Was wir wirklich wissen und wo der Mythos beginnt
Bericht:
Dr. med. Christine Adderson-Kisser
Medizinjournalistin
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Dass eine chronische Niereninsuffizienz mit dem Vorliegen einer metabolischen Azidose einhergeht, ist längst bekannt. Aber bedingt sie auch ihre Progression? Und kann den Betroffenen mit einer Alkalitherapie wirklich geholfen werden? Fakt oder Mythos – Prof. Dr. med. Nilufar Mohebbi, Zürich, gab im FOMF WebUp Experten-Forum Update Nephrologie einen Überblick über die aktuelle Evidenz aus Studien.
Keypoints
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Die metabolische Azidose (MA) bei chronischer Nierenerkrankung (CKD; nativ oder nach Nierentransplantation) ist mit der Progression der Niereninsuffizienz assoziiert.
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Die Einnahme von Bikarbonat bei CKD mit MA ist sicher, gut verträglich und kostengünstig.
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Für einen positiven Effekt einer Alkalitherapie bei CKD und MA liegt nach derzeitigem Stand der Forschung jedoch (noch) nicht genügend Evidenz vor.
Gibt es eigentlich genug Evidenz für die Behandlung einer metabolischen Azidose bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz? Diese Frage stellte Prof.Mohebbi zu Beginn ihres Vortrags. Dass die metabolische Azidose (MA) bei chronischer Niereninsuffizienz (CKD) eine typische Folgekomplikation ist und eine Bikarbonatsubstitution daher der logische Schluss, sei zwar meist gängige Praxis – doch lohne der Blick in die Studienlandschaft, um genauer zu differenzieren, was davon Fakt und was eher Mythos ist, so die Referentin. Dahingehend beleuchtete sie zunächst die in den letzten Jahren aufgekommene Frage, ob eine MA auch zu einer Progression der CKD führt– sowohl bei CKD in nativen Nieren als auch nach Nierentransplantation.
Verschlechtert die metabolische Azidose die Nierenfunktion?
Bereits 2010 wurde in den USA eine grosse Kohorte (CRIC-Studie1) mit knapp 4000 Personen in den CKD-Stadien 2–4 dahingehend untersucht, welchen Einfluss eine MA (Serum-Bikarbonat <22mmol/l) auf Mortalität, Nierenfunktion und kardiovaskuläre Ereignisse hat. «Hierbei war tatsächlich ganz klar der Zusammenhang zu sehen: Je niedriger das Bikarbonat, desto mehr renale Ereignisse wie Dialysepflichtigkeit treten auf», fasste Mohebbi zusammen. Diese Beobachtung wurde auch 2013 in einer noch grösseren Kohorte mit ähnlichen CKD-Charakteristika (MDRD-Studie2) gesehen. «Das Risiko für ein Nierenversagen war mit einer Hazard-Ratio von 2,76 signifikant erhöht, wenn das Bikarbonat <20mmol/l war. Erst ab Bikarbonatwerten von 26mmol/l und höher fand sich kein erhöhtes Risiko mehr.» Auch in anderen retrospektiven Beobachtungsstudien konnte gezeigt werden, dass eine MA mit einem schlechteren renalen Outcome und zunehmendem Nierenversagen assoziiert ist.
Zum Vorliegen einer MA bei Nierentransplantierten fanden sich in einer Metaanalyse3 mit 6 Einzelstudien recht hohe Prävalenzen, die von 12% bis 58% reichten. «Die Schwankungen der Prävalenzwerte ergeben sich aus der Heterogenität der Studienpopulation, da in den einzelnen Studien unterschiedliche Bikarbonatwerte für die Definition einer metabolischen Azidose herangezogen wurden», erklärte die Referentin. In einer daraufhin durchgeführten und 2017 publizierten multizentrischen retrospektiven Studie4 mit 2318 Nierentransplantierten aus Korea wurde dann gezeigt, dass auch bei noch relativ guter eGFR von 30–60ml/min bereits in 30–70% der Fälle eine MA mit Bikarbonatwerten <22mmol/l auftrat. Auch in puncto Transplantatüberleben über die Zeit fiel auf, dass diejenigen mit niedrigeren Bikarbonatwerten (<22mmol/l) eine signifikant höhere Transplantatverlustrate aufwiesen als Personen mit normalen (22,0–29,9mmol/l) oder höheren Bikarbonatwerten (≥30mmol/l; p<0,001).
«Daraufhin führten wir eine eigene Untersuchung mit Nierentransplantierten in Zürich durch»,5 so Mohebbi. Die Prävalenz der MA (Bikarbonat <22mmol/l) lag in diesem Kollektiv direkt nach der Transplantation bei 63% und pendelte sich im ersten Jahr danach auf Werte um 35% ein. Auch hier zeigte sich eine signifikante Assoziation zwischen niedrigen Bikarbonat- und niedrigen eGFR-Werten (p=0,029). Um die Auswirkungen über längere Zeit beurteilen zu können, wurden die 430 Züricher Patienten schliesslich über einen Zeitraum von 5 Jahren weiter beobachtet.6«Dabei konnten wir sowohl für die Mortalität als auch für den Transplantatverlust zeigen, dass das Risiko für beides erhöht ist, wenn eine MA vorliegt. Pro Anstieg des Serum-Bikarbonats um 1mmol/l nimmt die Hazard-Ratio für den Transplantatverlust um 12% und die für Tod um 21% ab», fasste die Expertin die Studienergebnisse zusammen. «Damit haben wir schon einen starken Hinweis darauf, dass es sich nicht nur um eine Assoziation zwischen der metabolischen Azidose und einer Nierenfunktionsverschlechterung handelt, sondern auch ein Kausalzusammenhang besteht, aber dennoch ist das noch lange kein Beweis», schlussfolgerte sie. Denn es gibt auch eine Studie aus Deutschland mit diesbezüglich negativen Ergebnissen. Unter Verwendung von AOK-Daten7 von Nierentransplantierten konnte zwischen der ICD-Diagnose E87.2 (Azidose) und den Outcome-Parametern Tod, Transplantatverlust und Frakturen keine Assoziation festgestellt werden. Und Personen mit einer Alkalitherapie (gemäss ATC-Code) wiesen sogar eine erhöhte Inzidenz für Transplantatverluste auf.
«In der Zusammenschau aller Studiendaten, die uns bisher vorliegen, kann man die Assoziation der MA mit der Nierenfunktion bei nativer CKD und nach Nierentransplantation definitiv als Fakt betrachten», resümierte Mohebbi. «Und das begründet auch, warum man im nächsten Schritt Interventionsstudien durchgeführt hat– um Hinweise auf Kausalität zu erhalten und den Betroffenen eventuell präventiv helfen zu können.»
Alkalisubstitution bei nativer CKD– Nutzen oder Kosmetik?
Im Tiermodell wurden bereits 1985 bei Ratten unter einer Alkalitherapie weniger tubuläre Dilatationen sowie interstitielle Fibrose im Nierenbiopsat festgestellt.8 Nach Einführung der ACE-Hemmer wurde diese Untersuchung 2004 ebenfalls an Tieren wiederholt.9 Dabei wurden scheinoperierte Tiere (Sham) mit 4 Gruppen nephrektomierter (NFX) Tiere verglichen: NFX alleine, NFX plus Captopril (CAP), NFX plus Alkalitherapie mit Citrat (CIT) und NFX plus CAP plus CIT. Dabei fiel auf, dass die Scores für Glomerulosklerose und interstitielle Tubulusatrophie unter der Kombinationstherapie NFX+CAP+CIT am günstigsten ausfielen, für NFX und Alkalitherapie ohne ACE-Hemmer jedoch ebenfalls gut waren. Daher wurden in der Folge mehrere Studien zur Alkalitherapie bei Menschen durchgeführt.
In einer Metaanalyse von 2021 mit 15 Einzelstudien, in denen der Einfluss einer Alkalitherapie auf die Nierenfunktion betrachtet wurde, konnte trotz Limitationen (teilweise kleine Fallzahlen, kurze Follow-up-Zeiten oder fehlende Placebokontrolle) ein positiver Effekt von Bikarbonat auf die Nierenfunktion festgestellt werden (standardisierte Mittelwertsdifferenz 0,26; 95%CI: 0,13–0,40).10
In einer Zusammenfassung von Interventionsstudien zur Alkalitherapie bei Personen mit CKD von 2021 war die Nierenfunktion in 5 der 6 eingegangenen Studien allerdings nur sekundärer Endpunkt – was die Aussagekraft deutlich einschränkt.11 Die einzige Studie mit renalem primärem Endpunkt (Kreatininverdoppelung, Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie) war die 1:1-randomisierte, multizentrische, kontrollierte Open-Label-Studie UBI aus Italien.12 Von den 795 Studienpatienten mit CKD Stadium 3–5 und Bikarbonatwerten zwischen >18 und <24mmol/l hatten 381 zweimal täglich Bikarbonat mit einem Zielwert von 24–28mmol/l erhalten. Im Vergleich zur Standard-Care-Gruppe konnten über einen Zeitraum von 36 Monaten unter den mit Bikarbonat Behandelten signifikant geringere Raten von Kreatininverdoppelung (p<0,0001), Gesamtmortalität (p=0,016) sowie Dialysepflichtigkeit (p=0,0048) beobachtet werden– bei nachgewiesenem Erreichen der Bikarbonatzielwerte. Aussagelimitierend ist jedoch die Tatsache, dass die Studie nicht placebokontrolliert oder verblindet war und die Behandlung an den unterschiedlichen Zentren nicht nach standardisierten Behandlungsprotokollen erfolgt war. «Zusammengenommen haben wir also sehr viele Daten, die eine Assoziation zeigen, derzeit de facto aber eigentlich nur eine einzige dem Evidenzgrad nach gut durchgeführte Studie bei Personen mit CKD, die einen Hinweis darauf gibt, dass eine Bikarbonattherapie die Progression der Niereninsuffizienz auch wirklich aufhalten könnte. Wenn man das Ganze eher kritisch betrachtet, könnte man sagen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht doch etwas mehr Mythos als Fakt haben und daher definitiv noch mehr Studien brauchen», resümierte Mohebbi.
Auch in der derzeitigen Ausarbeitung des Updates der «Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Management of Chronic Kidney Disease 2012» der KDIGO werde das Kapitel «3.4 Azidose» wohl aufgrund der noch ungenügenden Evidenzlage in den Empfehlungen angepasst werden müssen, so die Expertin.
Alkalisubstitution bei Transplantatnieren– in erster Studie ohne renalen Benefit
Zur Bikarbonattherapie bei Nierentransplantierten lagen bisher weder Studiendaten noch Guidelines vor. «Um hier etwas mehr Evidenz zu erhalten, haben wir in Zürich eine prüferindizierte, prospektive, multizentrische, randomisierte und patientenverblindete Studie mit 242 Probanden durchgeführt– die bisher einzige Interventionsstudie zur Alkalitherapie bei Nierentransplantierten mit CKD und der Nierenfunktion als primärem Endpunkt.» Eingeschlossen wurden Personen mit Bikarbonatwerten ≤22 mmol/l, einer eGFR von 15–89ml/min/1,73m2 und einer stabilen Transplantatfunktion in den vorangegangenen 6 Monaten.13 Von diesen erhielten 120 Natriumhydrogenkarbonat und 121 Placebo über 2 Jahre. In der anschliessenden Intention-to-treat-Analyse zeigte sich zwar ein signifikanter Anstieg des Serum-Bikarbonats in der Verumgruppe, jedoch konnte für den primären Endpunkt, die Kreatinin-basierte eGFR-Slope, kein Unterschied zwischen den Gruppen gesehen werden. Auch in Subgruppenanalysen bzgl. Immunsuppression, Baseline-eGFR-Wert, Baseline-Bikarbonatspiegel oder Transplantatalter zeigte die Alkalitherapie keinen Vorteil.
«Zusammenfassend kann man daher sagen, dass die MA bei Personen mit chronischer Niereninsuffizienz nativer wie auch transplantierter Nieren mit einer Progression der Niereninsuffizienz respektive Abnahme der Transplantatfunktion sowie der Mortalität assoziiert ist. Das ist sicher ein Fakt. Die Behandlung der Azidose, z.B. mit Natriumbikarbonat, ist sicher, gut verträglich und kostengünstig– in keiner der Studien kam es zu relevanten Blutdruckentgleisungen, Volumenüberladungen, Herzversagen, Hospitalisationen oder Ähnlichem. Für eine Aussage darüber, ob die Alkalitherapie die Progression der Niereninsuffizienz aber auch wirklich verlangsamen kann, liegen derzeit jedoch noch nicht ausreichend gute Daten vor und es bedarf dahingehend weiterer Evidenz aus Studien. Und bei Personen mit Azidose nach Nierentransplantation hat die erste randomisiert kontrollierte Studie bisher keinen Unterschied in der eGFR-Slope während einer Behandlungsdauer von zwei Jahren zeigen können», fasste Mohebbi den aktuellen Wissensstand zusammen.
«Zukünftig wird man sicher auch sehen müssen, ob unsere Definition von MA über den Bikarbonatspiegel überhaupt sinnvoll ist oder wir mit Parametern wie Ammonium oder Citrat im Urin vielleicht schon viel früher in der Azidoseentstehung, also noch vor Abfall des Serum-Bikarbonats, ansetzen müssten.»
Quelle:
FOMF WebUp Experten-Forum Update Nephrologie, November 2023
Literatur:
1 Dobre M et al.: Am J Kidney Dis 2013; 62: 670-8 2 Menon V et al.: Am J Kidney Dis 2010; 56: 907-14 3 Messa PG et al.: Nephrol Dial Transplant 2016; 31: 730-6 4 Park S et al.: J Am Soc Nephrol 2017; 28: 1886-97 5 Wiegand A et al.: Kidney Blood Press Res 2019; 44: 1179-88 6 Wiegand A et al.: J Nephrol 2022; 35: 619-27 7 Schulte K et al.: Transplant Direct 2019; 5: e464 8 Nath KA et al.: J Clin Invest 1985; 76: 667-75 9 Gadola L et al.: Kidney Int 2004; 65: 1224-30 10 Hultin S et al.: Kidney Int Rep 2021; 6: 695-705 11 Melamed ML et al.: Kidney Med 2021; 3: 267-77 12 Di Iorio BR et al.: J Nephrol 2019; 32: 989-1001 13 Mohebbi N et al.: Lancet 2023; 401: 557-67
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