Wie smart wird die MS?
Autor:
PD Dr. med. Gabriel Bsteh, PhD
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: gabriel.bsteh@meduniwien.ac.at
Smart Devices sind eine spannende und aktuell viel diskutierte Option für das Monitoring des Krankheitsverlaufs bei Multipler Sklerose – mit enormem Potenzial. Doch die Balance zwischen «Wer viel misst, misst viel Mist» und «Wer nichts misst, findet nichts» ist schwierig, der Teufel steckt im Detail …
Keypoints
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Smart Devices sind mit anderen Geräten oder Netzen verbundene Geräte, die interaktiv und autonom («smart») arbeiten können. Praktische Beispiele sind das Smartphone oder die Smartwatch.
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Bei Multipler Sklerose können Smart Devices dazu verwendet werden, objektive und quantifizierbare Daten (digitale Biomarker) des Krankheitsverlaufs zu schaffen. Unterschieden werden passives (Aufzeichnung von Körperfunktionen ohne spezifische Aufgabenstellung) und aktives Monitoring(spezifische Tests oder Fragebögen).
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Smart Devices bieten gerade in Zeiten des wachsenden Personalmangels enormes Potenzial als komplementäre Informationsquelle mit hoher Granularität. Aktuell sind jedoch die drei wesentlichen Kriterien Validität (messen, was gemessen werden soll), Reliabilität (bei gleichbleibender Funktion gleiche Werte liefern) und Responsivität (Detektion von Änderungen über die Zeit) für Smart Devices bei MS noch nicht nachgewiesen.
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Die klassischen Verlaufsparameter werden daher zumindest in naher Zukunft weiterhin die Basis des Monitorings von MS-Patient*innen darstellen. Es gilt, die Balance zu finden zwischen «Wer viel misst, misst viel Mist» und «Wer nichts misst, findet nichts».
Die Multiple Sklerose (MS) ist gekennzeichnet durch ein hohes Mass an intra- und interindividueller Variabilität in Bezug auf Symptomausprägung, Verlauf und Therapieansprechen. Die klassischen Verlaufsparameter wie die auf der neurologischen Untersuchung beruhende EDSS (Expanded Disability Status Scale) weisen dabei diverse Defizite auf.
Unter anderem wird mit dieser Momentaufnahme oft nicht die reale Alltagssituation/-funktion von MS-Patient*innen dargestellt, viele Symptome werden kaum oder gar nicht beachtet (z.B. Fatigue, Angst, Depression) und die zeitliche Granularität ist selbst bei engmaschigen Kontrollabständen (3–6 Monate) sehr gering. Ein intensiveres klinisches Monitoring mittels Funktionstests (Gang, Kognition etc.) ist überaus personalaufwendig und daher in der klinischen Routine oft nicht realistisch darstellbar.
Von Smart Devices zu digitalen Biomarkern
Vor diesem Hintergrund stellen Smart Devices eine spannende und derzeit viel diskutierte Option dar. Unter Smart Devices werden im Allgemeinen Geräte verstanden, die über verschiedene drahtlose Protokolle (z.B. WiFi, Bluetooth usw.) mit anderen Geräten oder Netzen verbunden sind und bis zu einem gewissen Grad interaktiv und autonom, daher «smart», arbeiten können. Praktische und im Alltag häufig anzutreffende Beispiele sind das Smartphone oder die Smartwatch. In der Medizin können solche Smart Devices unter anderem dazu verwendet werden, objektive und quantifizierbare Daten über physiologische und/oder behaviorale Vorgänge von Patient*innen zu sammeln und damit sogenannte digitale Biomarker zu schaffen.
Smartes Monitoring
Grundsätzlich zu unterscheiden sind dabei eine aktive und eine passive Form des Monitorings. Beim aktiven Monitoring werden die Daten von Patient*innen aktiv generiert. Dabei wird mithilfe der Smart Devices der aktuelle Gesundheitszustand bzw. das Ausmass bestimmter Symptome quantifiziert (meist in Form digitalisierter Fragebögen, die dann automatisiert ausgewertet werden). Eine andere Möglichkeit von aktivem Monitoring sind spezifische Tests bestimmter physischer oder kognitiver Funktionen, die von Patient*innen selbstständig oder unter Anleitung auf Smart Devices durchgeführt werden. Diese basieren meist auf digital adaptierten Formen bereits etablierter klinischer Tests. Beide Möglichkeiten bieten bei entsprechend korrekter Entwicklungsmethodik die Vorteile standardisierter Tests. Nachteile sind die artifizielle Testsituation, die durch die Applikationsfrequenz limitierte zeitliche Auflösung und die Abhängigkeit von Compliance und Technikaffinität der Patient*innen.
Das passive Monitoring beruht auf einer Aufzeichnung von Körperfunktionen ohne spezifische Aufgabenstellung, d.h. im Alltag der Patient*innen. Meist werden dafür sogenannte Biosensoren verwendet, die Funktionen in ein digitales Signal umwandeln und damit messbar machen. Die häufigste Form von Biosensoren sind Akzelerometer, die Richtung und Ausmass von Beschleunigungsvektoren messen und beispielsweise in Schrittzählern zum Einsatz kommen. Das passive Monitoring bietet eine sehr hohe zeitliche Auflösung, spiegelt die Alltagssituation wider und verlangt keinen wesentlichen Aufwand von Patient*innenseite. Allerdings wird eine gewaltige Menge von Daten generiert, woraus sich grosse Herausforderungen in Bezug auf datenschutzrechtliche Aspekte, Datenverarbeitung und deren administrative Bewältigung und vor allem in Hinblick auf praktische Interpretation und Interpretierbarkeit ergeben.
Digitale Biomarker und ihre Pitfalls
Wie für jeden Biomarker müssen auch für digitale Biomarker grundsätzlich drei wesentliche Kriterien erfüllt sein, um klinisch als Verlaufsparameter anwendbar zu sein. Es muss die Validität belegt sein, d.h., der Biomarker muss tatsächlich das messen, was gemessen werden soll. Ein Abfall in der Smartphone-Schrittzahlmessung kann beispielsweise durch eine MS-Progression verursacht sein, aber ebenso durch einen verstauchten Knöchel oder einen Wellness-Urlaub. Genauso muss die Reliabilität ausreichend sein, d.h., bei gleichbleibender Funktion muss auch der digitale Biomarker innerhalb einer möglichst geringen Schwankungsbreite die gleichen Werte liefern. Bei aktivem Monitoring ist hier auch die Auswirkung von Übungseffekten zu berücksichtigen.
Der mitunter wesentlichste Faktor ist jedoch die Responsivität, d.h. das Potenzial eines Biomarkers, Änderungen über die Zeit zu detektieren. Dabei sind zwei Parameter essenziell: die minimale nachweisbare Änderung («minimal detectable change», d.h. die geringste Änderung im Biomarker, die von einer Messungenauigkeit unterschieden werden kann) und die klinisch relevante Änderung («clinical relevant change», d.h. die geringste Änderung im Biomarker, die mit einer für Patient*innen spürbaren und relevanten Änderung einhergeht).
Z.B. ist die Schrittzahl als digitaler Biomarker nur anwendbar, wenn klar definiert ist, wie grossdie Änderung der täglichen Schrittzahl sein und über welchen Zeitraum sie gehen muss, um 1) von normalen Schwankungen und Messungenauigkeiten unterscheidbar und 2) für die Patientin/den Patienten von Bedeutung zu sein.
Smart Devices – was erwartet uns in naher Zukunft?
In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von Smart-Device-basierten Monitoringtools entwickelt. Obwohl ein rezenter systematischer Literaturreview das vorliegende Evidenzniveau für ihren klinischen Nutzen als sehr niedrig bis niedrig klassifiziert, werden einige dieser Applikationen bereits frei zum Nutzen gegenüber Patient*innen propagiert und vertrieben. Dies ist insofern besonders problematisch, als aufgrund der insuffizienten Daten zu Reliabilität, Validität und Responsivität aktuell keinerlei belastbare klinische Schlüsse aus den digitalen Biomarkern gezogen werden können. Dennoch bieten Smart Devices und die damit verbundenen Möglichkeiten digitaler Biomarker enormes Potenzial als komplementäre Informationsquellen, die erstmals ein wirklich multimodales Monitoring der MS mit hoher Granularität auch in Zeiten des wachsenden Personalmangels realistisch erscheinen lassen. Voraussetzung dafür ist jedoch ihre methodisch saubere Entwicklung in grossen Validierungsstudien, die der Heterogenität von MS-Populationen Rechnung tragen und entsprechend auf die Entwicklung möglichst präziser Grenzwerte für detektierbare und relevante intraindividuelle Änderungen fokussieren. Die klassischen Verlaufsparameter werden zumindest in naher Zukunft weiterhin die Basis des Monitorings von MS-Patient*innen darstellen. Gerade in deren Interesse gilt es jedoch, nicht nur für die digitalen Biomarker die Balance zu finden zwischen «Wer viel misst, misst viel Mist» und «Wer nichts misst, findet nichts».
Literatur:
beim Verfasser
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