten, dass ein einziges Angebot für alle Suchterkrankten passen wird. Wir brauchen unterschiedliche Versorgungsstufen, unterschiedliche Inhalte und auch eine gewisse Vielseitigkeit in der Behandlung, damit wir alle erreichen und diesen Treatment-Gap schliessen können.

Welche Haltung den Behandlungskonzepten gegenüber haben Menschen mit Suchtproblematik?

T. Beck: Viele der Betroffenen setzen tatsächlich «sich in eine Behandlung begeben» mit «endgültig und vollständig aufgeben» gleich. Die Behandlung birgt ein gewisses Stigma und ist quasi «last resort», wenn die Situation hoffnungslos ist. Ich glaube, hier müssen wir ansetzen und darauf hinarbeiten, dass die Therapie anders verstanden wird, nämlich als eine Unterstützung, die auch ganz früh schon in Anspruch genommen werden kann. Wir müssen die Leute besser abholen mit Angeboten, die für sie interessant oder relevant sind.

Ausserdem ist es wichtig, ein grundlegendes Bewusstsein für die Früherkennung zu etablieren. Viele Menschen kommen erst zu uns, wenn der Konsum problematisch und die Suchterkrankung schon chronisch geworden ist. Dann ist sie allerdings auch schwieriger zu behandeln ist. Je früher Suchtpatient:innen Hilfe suchen, umso einfacher ist die Therapie und umso besser sind die Erfolgschancen.

Wo holt man sich dann diese Hilfe?

M. Vogel: Die erste Anlaufstelle ist meist der Allgemeinmediziner/die Allgemeinmedizinerin. Wir stellen aber fest, dass bei den Hausärzt:innen oft nur ein bedingtes Know-how besteht, was die Beratung und Behandlung von Menschen mit problematischem Konsum betrifft. Das ist besonders kritisch, wenn man bedenkt, dass Allgemeinmediziner:innen sehr oft mit dem Störungsbild des problematischen Konsums zu tun haben. Das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt.

Wie könnte man dem entgegensteuern?

M. Vogel: Wir müssen Mediziner:innen in Ausbildung früher und besser darauf vorbereiten, mit den Problemstellungen der Suchtbehandlung umzugehen.

Was sollte da gelehrt werden?

M. Vogel: Ich denke, an erster Stelle steht die Schaffung von Bewusstsein für Suchterkrankungen und Substanzkonsumstörungen, die Vermittlung von Wissen zu deren Definion und den Behandlungsmöglichkeiten. Darüber hinaus sollten schon während des Studiums die notwendigen Softskills trainiert werden, um Berührungsängste und Stigmata abzubauen. Im Idealfall gelingt es uns dabei, das Interesse der Medizinstudierenden für die Suchttherapie zu wecken, sodass sie in ihrer späteren Berufstätigkeit gegenüber den Betroffenen vorurteilsfrei, empathisch und wertschätzend auftreten.

Wie kann man Empathie und Vorurteilsfreiheit vermitteln?

M. Vogel: Wir bemühen uns, bereits in Seminaren den Kontakt mit den Patient:innen herzustellen. Wir haben beispielsweise Unterricht in Kleingruppen, wo Patient:innen sich für Gespräche zur Verfügung stellen. Ich finde die Ausbildung in motivierender Gesprächsführung essenziell, eigentlich für alle Mediziner:innen, nicht nur für jene, die im Suchtbereich tätig sind. Patient:innen dazu zu bringen, aus eigener Motivation heraus mitzumachen, ist ein ganz wichtiger Bestandteil einer guten Behandlung.

Welche Weiterbildungsangebote gibt es für bereits praktizierende Ärzt:innen?

M. Vogel: Wir bieten Weiterbildungen an, die auch gezielt Hausärztinnen ansprechen, welche Suchtpatient:innen behandeln. Die Kolleg:innen haben jedoch viele Aufgaben und Themen, die sie in ihren Arbeitsalltag integrieren müssen – da versuchen wir natürlich mit guter Qualität und interessanten Angeboten einen Platz in der grossen Agenda zu erkämpfen.

Wir haben beispielsweise festgestellt, dass die Substitutionsbehandlungen bei den Hausärzt:innen in den letzten Jahren zurückgegangen ist und sich die Behandlung in die Institutionen verlagert hat. Das ist eigentlich nicht, was wir wollen, denn unsere Stärke in der Schweiz sind ein breit abgestütztes Wissen unter den Allgemeinmediziner:innen und ein breit abgestütztes Behandlungsangebot bei den Hausärzt:innen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
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