Anti-CGRP-Antikörper: Wo stehen wir und wo soll es hingehen?
Autor*innen:
Dr. med. Michaela Sieger-Tonder
Dr. med. Reto Agosti
Kopfwehzentrum Hirslanden Zürich
E-Mail: michaela.sieger@kopfwww.ch
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Migräne ist mit einer durchschnittlichen Jahresprävalenz von ca. 16% bei Frauen und ca. 6% bei Männern eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Mit einer Spitzenprävalenz von 25% zwischen 30 und 40 Jahren tritt die Migräne am häufigsten in einem Lebensabschnitt auf, welcher hohe Leistungsfähigkeit im Berufs- und Privatleben fordert. Reduzierte Belastbarkeit aufgrund einer Migräneattacke führt somit zu hohen direkten und indirekten gesundheitsökonomischen und sozioökonomischen Kosten, welche für die Schweiz auf 800 Millionen Franken jährlich geschätzt werden.
Keypoints
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Die Migräne ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen und führt zu enormen gesundheitlichen und sozioökonomischen Belastungen – leider ist sie bis dato bei ca. der Hälfte der Betroffenen unterdiagnostiziert und damit unterbehandelt.
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Mit den CGRP-Antikörpern steht seit fast 5 Jahren eine medikamentöse Prophylaxe zur Verfügung, für welche eine deutliche Überlegenheit hinsichtlich Effektivität und Verträglichkeit im Vergleich zur herkömmlichen Prophylaxe mit Topiramat gezeigt wurde (HER-MES-Studie mit Head-to-Head-Vergleich von Erenumab vs. Topiramat).
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Eine Zulassung der CGRP-Antagonisten (Gepante) wird in der Schweiz 2023 erwartet und ist vielversprechend sowohl hinsichtlich Prophylaxe als auch Akuttherapie der Migräne.
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Der Zugang zu den CGRP-Antikörpern und perspektivisch CGRP-Antagonisten sollte erleichtert werden, sie sollten im Rahmen einer Erstlinientherapie verordnet werden können, wie dies in Deutschland bereits möglich ist.
Obwohl die Migräne keine tödlich verlaufende Erkrankung ist, zeigen epidemiologische Daten eine enorme Krankheitslast auf und weisen die Migräne als eine der Hauptursachen für verlorene gesunde Lebensjahre aus, insbesondere bei jungen Menschen. Frauen sind dabei je nach Altersgruppe mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Insgesamt ist die Migräne weiterhin, trotz ihrer Häufigkeit, bei ca. 50% der Betroffenen unterdiagnostiziert und damit auch zu 50% unterbehandelt, obgleich in den letzten Jahren deutliche Fortschritte in der Behandlung der Migräne erreicht werden konnten und den Betroffenen effektive und gut verträgliche Therapien zur Verfügung stehen.
Den Bedarf für eine Migräneprophylaxe rechtzeitig erkennen
Die akute Migräneattacke wird mit einfachen Analgetika, Mischanalgetika mit Coffein sowie mit Triptanen behandelt. Eine unzureichende Behandlung der Attacken mit den zur Verfügung stehenden Akutmedikamenten ist jedoch nicht selten. Zudem besteht bei häufigem Einsatz der Akutmedikamente die Gefahr der weiteren Chronifizierung und Entwicklung eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch (MÜKS), weswegen in Abhängigkeit von Frequenz und Schwere der Migräneattacken der Beginn einer medikamentösen Prophylaxe indiziert ist. Ein regelmässig geführter Kopfwehkalender ist das beste Instrument, die Entwicklung eines MÜKS früh zu erkennen.
Die Optionen sind zahlreich
Zur medikamentösen prophylaktischen Therapie der Migräne sind als Standardmedikamente Betablocker, das Antiepileptikum Topiramat, der Kalziumantagonist Flunarizin und das Antidepressivum Amitryptilin in der Schweiz zugelassen. Für die chronische Migräne wird neben Topiramat zusätzlich Onabotulinumtoxin A (cave: für die Indikation Migräne in der Schweiz NICHT zugelassen) verwendet. Im Off-label-Gebrauch kommen u.a. die Antiepileptika Valproat und Lamotrigin (caveat Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter), Candesartan und das Antidepressivum Venlafaxin zum Einsatz (Liste nicht vollständig).
Das Armentarium zur Migräneprophylaxe scheint auf den ersten Blick gross zu sein, jedoch scheitert in der klinischen Praxis eine prophylaktische Therapie mit den herkömmlichen medikamentösen Prophylaxen bei mehr als 40% innerhalb der ersten 3 Monate aufgrund relevanter unerwünschter Nebenwirkungen. Deshalb wurden alternative medikamentöse Therapien dringend gesucht und gebraucht
CGRP – ein Schlüsselmolekül in der Pathogenese
Bereits vor über 30 Jahren konnte gezeigt werden, dass das Neuropeptid Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bei der Entstehung der Migräne eine Schlüsselposition einnimmt. Durch die intravenöse Gabe von CGRP lassen sich Migräneattacken auslösen.
CGRP kommt v.a. in den Nervenendigungen der marklosen Nervenfasern (C-Fasern) vor und fungiert hier als potenter Vasodilatator im peripheren und zentralen Nervensystem. Während einer akuten Migräneattacke steigen die CGRP-Spiegel an und sinken mit Abklingen oder erfolgreicher Therapie der Migräneattacke wieder ab.
Tab. 1: Bis dato zur Verfügung stehende monoklonale Antikörper gegen CGRP (Ligand) oder den CGRP-Rezeptor. EM = episodische Migräne, CM = chronische Migräne
Anti-CGRP-Antikörper in der Migräneprophylaxe
Mit Erenumab stand 2018 der erste monoklonale CGRP-Antikörper mit hervorragendem Nebenwirkungsprofil und überzeugender Effektivität zur Prophylaxe der Migräne zur Verfügung. Mittlerweile sind neben Erenumab (Blockade des CGRP-Rezeptors) mit Galcanezumab, Fremanezumab und zuletzt 2022 Eptinezumab drei weitere monoklonale Antikörper zur Prophylaxe der Migräne zugelassen worden. Im Gegensatz zu Erenumab (CGRP-Rezeptor Blockade) wirken die restlichen Antikörper über eine CGRP-Ligandenblockade.
In allen Zulassungsstudien zeigten die monoklonalen Antikörper eine signifikante Überlegenheit gegenüber Placebo, sowohl für die episodische Migräne als auch für die chronische Migräne hinsichtlich der Reduktion der Migränetage pro Monat. Es wurden zudem auch alle sekundären Endpunkte hinsichtlich Lebensqualität und Behinderungsgrad erreicht. Die Wirksamkeit aller vier monoklonalen Antikörper unterscheiden sich in indirekten Vergleichen nicht. Head-to-Head-Vergleiche der einzelnen Antikörper existieren nicht. Im direkten Vergleich von Erenumab mit Topiramat konnte aber mit der HER-MES-Studie eine Überlegenheit von Erenumab nachgewiesen werden. Bei Versagen eines Antikörpers kann nicht darauf geschlossen werden, dass dies ein Klasseneffekt ist und Patienten nicht von einem Wechsel auf einen anderen CGRP-Antikörper profitieren können. Dies gilt insbesondere für den Wechsel von einem Liganden-blockierenden Antikörper (Erenumab) auf einen Rezeptor-blockierenden Antikörper (Galcanezumab, Fremanezumab, Eptinezumab).
Insgesamt ist das Sicherheitsprofil der CGRP-Antikörper mit äusserst geringem Interaktionsrisiko und ohne Hinweise auf schwerwiegende immunvermittelte Reaktion als günstig zu bewerten. Da das CGRP-Neuropeptid aber als potenter Vasodilatator fungiert, ist Vorsicht geboten bei Patienten mit arterieller Hypertonie oder anderen kardiovaskulären Erkrankungen. Insbesondere der Blutdruck sollte vor und unter der Therapie mit CGRP-blockierenden Antikörpern im Auge behalten werden, da sich unter der Therapie durchaus eine Hypertonie manifestieren oder verschlimmern kann.
Auch bei Patienten mit Raynaud-Phänomen (primär oder sekundär) kann eine CGRP-Antikörpertherapie zu einer gravierenden Verschlechterung der Raynaud-Symptomatik bis hin zur Fingergangrän und der Notwendigkeit einer Amputation führen. Insgesamt scheinen (mikro-)vaskuläre Komplikationen aber sehr selten und oft nur transient zu sein. Angesichts der unsicheren Studienlage sollte die Verordnung von CGRP-Antikörpern bei der genannten Patientenklientel vermieden werden.
Gepante – eine wichtige Erweiterung der Akuttherapie
Neben den monoklonalen CGRP-Antikörpern stehen in Zukunft weitere CGRP-spezifische Medikamente in Form von «kleinen Molekülen» zur Verfügung, die direkt als Antagonisten am CGRP-Rezeptor wirken. Rimegepant und Ubrogepant werden in der Therapie der akuten Migräneattacke eingesetzt. Vielversprechend ist zudem, dass Rimegepant neben Atogepant auch in der Migräneprophylaxe Verwendung findet. Die oral anzuwendenden Gepante sind in den USA zugelassen. Weitere Gepante, insbesondere auch eine nasale Applikationsform, sind in der Pipeline. Für Rimegepant wurde eine Zulassungsempfehlung der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) erteilt. Wann eine offizielle Zulassung für den europäischen und Schweizer Markt erfolgen wird, ist noch unklar. Auch die Erstattungsfähigkeit und die Kosten der Therapien sind noch offen. Im Gegensatz zu den monoklonalen CGRP-Antikörpern haben die Gepante aufgrund ihrer Verstoffwechselung über das Cytochrom-P450 CYP3 A4 ein hohes Interaktionspotenzial und sind bei Leberinsuffizienz und schweren Nierenfunktionsstörungen kontraindiziert. Die Verträglichkeit ist analog zu den CGRP-Antikörpern ansonsten gut.
Die Verordnung von Migränetherapien – kein einfacher Weg
Perspektivisch wäre es wünschenswert, dass die Hürden für die Verschreibung respektive Erstattungsfähigkeit durch die Krankenversicherung für die CGRP-Antikörper erleichtert werden. Gleiches gilt für die hoffentlich in naher Zukunft auch für die Schweiz und die EU zur Verfügung stehenden CGRP-Rezeptor-blockierenden Gepante. Die Hürden für eine Erstattung einer CGRP-Antikörpertherapie durch die Schweizer Krankenkassen sind hoch: Nachweis von mindestens 8 starken Migräneattacken pro Monat über einen lückenlos dokumentierten Zeitraum von mindestens 3 Monaten sowie fehlgeschlagene Behandlungsversuche mit mindestens zwei herkömmlichen medikamentösen Prophylaxen. Das heisst für den klinischen Alltag, dass sich Patienten mit hohem Leidensdruck und oft enormer Krankheitslast einer schlechter verträglichen und schlechter wirksamen Therapie (nachgewiesen für Topiramat) aussetzen müssen, bevor die Therapie mit einem CGRP-Antikörper beantragt und eingeleitet werden kann. Immerhin konnte dieser Umstand mit der HER-MES-Studie, einem Head-to-Head-Vergleich von Topiramat und Erenumab, welcher einen beträchtlichen Zusatznutzen von Erenumab gegenüber der Vergleichstherapie mit Topiramat aufzeigen konnte, verbessert werden und seit Oktober 2022 kann Erenumab zumindest in Deutschland unabhängig von Vortherapien bei Patienten mit mehr als 4 Migräneattacken pro Monat verordnet werden.
Auch ist die obligatorische Therapiepause nach 12 Monaten in der Regel mit erneuter klinischer Verschlechterung verbunden und die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die meisten Patienten in der Therapiepause einen Rückfall erleiden, sodass die Therapie wieder aufgenommen werden muss. Für die Wiederaufnahme der CGRP-Antikörpertherapie wird in der Schweiz für eine Rückvergütung seitens der Grundversicherung wiederum der Nachweis von mindestens 8 Migräneattacken innerhalb von 30 Tagen verlangt. Viele Patienten haben verständlicherweise grosse Angst vor den von ihnen als aufgezwungen empfundenen Therapiepausen, sind diese doch mit Schmerzen und erneutem enormem Verlust von Lebensqualität und von Krankheitsstabilität verbunden. Eine viel beachtete retrospektive Schweizer Verlaufsstudie zur verlangten Therapiepause zeigte, dass ca. 95% der Patienten die Therapie mit Erenumab wieder starten mussten. Erfreulicherweise zeigte Erenumab auch nach Wiederaufnahme der Therapie eine zuverlässige Wirksamkeit (Abb.1). Allerdings sind die Sinnhaftigkeit und medizinische Rechtfertigung der auferlegten Therapiepause nach 12 Monaten Behandlungsdauer damit nochmals mehr infrage zu stellen.
Abb. 1: Erenumab zeigt auch nach einer Therapiepause eine zuverlässige Wirksamkeit (modifiziert nach Gantenbein AR et al., 2021)
Abschliessend lässt sich sagen, dass weitere Vergleichsstudien hinsichtlich der Überlegenheit der neuen CGRP-basierten medikamentösen Prophylaxen dringend benötigt werden, damit die Erstlinientherapie mit CGRP-Antikörpern oder perspektivisch auch CGRP-Antagonisten in Zukunft Standard werden kann. Auch sollten Notwendigkeit und Nutzen der weiterhin bestehenden obligatorischen Therapiepause nach 12 Monaten überdacht werden. Viele Migränebetroffene sowie deren berufliches wie privates Umfeld wären dafür unglaublich dankbar.
Literatur:
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