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Advanced Practice Nursing in der klinischen Praxis

Seit über 20 Jahren sind Pflegeexpert*innen im Schweizer Gesundheitswesen tätig und an vielen Orten fest implementiert. Einige davon tragen die Erweiterung «Pflegeexpert*innen APN» in ihrer Berufsbezeichnung. APN ist hier die Abkürzung für «Advanced Practice Nurse». Dies soll den Begriff «Pflegeexpert*in», der nicht geschützt ist und auch für nicht akademisch gebildete Pflegende verwendet wird, von den Pflegeexpert*innen unterscheiden, die die Anforderungen an eine Advanced Practice Nurse erfüllen. Diese Bezeichnung geht zurück auf ein gemeinsames Positionspapier des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK), des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands (ÖGKV) und des Schweizer Berufsverbands für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) aus dem Jahr 2012 und wird in allen drei Ländern verwendet.1

Als APN werden diplomierte Pflegefachkräfte bezeichnet, die durch zusätzliche universitäre Ausbildung auf mindestens Master-Ebene Expert*innenwissen, komplexe Fähigkeiten zur Entscheidungsfindung und die klinischen Kompetenzen des Advanced-Nursing-Practice-Modells erworben haben.2,3 Sie sind spezialisiert

  • auf eine spezifische Erkrankung, z.B. das multiple Myelom, und bieten kontinuierliche Beratung und Begleitung im Krankheitsverlauf an,4

  • auf ein Setting, z.B. ambulante medikamentöse Tumortherapie, und bieten Beratung und Begleitung durch Pflegesprechstunden an,5

  • auf eine Therapieform, z.B. die allogene Stammzelltransplantation, und die Begleitung mit Beratung und Symptommanagement anhand einer Handy-App,6

  • auf ein Symptom, z.B. Fatigue, das sich aufgrund des multidisziplinären Behandlungsansatzes hervorragend eignen würde.

Drei Charakteristika zeichnen die APN aus: Spezialisierung, Erweiterung und Fortschritt.7 Sie sind auf dem aktuellen Wissenstand und Spezialist*innen in ihrem Fachbereich. Die Erweiterung der pflegerischen Praxis umfasst auch Interventionen, die nicht klassischerweise bei der Pflege verortet sind. So haben APN in Freiburg im Breisgau Knochenmarkpunktionen durchgeführt, weil Patient*innen sich mehr Kontinuität bei den Punkteur*innen gewünscht haben.8

Das ANP-Modell

Zurückzuführen ist die APN-Rolle auf das «AdvancedNursingPractice»-Modell nach Hamric und Hanson (Abb. 1). Die APN-Rolle gestaltet sich also auf der Basis des APN-Modells. Dieses ist aus einer Rollenanalyse von akademischgebildeten Pflegekräften weltweit entstanden. Es beschreibt die Kriterien und Kompetenzen, über die jede APN verfügen sollte.

Abb. 1: Das APN-Modell. Modifiziert nach Travy MF & O’Grady E 2018

Primärkriterien

Primärkriterien für eine APN sind:

  • die universitäre Ausbildung auf Master-Niveau in einem pflegerischen Studiengang (z.B. MSc in Pflegewissenschaft)

  • die Zertifizierung im Sinne einer Registrierung als APN, aber auch ein kontinuierlicher Nachweis der Spezialisierung im eigenen Fach. Seit Kurzem ist die Registrierung zur APN in der Schweiz möglich,sie bedarf des Nachweises von 50 Stunden supervidierter Praxis, in der bestätigt wird, dass die APN über die unten aufgezählten Kernkompetenzen verfügt10

  • Drittes Primärkriterium ist der Fokus der Praxis, der auf Patient*innen und deren Familien gerichtet sein muss.

Zentrale Kompetenz

Die zentrale Kompetenz sollte in der direkten klinischen Praxis liegen. Hierzu ist zwingend Berufserfahrung im eigenen Bereich notwendig. In den Zertifizierungs-Kriterien der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) wird dies z.B. mit zwei Jahren Vollanstellung im zu zertifizierenden Zentrumgefordert. Wer also als APN in einem Darmzentrum anerkannt werden will, muss neben dem Master-Titel über zwei Jahre Erfahrung in der Pflege von Patienten mit Gastrointestinaltumoren verfügen.

Kernkompetenzen

Das APN-Konzept beschreibt sechs Kernkompetenzen, über die jede APN verfügt, die aber je nach Rolle unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.

Guidance and Coaching

«Guidance and Coaching» beschreibt die Kompetenz, Patient*innen und deren Familien bestmöglich durch die Erkrankung zu führen. Durch kontinuierliches Coaching stärkt die APN die Selbstmanagementfähigkeiten der Beteiligten und versetzt sie in die Lage, sich den Aufgaben zu stellen, die die Krebserkrankung mit sich bringt.

Consultation

Die Expertise, über die eine APN durch ihre fachliche Spezialisierung verfügt, wird im multidisziplinären Team wahrgenommen. Die APN wird im Rahmen ihrer Spezialisierung konsultiert.

Evidence-Based Practice

Die APN hat die Kompetenz, eine auf Evidenz basierende Pflegepraxis zu gestalten. Sie implementiert Forschungsergebnisse in die klinische Praxis und trägt damit zu einer Weiterentwicklung im gesamten klinischen Bereich bei. Diese Kompetenz wird auch zur Evaluation der Pflegepraxis oder zur Erforschung des eigenen Schwerpunktes angewendet.

Leadership

Die APN ist eine Führungspersönlichkeit, die ihre Kompetenz zur fachlichen Führung auf klinischer Ebene einsetzt, aber auch als «professional leadership» im Rahmen der eigenen Berufsgruppe oder «system leadership» im Rahmen des Gesundheitswesens. Ziel ist dabei immer die Verbesserung der Qualität der Pflegein Bezug auf die eigenen Patient*innen.

Collaboration

«Collaboration» beschreibt die Kompetenz zur Zusammenarbeit innerhalb der Pflege und mit anderen Berufsgruppen. Hierzu gehört häufig auch ein gehöriges Mass an Diplomatie und Feingefühl.

Ethical Decision Making

Die APN verfügt über die Kompetenz, an ethischen Entscheidungsfindungsprozessen mitzuwirken, z.B. im Rahmen von Fallbesprechungen oder Pflegevisiten.

Rollen in der klinischen Praxis

Im Wesentlichen können in der klinischen Praxis zwei APN-Rollen unterschieden werden: Clinical Nurse Specialist (CNS) und Nurse Practitioner (NP). Beide erfüllen oben genannte Anforderungen und können momentan in der Schweiz ausgeübt werden.10

CNS bieten direkte und indirekte Pflege an. In der direkten Pflege sind die CNS in Interaktion mit Patient*innen und deren Familien und bieten hochkomplexe und spezialisierte Pflege sowie Beratung an. Mit indirekter Pflege sind alle Aktivitäten gemeint, welche die Pflege der Patient*innen beeinflussen, aber keinen direkten Kontakt mit ihnen erfordern. Das sind z.B. Praxisentwicklung oder fachliche Unterstützung des multidisziplinären Teams innerhalb ihrer klinischen Praxis.2,11

Ziel sind die Verbesserung der Pflegequalität und eine evidenzbasierte Praxis. Die CNS-Rolle ist in vielen Schweizer Spitälern bereits etabliert, z.B. in der Beratung von Lymphompatient*innen mit autologer Stammzelltransplantation.12

Auch die NP kümmern sich um hochkomplexe und vulnerable Patient*innengruppen, z.B. um Patient*innen mit Lungenkrebs.13,14 Mit ihrem spezifischen Fachwissen können sie jedoch auch medizinische Diagnosen stellen und Behandlungen verordnen. Sie sind autonom in ihrem Handeln im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen, die für sie geschaffen wurden.

In der Schweiz ist dies bisher z.B. im Kanton Waadt der Fall, wo die Rolle der NP im Jahr 2017 ins Gesetz über öffentliche Gesundheit aufgenommen wurde. NP können ihren Beruf autonom ausführen und verfügen sowohl über Pflege- als auch medizinische Kompetenzen. Sie sind in der Regel überwiegend mit Patient*innen beschäftigt und wenig eingebunden in Organisationsentwicklung oder fachliche Beratung und Betreuung von Teams.

In der klinischen Praxis sind die Rollen von CNS und NP an die Bedürfnisse der jeweiligen Institution adaptiert. Dies führt dazu, dass APN-Rollen in der Realität sehr variabel sind und die Grenzen zwischen CNS und NP verschwimmen. Prinzipiell lässt sich sagen, dass in den Tätigkeiten von CNS auch nichtklinische Aktivitäten wie Bildung oder Qualitätsverbesserung enthalten sind, während NP tendenziell eine grössere Beteiligung an der klinischen Versorgung haben (Abb. 2).

Abb. 2: Die Rolle der APN in der klinischen Praxis

Fazit

Die Schweiz nimmt mit der Implementierung von APN im deutschsprachigen Raum eine Vorreiterrolle ein. Durch die schon lange etablierten Studiengänge, die die APN in den Mittelpunkt stellen, und die neu hinzugekommenen Studiengänge zu NP ist die Grundlage für die Ausbildung von APN gelegt.

Der Ausbreitung zunächst im stationären Bereich folgte auch eine Zunahme von Pflegeexpert*innen APN im ambulanten Bereich und in der Langzeitpflege.10 Durch die Formulierung von Mindestvorgaben und die Möglichkeit zur (noch) freiwilligen Registrierung wurden wichtige Grundlagen für die weitere Entwicklung geschaffen. Was noch fehlt, ist die gesetzliche Verankerung.

1 DBfK, ÖKGV, SBK (2013): Advanced Nursing Practice in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Online unter http://www.vpu-online.de/de/pdf/Positionspapier-ANP-DBfK-OeGKV-SBK-2012-11-01.pdf. Abgerufen am 22.11.2022 2 International Council of Nurses Guidelines on Advanced Practice Nursing 2020. Online unter https://www.apn-ch.ch/documents/498219/514757/2020+04+ICN_APN+Report_EN_WEB.pdf/b8877a1d-adb9-e087-2833-021e09c978a0?t=1599208098727 . Abgerufen am 22.11.2022 3 Schober M, Affara F: International Council of Nurses: Advanced Nursing Practice. New Jersey: John Wiley & Sons, 2009 4 Naegele M: Multiples Myelom: Pflege entlang der Krankheitsverlaufskurve. TumorDiagnostik& Therapie 2022; 43(09): 603-15 5 Sivanathan M, Kaufmann-Molnár I: Leitfaden für die Entwicklung und Implementierung einer onkologischen Pflegesprechstunde. Online unter https://www.onkologiepflege.ch/fileadmin/downloads/fachmaterial/downloads/Leitfaden_Pflegesprechstunde_Onkologiepflege_Schweiz_2021.pdf . Abgerufen am 14.11.2022 6 Leppla L et al.: Development of an integrated model of care for allogeneic stem cell transplantation facilitated by eHealth—the SMILe study. Support Care Cancer 2021; 29(12): 8045–57 7 Spirig R, De Geest S: «Advanced Nursing Practice» lohnt sich! Pflege 2004; 17: 233-6 8 Naegele M et al.: Trained clinical nurse specialists proficiently obtain bone marrow aspirates and trephine biopsies in a nearly painless procedure—a prospective evaluation study. Ann Hematol 2015; 94: 1577-84 9 Tracy MF, O‘Grady E: Hamric and Hanson’s Advanced Practice Nursing: an integrative approach. 6. Auflage. St. Louis: Elsevier, 2018 10 APN-CH Merkblatt Supervidierte Praxis. 2021. Online unter https://www.apn-ch.ch/documents/498219/514757/DT+Merkblatt+Supervidierte+Praxis.pdf/e5d0716c-b404-d931-e70c-1f9dba0f8db4?t=1618841416165 . Abgerufen am 11.11.2022 11 Bryant-Lukosius D, Martin-Misener R: Advanced Practice Nursing: an essential component of country level human resources for health. In: ICN Policy Brief. 2016. Online unter https://fhs.mcmaster.ca/ccapnr/documents/ICNPolicyBrief6AdvancedPracticeNursing.pdf . Abgerufen am 11.11.2022 12 Bachofner E et al.: Betreuung durch ein Advanced Nursing Practice-Team – Erfahrungen Lymphombetroffener und ihrer Angehörigen: Eine qualitative Studie. Pflege 2021; 34: 231-9 13 Serena A et al.: Feasibility of advanced practice nursing in lung cancer consultations during early treatment: a phase II study. Eur J Oncol Nurs 2017; 29: 106-14 14 Serena A et al.: Acceptance of the Advanced Practice Nurse in lung cancer role by healthcare professionals and patients: a qualitative exploration. J Nurs Scholarsh 2018; 50: 540-8

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