
Die Problematik der Therapietreue in der klinischen Onkologie
Universitätsklinik für Innere Medizin I<br>Klinische Abteilung für Onkologie<br>Medizinische Universität Wien<br>E-Mail: guenther.steger@meduniwien.ac.at
Die Patientenbindung zu verordneten Therapiemaßnahmen, meist als „Compliance“ oder besser „Adherence“ bezeichnet, an viele langfristige medikamentöse Therapien zur Bewältigung chronischer Krankheiten ist gering.
Keypoints
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Die Therapietreue/Adherence für orale Onkologika stellt ein zunehmendes klinisches Problem dar.
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Mangelnde Adherence ist meist multifaktoriell und schwer zu identifizieren.
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Strategien zur Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung mangelnder Adherence müssen individualisiert werden.
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Weitere wissenschaftliche Evaluierung der Gründe mangelnder Adherence, Identifizierungs- und Interventionsmöglichkeiten sind geboten.
Bis vor einigen Jahren war die Therapietreue der Patienten gegenüber der antineoplastischen Therapie relativ unadressiert, da die meisten Krebstherapien intravenös verabreicht wurden. Obwohl orale antineoplastische Therapien den Patienten viele Vorteile bieten, darunter mehr Komfort, weniger Zeit weg von Arbeit und Familie, größere Unabhängigkeit und das Potenzial für abgeschwächte Nebenwirkungen im Vergleich zu herkömmlichen Therapien, ist die Patiententreue gegenüber oralen Wirkstoffen schwieriger zu beurteilen als die Einhaltung intravenöser Medikamente und sie war lange Zeit relativ unerforscht.1,2 Tatsächlich kann die Nichteinhaltung der Therapieverordnungen durch die Patienten oft das größte Hindernis für die wirksame Verwendung neuer oraler antineoplastischer Medikamente sein, insbesondere wenn Ärzte und andere Gesundheitsdienstleister dieses potenzielle Hindernis für die Behandlung nicht berücksichtigen.
Die „Adherence“ (oder „Compliance“) zu Medikamenten beschreibt das Ausmaß, in dem Patienten Medikamente einnehmen wie von ihren Ärzten verschrieben.3 Die Einhaltung kann sich auf die Häufigkeit beziehen, mit der ein Patient die empfohlene Dosis (die vorgeschriebene Anzahl von Tabletten pro Tag) einnimmt bzw. auf die Anzahl der verordneten Einzeldosen über einen definierten Zeitraum. Das Wort „Adherence“ wird heute in der Regel bevorzugt, da „Compliance“ darauf hindeutet, dass der Patient nur eine passive Rolle spielt, die der Rolle des Arztes untergeordnet ist.4 Unabhängig davon, welcher Begriff verwendet wird, kann der volle Nutzen von Medikamenten nicht realisiert werden, wenn die Patienten ihre vorgeschriebenen Behandlungsschemata nicht relativ genau befolgen. Trotz der eminenten Bedeutung dieser Adherence ist die Einhaltung schwierig objektiv zu messen, zu überwachen und zu verbessern.
Zunehmende Bedeutung der Adherence in der klinischen Onkologie
Historisch gesehen wurde die überwiegende Mehrheit der Malignomtherapien intravenös abgegeben. Neue gezielte orale antineoplastische Wirkstoffe, die auf die molekularen und biochemischen Pathways zielen, die den malignen Phänotyp verursachen, werden zunehmend in der klinischen Onkologie eingesetzt. Die jüngste Zunahme der Verfügbarkeit und des Nutzens dieser oralen Therapieoptionen stellt die in der medizinischen Onkologie tätigen Ärzte vor neue Herausforderungen. Da parenterale Medikamente mit einer stärkeren Aufsicht in einem kontrollierteren Rahmen als orale Formulierungen verabreicht werden, war die Nichteinhaltung neuer antineoplastischer Therapien selten von Bedeutung. Die Einhaltung der Infusionstherapie war gewährleistet, solange die Patienten ihre Termine für jeden geplanten Zyklus der Chemotherapie einhielten. Die Ergebnisse sind jedoch nicht mehr gesichert, da ein Großteil der onkologischen Versorgung nun außerhalb der stationären oder tagesklinischen Versorgung erfolgt. Der zunehmende Einsatz dieser neuen oralen Medikamente verschiebt daher die Hauptverantwortung für die Einhaltung der Verordnungen zu den Patienten selbst und deren Familien. Darüber hinaus können Patienten, die ambulant orale antineoplastische Medikamente einnehmen sollen, das medizinische Fachpersonal oder auch Apotheker umgehen, die bei ambulanten Therapieregimen für die Erklärung der Wichtigkeit der vorgeschriebenen Dosierungsanweisungen und auch das Nebenwirkungsmanagement zuständig sind.
Identifizierung der Non-Adherence bei oraler antineoplastischer Therapie
Obwohl die meisten Untersuchungen darauf hindeuten, dass die Adherence-Raten niedrig sind, gehen Ärzte in der Regel davon aus, dass Patienten ihre Medikamente wie vorgeschrieben einnehmen.5 Subjektive Beurteilungen der Einhaltung durch Gesundheitsdienstleister sind in der Regel unzuverlässig für die Beurteilung des Medikamentenkonsums.6 Selbst wenn sich Ärzte der Möglichkeit von Adherence-Problemen bewusst sind, sind viele Gesundheitsdienstleister nicht in der Lage, genau vorherzusagen, welche Patienten sich an die Therapie halten werden.
Die Erkennung von Indikatoren und Risikofaktoren für die Nichteinhaltung kann jedoch Ärzten helfen, zu bestimmen, welche Patienten für eine suboptimale Einhaltung gefährdet sein könnten (Tab. 1). Wenn einer oder mehrere dieser Faktoren vorhanden sind, sollten sich die Ärzte der Möglichkeit einer Adherence-Problematik bewusst sein, doch kann auch ohne diese Indikatoren eine Nichteinhaltung der Verordnungen auftreten. Daher sollte eine potenzielle suboptimale Adherence auch immer mit in Betracht gezogen werden, wenn der individuelle Therapieerfolg nicht den objektiven Erwartungen entspricht.

Tab. 1: Potenzielle Prädiktoren für mangelnde Therapie-Adherence
Leider existiert bis dato keine Goldstandardmessung für die Evaluierung oder Bewertung der Adherence. Es wurden sowohl direkte als auch indirekte Bewertungstechniken verwendet, von denen jedoch jede oft deutliche Einschränkungen aufweist.
Direkte Maßnahmen zur Messung der Adherence sind oft unpraktisch, teuer und können durch das Bewusstsein der Patienten für die Bewertung beeinflusst werden. Zu diesen Maßnahmen der Einhaltungsüberprüfung gehören der Dosisverbrauch vor Ort, direkte Beobachtung und Blutspiegelmessung oder auch telemedizinische Kontrollabfragen. Indirekte Maßnahmen umfassen retrospektive Tablettenzählungen, Fragebögen, Selbstdokumentation, elektronische Monitore, Kontrolle der Folgeverschreibungen und Apothekenaufzeichnungen. Selbstrapportierte Tablettenzahlen können unzuverlässig sein, da sie manipuliert werden können und nicht auf die Einhaltung eines bestimmten Dosierplans hinweisen. Einnahmefördernde Geräte in Form von computergestützten Dosiermaschinen, Behältern, die Dosen nach Zeitplan-Anforderungen trennen, Tagebücher zur Dokumentation des Medikamentenkonsums, Uhren, die Signale senden, wenn Medikamente einzunehmen sind, und sogar Dienstleistungen, um Patienten aufzufordern, Medikamente zu nehmen, wären vorteilhaft, doch ist damit immer noch nicht sichergestellt, dass der Patient das Medikament wie vorgeschrieben einnimmt.7 Außerdem sind solche Verfahren praktisch nur im Rahmen klinischer Studien durchführbar und für die tägliche Routine nicht geeignet.
Als relativ wirksame Methode hat sich gezeigt, dass die empathische Befragung durch die Behandler nach Nebenwirkungen, Einnahmeproblemen und nach versäumten Dosen oft sehr viel beiträgt, eine eventuell vorhandene Adherence-Problematik zu erkennen und gegenzusteuern.
Potenzielle Verbesserungsoptionen zur Optimierung der Adherence
Es wurden in den letzten Jahren neben der relativ häufigen Nebenwirkungsproblematik auch einige relativ gut erkennbare und objektivierbare Situationen identifiziert, die erkennen lassen können, ob Hindernisse für die Einhaltung der Therapietreue bestehen, obwohl mehr Forschung erforderlich ist, um ihre relative Bedeutung zu bestimmen. Dazu gehören v.a. eine fehlende vertrauensvolle Beziehung zwischen Patienten und ihren Ärzten, fehlende oder suboptimale Kommunikation und Sprachbarrieren, geringe Alphabetisierung und kulturelle und/oder religiöse Überzeugungen über die Rolle von Medikamenten und die Fähigkeit einer Intervention, die Ergebnisse zu verändern. Darüber hinaus sollte die Rolle der Familie bei der Patientenbindung nicht unterschätzt werden. Da Familienmitglieder oft an der täglichen Verabreichung von Medikamenten beteiligt sind, ist es wichtig, dass die Familie den Dosierplan, die potenziellen Vorteile und Nebenwirkungen des Medikaments und das Nebenwirkungsmanagement zusammen mit der Bedeutung der Einhaltung versteht. Die erfolgreichsten Methoden zur Verbesserung der Adherence umfassen in der Regel eine Kombination aus aufklärenden Informationen, Verhaltensinterventionen und Verstärkungen, Methoden zur Erhöhung der Bequemlichkeit der Pflege und Follow-up (Tab. 2).8 Da es zahlreiche Faktoren gibt, die zur suboptimalen Patientenbindung beitragen, wird jedoch ein einheitlicher Ansatz wahrscheinlich nicht für alle Patienten wirksam und zielführend sein. Daher ist ein individualisierter Ansatz zur Verbesserung der Patientenbindung erforderlich und dieser sollte immer einen multifokalen Interventionsplan integrieren.

Tab. 2: Strategien zur Optimierung der Therapie-Adherence
Zusammenfassung
Unzureichende Adherence, also mangelnde Patientenbindung an Medikamente, ist in der klinischen Praxis weit verbreitet, siekonzentriertsich auf alle chronischen Krankheiten und somit mittlerweile auch auf viele Krebserkrankungen. Lange Zeit wurde die häufige Non-Adherence zu oralen Krebstherapien als Problem nicht erkannt, da in der Vergangenheit die meisten Medikamente intravenös abgegeben wurden und in der Einstellung der Behandler oft davon ausgegangen wurde, dass alleine die Schwere der Malignomerkrankungen die Patienten ausreichend zu einer akzeptablen Therapietreue motiviert. Mit dem Aufkommen einer größeren Anzahl von oralen antineoplastischen Wirkstoffen gegen eine Reihe von Krebserkrankungen nimmt die Bedeutung einer Adherence-Problematik aber immer mehr zu und ist bereits jetzt ein wichtiger Aspekt zur Erreichung bestmöglicher Therapieeffektivität. Das Erkennen von und das Verständnis für potenzielle Barrieren, Verbesserungsstrategien und die frühe Identifikation von Patientenpopulationen, aber auch Einzelpatienten mit hohem Risiko für mangelnde Adherence sind also wichtig, um Problemen bei der Einhaltung der Verordnungen entgegenzuwirken und somit eine potenzielle Verbesserung der Therapieergebnisse neuartiger Krebstherapien zu bewirken. Neue Techniken zur Individualisierung der Patientenversorgung und zur Verbesserung der Adherence sowie weitere klinische Forschung zur Charakterisierung, Identifizierung und Optimierung der Adherence zur ambulanten, oralen Malignomtherapie sind aber weiterhin dringend erforderlich, um die Ergebnisse in diesen Patientenpopulationen weiter zu optimieren.
Literatur:
1 Bedell CH: A changing paradigm for cancer treatment: The advent of new oral chemotherapy agents. Clin J Oncol Nurs 2003;7(6 Suppl):5-9 2 Blasdel C, Bubalo J: Adherence to oral cancer therapies: meeting the challenge of new patient care needs. Oncology Special Edition (Annual Special Report from the publisher of Clinical Oncology News, 2006), conference edition 3 Osterberg L, Blaschke T: Adherence to medication. N Engl J Med 2005; 353(5): 487-97 4 Goldberg RM et al.: The continuum of care: a paradigm for the management of metastatic colorectal cancer. Oncologist 2007; 12(1): 38-50 5 Hartigan K: Patient education: the cornerstone of successful oral chemotherapy treatment. Clin J Oncol Nurs 2003; 7(6 Suppl): 21-4 6 Partridge AH et al.: Adherence to therapy with oral antineoplastic agents. J Natl Cancer Inst 2002; 94(9): 652-61
7 Hershman DL et al.: Randomized trial of text messaging (TM) to reduce early discontinuation of aromatase inhibitor (AI) therapy in women with breast cancer: SWOG S1105. Clin JOncol 2019; 37(15 Suppl): 6516 8 Haynes RB et al.: Acritical review of interventions to improve compliance with prescribed medications. Patient Educ Couns 1987; 10: 155-66
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