Digitale Innovationen verändern die MS
Bericht:
Dr. med. Alexander Kretzschmar
Die an der ECTRIMS-ACTRIMS-Jahrestagung 2023 vorgestellten Innovationen in der digitalen (Verlaufs-)Diagnostik der MS zeigen eine schier überwältigende Fülle an Ideen, Studien zur Entwicklung von Biosensoren als Wearables sowie Informationsplattformen im Internet – Web-Adressen- und Apps zur Ärzt:innen-Patient:innen-Kommunikation, die in Entwicklung oder bereits aktiv sind oder schon wieder deaktiviert sind, etwa weil die Finanzierung nicht gewährleistet war. In der MS-Forschung gibt es interessante Ansätze zum Monitoring der unabhängig von Schüben verlaufenden MS-Progression (PIRA).
Viele Informationen gehen zwischen den Arztbesuchen verloren: wie sich die Patient:innen fühlen, welche Symptome sie haben, wie sich ihre Symptome zeigen, wie sich ihre Behinderung, Erschöpfung und Kognition verändern. Digitale Helfer sollen auf allen Versorgungsebenen helfen, die MS besser zu diagnostizieren und zu monitorieren, und anhand einer möglichst präzisen Prognose zu einer personalisierten Therapie beitragen. Die Floodlight®-App ist hier ein Pilot-Multifunktions-Tool, meinte Prof. Andrea Tacchino, Genua.1 Digitale Tools der ersten Generationen wie etwa elektronische Gehmatten zur Detektion subtiler Gangstörungen oder Tests, die von den Patient:innen selbst über Smartphone-Apps durchgeführt werden, werden in ihrem Funktionsumfang erweitert und an neue digitale Messmöglichkeiten angepasst. Ein Vorteil der digitalen Innovationswelle ist auch, dass einst sehr teure Messgeräte preisgünstiger verfügbar sind und dadurch auch vermehrt ausserhalb der klinischen Forschung eingesetzt werden könnten.
Welche der digitalen Innovationen in der MS-Forschung überleben werden, hängt für Tacchino von einigen zentralen Faktoren ab:
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Reproduzierbarkeit der Ergebnisse
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Externe Validierung
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Kosten der digitalen Helfer
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Harmonisierung der experimentalen Designs
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Harmonisierung der Studienberichte
Viele neue Ideen und Ansätze
Die Palette der in Mailand vorgestellten Projekte ist vielversprechend. Einige Beispiele: Eine optimierte Testung der Gangfunktion via Smartphone wurde von einer israelischen Arbeitsgruppe entwickelt. Sie ist inzwischen zusammen mit anderen Funktionen auf der Mon4t®-App verfügbar.2 Eine kanadische Arbeitsgruppe will die Gangfunktion näher an der Extremität messen und entwickelte dafür einen Sensor, der in die Einlegesohlen von Schuhen eingebettet ist.3 Deutsche Neurolog:innen konnten mithilfe digitaler sprachbasierter Software kognitive Beeinträchtigungen frühzeitig erkennen. Dazu wurden die Gespräche von 76 MS-Patient:innen und 93 Kontrollen während der Durchführung der «Cookie Theft Picture Description Task» aufgezeichnet und ausgewertet. Mit dem Test, der auch in der Alzheimer-Forschung eingesetzt wird, können ausgewählte Sprachvariablen wie etwa die semantische Verarbeitungsfähigkeit getestet werden. Mit der Studie konnten die Kontrollen anhand signifikant besserer Ergebnisse (p<0,001) von den MS-Patient:innen differenziert werden.4
Medizinische Exoskelette haben inzwischen auch Eingang in die MS-Forschung und -praxis gefunden. Ein erstes Exoskelett wurde von der US-Zulassungsbehörde FDA für die Rehabilitation von MS-Patient:innen zugelassen. Mit Hilfe dieser Exoskelette kann man die Funktion sowie die kognitiven Fähigkeiten zur Koordination der oberen und unteren Extremitäten messen, demonstrierte eine kanadische Arbeitsgruppe mit ihrem interaktiven Roboter-Modell «Kinarm».5
PIRA-Monitoring mit «next-generation digital tools»
Die optische Kohärenztomografie (OCT) erlebt derzeit eine Renaissance nicht nur beim klinischen MS-Verlaufsmonitoring. Die OCT ist laut Prof. Jennifer Graves, San Diego, auch ein geeignetes Instrument zum Monitoring der subklinisch verlaufenden PIRA-Pathologie. Die Messungen korrelieren sehr gut mit der Atrophie der grauen Hirnsubstanz und sind einfach durchführbar. Mit der Messung der Augenfolgebewegungen, etwa verlangsamter Sakkaden, lassen sich subtile zerebelläre Dysfunktionen quantifizieren.6,7
Sakkadische Störungen wie Antisakkaden sind ein Zeichen einer kognitiven Dysfunktion, die sich im SDMT («Symbol Digit Modalities Test») oder PASAT («Paced Auditory Serial Addition Test») verifizieren lässt.8,9
Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung im Wandel
Prof. Klaus Schmierer beschäftigte sich mit der Frage, wie sich die Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung mit der zunehmenden Integration digitaler Helfer in das MS-Management verändert.10 Für MS-Patient:innen wird das Smartphone in Zukunft zu dem zentralen Kommunikationstool werden, wenn es um ihre Erkrankung geht:
● Informationen über die Erkrankung und bidirektionale Kommunikation auf seriösen Plattformen von Ärzt:innen/MS-Zentren und betroffenen MS-Patient:innen
● Automatisiertes Sammeln von Vital- und Funktionsparametern durch Wearables und Smartphones, auch für die Langzeitanwendung über 12 Monate und länger11
- Qualitative Gehstreckenmessung (Gehgeschwindigkeit, -rhythmus, Gangsymmetrie und Gleichgewicht, Oberflächen-EMG zur Testung der Extremitätenfunktion)
- Tagesaktivitäten (Fatigue-Monitoring)
- Schlafüberwachung
- Kardiale Funktionsparameter
● Aktive Datengenerierung mittels Funktionstests durch die Patient:innen selbst mithilfe von Apps, beispielsweise zur Extremitätenfunktion und -koordination, Kognitionstestung und -rehabilitation und psychologischen Befindlichkeit
● Digitales strukturiertes Tagebuch
● Datenaustausch mit dem behandelnden Arzt/der behandelnden Ärztin
● Einsicht in die elektronische Krankenakte
● Besserer Zugang zu klinischen Studien
● … und vieles mehr
Die Implementierung digitaler Helfer in der Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung wird von den meist jungen Patient:innen sehr gut angenommen. Optimierungsbedarf besteht darin, die Patient:innen langfristig zur Mitarbeit zu motivieren. Die Patient:innen verlieren aber mit der Zeit das Interesse, wenn sich nichts verändert, vor allem wenn keine Verbesserung ihrer Lebensqualität eintritt, berichtete eine kanadische Neurologin. Umso wichtiger ist es, dass MS-Zentren Möglichkeiten zur aktiven Kommunikation mit ihren Patient:innen schaffen, betonte Schmierer.
Quelle:
9. ECTRIMS-ACTRIMS-Jahrestagung vom 10. bis 13. Oktober 2023 in Mailand
Literatur:
1 Tacchino A: Wearable devices. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Oral Session New technologies for MS patients 2 Regev K et al.: Smartphone-based gait assessment: a promising digital tool for multiple sclerosis monitoring. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Poster P1425 3 Chan V et al.: Gait activity recognition using instrumented shoe insoles in persons with and without multiple sclerosis. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Poster 1451 4 Garthoff S et al.: Linguistic features identify MS-related early cognitive impairemt in narrative speech. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Poster P1423 5 Mastantuono I et al.: Assessment of the cognitive-motor interference (CMI) in Patients with Multiple Sclerosis (PwMS) using an interactive robotic system (Kinarm). ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Poster P1421 6 Graves J et al.: Optical coherence tomography in multiple sclerosis. Semin Neurol 2019; 39(6): 711-7 7 Giacomini P et al.: A novel eye movement biomarker application for monitoring multiple sclerosis disease progression. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Poster P1427 8 Fielding J et al.: Longitudinal assessment of antisaccades in patients with multiple sclerosis. PLoS One 2012; 7(2): e30475 9 Graves J: Clinical and paraclinical measures. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Oral Session PIRA and silent progression 10 Schmierer K: The patient-healthcare worker relationship in the e-era. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Oral Session New technologies for MS patients 11 Akhbardeh A et al.: Novel MS vital sign: multi-sensor captures upper and lower limb dysfunction. Ann Clin Transl Neurol 2020; 7: 288-95
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