Leben mit CMT

„Viele glauben, in einer Selbsthilfegruppe wird nur gejammert“

Barbara Chaloupek lebt vermutlich schon seit ihrer Kindheit mit CMT – die Diagnose bekam sie allerdings erst Mitte 30. Wir sprachen mit ihr und ihrem Mann Reinmar Chaloupek über den Alltag einer CMT-Patientin, den Stellenwert der Selbsthilfegruppe CMT Austria und darüber, was es für die umfassende Betreuung von CMT-Patienten braucht.

Welches sind erste Symptome bei einer CMT-Polyneuropathie?

B. Chaloupek: Bei den meisten Erwachsenen machen sich zuerst Gefühlsstörungen bemerkbar. Beim Duschen beispielsweise fühlt sich das Wasser am Fuß kalt an, am Knöchel aber warm. Oder sie haben permanent das Gefühl, wie auf Watte zu gehen. Kinder stolpern und stürzen oft oder bewegen sich insgesamt für ihr Alter langsamer. Wenn man die Erkrankung schon im Kindes- und Jugendalter erkennt und gegensteuert, ist der Leidensdruck geringer und auch das Selbstwertgefühl leidet nicht so stark. Wir planen daher dieses Jahr eine große Kampagne für Schulärzte, um bei ihnen eine Awareness für CMT zu schaffen.

Was ist in der ersten Phase der Erkrankung besonders wichtig?

B. Chaloupek: Ein Tipp, den ich für sehr wichtig halte, ist, zu einem Arzt zu gehen, der seinem Patienten gut zuhört und auch darauf schaut, wie dieser geht. Der auch auf die Füße schaut – ohne Socken und Schuhe – und auf das Gangbild. Oft sitzen sich Arzt und Patient gegenüber und der Arzt lässt sich vom Patienten die Situation schildern. Das reicht nicht. Der Patient weiß ja nicht, was er alles nicht mehr spürt und kann, ob die Fersen z.B. den Boden noch berühren. Man sollte sich auch gleich bei den ersten Anzeichen Neurophysiotherapie- und Ergotherapie-Einheiten verordnen lassen. Das geht bereits bei „Verdacht auf PNP“ vor der Diagnose. Leider geht auf der Suche nach der Ursache oft sehr viel Zeit verloren, in der viel Hilfreiches begonnen werden könnte. Ergotherapeuten bemerken oft Zusammenhänge und können da gut eingreifen. Die Erfahrungen, die man mit diesen Experten sammelt, nimmt man dann mit zum Facharzt.

Was halten Sie bei der Interaktion zwischen Arzt und CMT-Patienten für besonders wichtig?

B. Chaloupek: Meine Bitte an die Ärzte: offen sein gegenüber allen Therapieformen. Auch jenen, von denen sie vielleicht noch nie gehört haben und von denen Patienten erstmals berichten. Das Therapieansprechen ist gerade bei CMT sehr individuell. Das Achten auf nonverbale Äußerung ist auch so eine Sache. Wenn ein Arzt im Gespräch den Kopf schüttelt, weil er von einer vom Patienten vorgeschlagenen Therapie noch nie gehört hat, kann der Patient dies als Ablehnung des Vorschlags interpretieren. Das ist demotivierend und kontraproduktiv in der Arzt-Patienten-Beziehung.

Ihr Krankheitsbild tritt sehr komplex und vielschichtig auf. Wie findet man die richtigen Experten, die ein spezifisches Problem erkennen und gegensteuern können?

B. Chaloupek: Ich glaube, dass es bei der CMT einen Helikopterview, die Gesamtsicht braucht von jemandem, der viele Fragen stellt. Was ist das mechanische Problem? Was ist die neurologische Ursache und wie ist der neurologische Status? Oft wird der sensible Anteil an den Defiziten unterschätzt, mich beeinträchtigt das Fehlen der Lagewahrnehmung sehr. Wo soll es für den Patienten hingehen? An welchen Stellschrauben kann ich drehen, um eine Versteifung, einen Abbau zu vermeiden? Da liegt das Fachwissen vor allem bei jenen, die sich konkret mit Bewegung beschäftigen. Ich würde auch jedem raten, einen Facharzt für physikalische Medizin aufzusuchen. Dieser hat einen guten, objektiven Blick von außen auf die Gesamtsituation und kann gezielt Behandlungen zur Bewegungserhaltung durchführen. Interessanterweise findet man die CMT-Experten nicht immer an der Neurologie. Professor Auer-Grumbach ist im AKH an der Abteilung für Hand- und Fußchirurgie tätig, in Feldkirch ist die CMT-Ambulanz an der Kinderabteilung und auch manche Ärzte an der Kinderabteilung im AKH können erwachsenen CMT-Patienten sehr viel Interessantes sagen.

R. Chaloupek: Ein Schlüsselerlebnis für uns war ein Vortrag bei einer CMT-Tagung in Kärnten. Ein Arzt der Kinderabteilung in Graz zeigte Gangbilder seiner jungen Patienten und erwähnte, dass bei einer solchen Ausprägung der Zeitpunkt wäre, um über eine Sehnenverlängerung zu sprechen. Da wussten wir, dass auch Barbara schon lange so eine OP hätte machen lassen sollen. Sie hat sie dann auch einige Zeit später in Wien durchführen lassen.

Das Repertoire an Therapieoptionen ist also groß?

B. Chaloupek: Ja, es gibt wirklich viel, was man tun kann. Jeder Arzt sollte seine CMT-Patienten ermutigen, sich umzuhören und Verschiedenes auszuprobieren. Auch Optionen, die er selbst vielleicht gar nicht kennt: Hochtontherapie, Kohlensäurebäder, muskelentspannendes wie autogenes Training oder Craneo-Behandlungen. Therapien, die Bewegung hineinnehmen wie etwa Heil-Eurythmie. Eine Kombination aus sensiblen und motorischen Reizen wie etwa Lymphdrainage, Vibrationsplatten, barfuß auf verschiedenen Untergründen gehen – das Ansprechen auf diese Therapien ist sehr individuell. Mir hat Vibroakkustik sehr geholfen, ein Bereich der Musiktherapie.

Wie kommt man zu diesen Informationen?

B. Chaloupek: Offen und neugierig sein, Anregungen aus allen Richtungen suchen und sich die Möglichkeit zum Ausprobieren verschaffen. Dr. Google ist nicht so gut, wie viele glauben. Vieles lernt man tatsächlich bei einem Aufenthalt in einer spezialisierten Reha-Klinik, beispielsweise Judenburg-Straßengl oder auch Bad Radkersburg. Nach meiner Sehnenverlängerungs-OP war ich in einem Reha-Programm der AUVA. Die Therapeuten dort arbeiten eigentlich mit Unfallopfern und nicht mit neurologischen Patienten. Ich habe dort unglaublich wirkungsvolle Übungen gelernt, die ich noch in keiner neurologischen Reha gesehen habe. Diese Therapeuten sehen meine Symptome einfach aus einem anderen Blickwinkel. Ich denke, es liegt noch viel Potenzial in der gegenseitigen Vernetzung und dem therapeutischen Austausch. Im Idealfall sollten sich Patienten untereinander, Patienten mit Fachärzten, aber auch Fachärzte verschiedener Disziplinen mit Therapeuten und untereinander austauschen.

Sie sind bei CMT Austria sehr aktiv. Wie unterstützt die Selbsthilfegruppe Betroffene?

B. Chaloupek: CMT Austria ist österreichweit tätig, mit eigenen Stammtischen in den Bundesländern. Einmal im Jahr kommen wir zur Jahrestagung zusammen. Das ist ein toller Austausch. Die Leute haben oft Vorbehalte, weil sie glauben, in einer Selbsthilfegruppe wird nur gejammert. Das stimmt absolut nicht. Der Austausch bei uns ist immer sehr positiv, motivierend und interessant. Natürlich ist es notwendig, sich auch über negative Dinge auszutauschen. Aber gerade das regt uns an, nach dem Positiven zu suchen, das man trotz allem aus der Situation mitnehmen kann.

Abb.: Barbara und Reinmar Chaloupek

R. Chaloupek: Dazu gibt es auch auf der Homepage eine Erfahrungsdatenbank für registrierte Mitglieder. Patienten haben dafür Erfahrungsberichte verfasst, beispielsweise darüber, wo sie gut betreut wurden. Und man findet dort auch eine Liste mit Medikamenten, die bei einer bestehenden Polyneuropathie nicht verschrieben werden sollen, weil sie Nerven zusätzlich schwächen können. Das sind zum Teil ganz unauffällige Substanzen wie Magenschoner.

Wie stellt sich das Leben mit CMT für die Angehörigen dar?

R. Chaloupek: Ich kenne den Alltag aus der Sicht des Beobachters und kann Situationen einschätzen. Wenn ich dann zu Arztterminen mitgehe, kann meine Beschreibung dem Arzt helfen, einen objektiveren Eindruck zu bekommen.

B. Chaloupek: Ich denke, dass Angehörige immer auch gefordert sind. Es gibt Phasen bei der CMT, da gleicht das Gangbild jenem eines Betrunkenen. Das kann auch für die Begleitung sehr peinlich sein. Wenn man selbst mit Stock geht oder orthopädische Schuhe trägt, ist es offensichtlicher, dass man „nur“ eine Beeinträchtigung beim Gehen hat. Ich habe deswegen meine orthopädischen Schuhe immer bunt und auffallend machen lassen. Ausgleichsbewegungen sind auch so ein Thema, etwa wenn ich schlenkere, um die Hüfte nach vor zu bekommen, oder abrupt aushole, um einen Beinahe-Sturz aufzufangen. Die kommen für andere überraschend, manche erschrecken sogar.

Welche Situationen sind für Sie im Alltag besonders schwierig?

B. Chaloupek: Unebener Untergrund. Stiegen. Wenn ich die Füße nicht mehr sehen kann. Wenn ich auf Kongressen bin, hätte ich manchmal gerne einen blinkenden Anstecker oder etwas Ähnliches wie eine Blindenschleife, damit die Leute merken, dass sie mir ausweichen müssen. Ich gehe deswegen abends, bei Gedränge oder auf Kopfsteinpflaster mit Stock, aber der wird leicht übersehen. Kinder verstehen zum Beispiel oft nicht, dass man jung ist und trotzdem nicht ausweichen kann, und ich habe Angst, über sie drüberzufallen. Und dann sind da noch Adaptierungen, die Menschen mit anderen Beeinträchtigungen Barrierefreiheit ermöglichen: zum Beispiel die Orientierungsstreifen am Boden für Sehbehinderte. Es ist gut, dass sie da sind, aber für CMT-Betroffene große Stolperfallen!

R. Chaloupek: Das Treppensteigen ist für meine Frau besonders sturzgefährdend. Die Stiegen hoch bleibt der Vorfuß leicht hängen. Die Stiegen runter ist sie unsicher wegen der Wahrnehmungsstörungen und weil wohl auch die Bremser schon verkümmert sind. Ich habe überall im Haus einen zweiten Handlauf montiert. So kann sich Barbara beim Treppensteigen auf beiden Seiten gleichzeitig anhalten, ist schneller und sicherer. Außerdem haben wir die Freizeitgestaltung in den letzten 20 Jahren kontinuierlich an die Möglichkeiten angepasst. Früher waren wir tanzen, eislaufen oder Ski fahren. Heute fahre ich Ski, sie geht Schneeschuhwandern, wir gehen spazieren oder fahren in die Therme. Und wir tanzen nicht mehr Walzer, sondern Freestyle, ohne schnelle Drehungen. Aber das passt auch besser zu unserer Lieblingsmusik.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte
Dr. Gabriele Senti

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