Mikroglia – «Neuroprotektoren» und «Zerstörer» zugleich
Bericht:
Dr. med. Alexander Kretzschmar
Mikroglia gehören zu den wichtigsten zellulären Treibern der ZNS-ständigen MS-Pathogenese. Sie sind aber nicht nur an inflammatorischen neurodegenerativen Prozessen beteiligt, sondern sind auch wichtige Mediatoren der Remyelinisierung. Die bisher verwendete Unterteilung von Mikroglia entweder in «Protektoren» oder «Zerstörer» ist allerdings zu simplizistisch, meinte Prof. Martin Kerschensteiner, München, am ACTRIMS-ECTRIMS 2023.
Mikroglia gehören als multifunktionale Gliazellen zu den Gewebsmakrophagen und machen etwa 5–10% aller Gehirnzellen aus; sie spielen eine zentrale Rolle beim Erhalt der Immunhomöostatase.1 Mikroglia wirken neuroprotektiv über die Beseitigung von Nervenzellfragmenten sowie die Freisetzung antiinflammatorischer Zytokine wie TGF-beta und Interleukin-10 (IL-10).2 Im Rahmen der MS-Pathogenese aktivierte Mikroglia produzieren proinflammatorische Zytokine wie TNF-alpha, IL-6 und IL-1ß. Die Schädigung erfolgt dabei u.a. durch Phagozytose und die Induktion von oxidativem Stress und die Produktion zytotoxischer Substanzen wie Glutamat.3 Mikroglia können auch Antigene aufnehmen und wahrscheinlich als Antigen-präsentierende Zellen fungieren. Im EAE-Mäusemodell wurde ferner gezeigt, dass Mikroglia über eine Interaktion mit Th1-Lymphozyten die Neuroinflammation verstärken.4
Eisenhaltige Mikroglia-Ringsäume als Verlaufsprädiktoren
Mikroglia lassen sich im ZNS gehäuft in chronisch-aktiven Läsionen – auch als «slowly expanding lesions» (SEL) oder «smoldering lesions» (schwelende Läsionen) bezeichnet – nachweisen und sind mit einer Schädigung der Myelinscheide und des Axons assoziiert.5,6 SEL lassen sich bereits im Frühstadium der MS nachweisen, sind aber eher charakteristisch für fortgeschrittene MS-Stadien. Wichtigste Merkmale der SEL sind eine chronische, auch subpiale Neuroinflammation und eine Neurodegeneration – nicht nur fokal in den SEL, sondern auch diffus in der weissen und grauen Substanz. Betroffen ist im Gehirn vor allem der Kortex, aber SEL sind im ganzen ZNS nachweisbar. In den aktiven SEL lässt sich rund um die Blutgefässe eine dichte Ringbildung aktivierter Mikroglia mit einem hohen Gehalt an Eisen nachweisen. Diese ringförmige paramagnetische Einlagerung von Eisen (PRL; «paramagnetic rim lesion») kann mithilfe spezieller MRT-Sequenzen und PET-Techniken dargestellt werden.7,8 SEL mit PRL gelten als prädiktiv für eine Chronifizierung der MS mit zunehmender Behinderungsprogression und schnellerer Transition in eine SPMS.4
Wie wird die Mikroglia-Aktivität gesteuert?
Mikroglia können ihren Phänotyp – proinflammatorisch/neurodegenerativ (M1-Phänotyp) oder remyelinisierend/neuroprotektiv (M2-Phänotyp) – je nach MS-Krankheitsaktivität wechseln.1 Nach akuten Läsionen im ZNS bestimmt die Interaktion von Mikroglia mit Astrozyten und ZNS-infiltrierenden Immunzellen das Ausmass der Gewebedestruktion und -regeneration. Wie die Regulation der Mikroglia-Aktivität erfolgt, ist erst teilweise bekannt, so Kerschensteiner. Untersucht werden verschiedene Schädigungsszenarien des ZNS mithilfe von multimodalen Bildgebungsstrategien, molekularen und funktionell-genetischen Ansätzen in EAE-Maus- und Zebrafischmodellen.
Bei der MS wurden einige proinflammatorische Zytokine, Chemokine wie die NADPH-Oxidase sowie Wachstumsfaktoren als Regulatoren der Mikroglia-Aktivität identifiziert.3 Sie gelten als mögliche Zielstrukturen für eine gezielte therapeutische Beeinflussung der Mikroglia-Aktivität.4 Einer der potenziellen therapeutischen Targets ist der Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor (AHR). Über eine Inhibition/Aktivierung des AHR führen inflammatorische Läsionen zu mikroglialer Produktion von gewebedestruktivem VEGF-B, während ein hypoxisches Mikromilieu die Generierung des protektiven Faktors TGF-alpha favorisiert. Auch ZNS-ständige B-Zellen unterstützen die zunehmend kompartimentalisiert ablaufende ZNS-Inflammation. Ziel einer krankheitsmodifizierenden Therapie, die ihre Angriffsorte direkt im ZNS adressiert, muss daher die Wiederherstellung des physiologischen Gleichgewichts zwischen neurodegenerativen und -reparativen Prozessen sein.6
Gut und böse zugleich
Kerschensteiner betonte, dass die lange favorisierte Darstellung einer strengen Mikroglia-Dichotomie in einen proinflammatorischen (M1) und einen antiinflammatorischen (M2) Phänotyp heute überholt ist. Mithilfe einer Pseudozeit-Analyse des Mikrozell-Transkriptoms via Single-Cell-RNA-Sequenzierung kann man die Entwicklung von Mikroglia-Zellen untersuchen. Dabei wird deutlich, dass es nicht nur den reinen M1- und den M2-Phänotyp gibt, sondern auch eine Reihe von «gut-bösen» Mikroglia-Zwischenstadien (Abb. 1).9
Abb. 1: Es gibt nicht nur den reinen M1- und den M2-Phänotyp, sondern auch eine Reihe von «gut-bösen» Mikroglia-Zwischenstadien (mod. nach Boutilier AJ et al. 2021)9
Für jeden MS-Kranken kann damit im Prinzip eine individuelle mikrogliale Schadens-Reparatur-Signatur erstellt werden, die wichtige Erkenntnisse über die MS-Krankheitsaktivität und das Therapieansprechen vermittelt. Für den klinischen Einsatz ist jedoch erst noch eine Translation dieser im Tiermodell gewonnenen Erkenntnisse notwendig, so Kerschensteiner. Mit den Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTKi) wird eine erste ZNS-gängige Wirkstoffgruppe in klinischen Phase-II/III-Studien untersucht. Die BTKi reduzieren die von BTK-exprimierenden B-Zellen, Mastzellen und Makrophagen/Mikroglia unterstützte ZNS-Inflammation und fördern neuroreparative Prozesse.10
Quelle:
«Innate immunity and resident CNS immune cells: actors of MS pathophysiology and targets for new therapies?», 9. ACTRIMS-ECTRIMS-Meeting, 11. Oktober 2023, Mailand
Literatur:
1 Bogie JF et al.: Macrophage subsets and microglia in multiple sclerosis. Acta Neuropathol 2014; 128(2): 191-213
2 Zia S et al.: Microglia diversity in health and multiple sclerosis. Front Immunol 2020: 11: 588021
3 Fischer MT et al.: NADPH oxidase expression in active multiple sclerosis lesions in relation to oxidative tissue damage and mitochondrial injury. Brain 2012; 135(3): 886-99
4 Poppell M et al.: Immune regulatory functions of macrophages and microglia in central nervous system diseases. Int J Mol Sci 2023; 24(6): 5925
5 Bitsch A et al.: Acute axonal injury in multiple sclerosis. Correlation with demyelination and inflammation. Brain 2000: 123 (Pt 6): 1174-83
6 Zrzavy T et al.: Loss of ‘homeostatic’ microglia and patterns of their activation in active multiple sclerosis. Brain 2017; 140(7): 1900-13
7 Absinta M et al.: Association of chronic active multiple sclerosis lesions with disability in vivo. JAMA Neurol 2019; 76(12): 1474-83
8 Sucksdorff M et al.: Brain TSPO-PET predicts later disease progression independent of relapses in multiple sclerosis. Brain 2020; 143(11): 3318-30
9 Boutilier AJ et al.: Macrophage polarization states in the tumor microenvironment. Int J Mol Sci 2021; 22(13): 6995
10 Robak E et al.: Bruton’s kinase inhibitors for the treatment of immunological diseases: current status and perspectives. J Clin Med 2022; 11(10): 2807
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